Gratiswut

Skandalisierung Neue Zahlen legen nahe, dass es in der Bremer Außenstelle des BAMF nie einen wirklichen “Skandal” gegeben hat. Es ist höchste Zeit, die eigene Rhetorik zu überdenken
Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! – In diesem Fall wirklich
Gehen Sie weiter, hier gibt es nichts zu sehen! – In diesem Fall wirklich

Foto: Sean Gallup/Getty Images

Man könnte versucht sein, “BAMF-Skandal” zu schreien. Der Begriff hat derzeit ja ohnehin recht bemerkenswerte Konjunktur. Und immerhin gibt es rund um das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge neuerdings tatsächlich wieder ein “Geschehnis, das Anstoß und Aufsehen erregt” – um an dieser Stelle einmal die Skandal-Definition des Dudens zu bemühen.

Das, was Anstoß und Aufsehen erregen könnte, ist allerdings nicht die Zahl der möglicherweise ohne angemessene Überprüfung positiv beschiedenen Asylanträge. Medienberichten zufolge sind es etwa 1.200 seit 2013 Fälle, die in weit über Tausend Artikeln zum Medienphänomen “BAMF-Skandal” geworden sind, nachdem die Süddeutsche Zeitung im April 2018 erstmals von einem "Verdacht auf weitreichenden Skandal im Bamf" geraunt hatte.

Vielmehr ist es eine Antwort aus dem Bundesinnenministerium an die LINKEN-Bundestagsabgeordnete Ulla Jelpke. Derzeit überprüfen 70 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) vor allem die rund 18.000 positiven Asylentscheide der Außenstelle in Bremen seit dem Jahr 2000. Ulla Jelpke hatte gefragt, wie viele positive Asylbescheide widerrufen oder zurückgenommen worden seien. Die Bilanz: 13 positive Asylentscheidungen wurden zurückgenommen, vier widerrufen. In 16 weiteren Fällen wurden Widerrufs- oder Rücknahmeverfahren eingeleitet.

Das ist schon eindrücklich wenig. Ulla Jelpke erklärt dazu: "Es wird Zeit, endlich mit dem Gerede über einen angeblichen großen Bremer BAMF-Skandal aufzuhören. Dafür ist die Zahl von Widerrufen und Rücknahmen doch allzu überschaubar, und noch ist ja unklar, ob diese einer gerichtlichen Prüfung standhalten.”

Zwar dauern die Überprüfungen laut BAMF-Pressestelle noch an, die gründliche, abschließende Aufklärung, so heißt es auf Nachfrage, habe dabei absoluten Vorrang vor einer schnellen Erledigung. Wirkliche Anzeichen dafür, dass sich diese in der Tat dürre Bilanz noch massiv ändern sollte, gibt es allerdings auch nicht. So sollte schon allein das nun bekannt gewordene Zwischenergebnis vor allem einigen Akteuren im Politik- und Medienbetrieb zu denken geben, die fröhlich an der Skandalisierung des Vorgangs mitgewirkt haben – jeweils eigenen Interessen folgend, seien es Verkaufszahlen, Aufmerksamkeit oder Agendasetting. Sie haben der Gesellschaft damit keinen guten Dienst erwiesen.

Skandal als Phänomen entwertet

Zum einen, weil sie dazu beigetragen haben, das gesellschaftliche Klima zu vergiften und den Fokus des Diskurses zu verschieben. Aus Asylbewerbern wurden in der breiten Öffentlichkeit im Zentrum eines Skandals stehende und damit potentiell zwielichtige Gesellen. Die Etablierung dieses Bildes ist mitverantwortlich für den Streit innerhalb der Unionsparteien und den daraus resultierenden weiteren Verschärfungen in der Asylpolitik. Mit Hans-Eckhard Sommer hat das BAMF im Zuge des Skandals überdies einen neuen Chef bekommen, der von der asylpolitischen Sprecherin der Grünen im bayerischen Landtag, Christine Kamm, als "ein superloyaler Umsetzer einer sehr restriktiven Flüchtlingspolitik" bezeichnet wurde. Hier geht es um realpolitische Folgen.

Doch was am Ende dieser Episode ebenfalls bleibt, ist eine völlige Verwirrung darüber, was heutzutage eigentlich ein Skandal ist. Aufmerksamkeit ist ein begrenztes Gut – auch und gerade in einer von Aufregung geprägten Zeit. Lange sorgte der “BAMF-Skandal” dafür, dass andere Anstoß und Aufsehen erregende Geschehnisse, die ihrerseits sogar mit dem BAMF zu tun hatten, nicht mit demselben Label versehen wurden. Man denke etwa an die rechtswidrige Abschiebung von Sami A., dem Ex-Leibwächter von Osama bin Laden, von der das Innenministerium wohl informiert war.

In diesem Fall blieb ein entsprechender Aufschrei aus, weil alle mit einem “Skandal” beschäftigt waren, der aller Voraussicht nach nicht verdient, dieses Etikett zu tragen und den Skandal als mediales und öffentliches Phänomen entwertet. Doch eine Gesellschaft braucht die Möglichkeit, echte Missstände als Skandal zu bezeichnen, um Druck zu erzeugen, um sich zu wehren, um Veränderungen anzustoßen. Man sollte angesichts der nun veröffentlichten Zahlen gerade nicht versucht sein, “Skandal” zu schreien, sondern sie vielmehr zum Anlass nehmen, die eigene Rhetorik hinterfragen.

der Freitag digital zum Vorteilspreis

6 Monate mit 30% Rabatt lesen

Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

Benjamin Knödler

Der Freitag im Oster-Abo Schenken Sie mutigen Qualitätsjournalismus!

Print

Entdecken Sie unsere Osterangebote für die Printzeitung mit Wunschprämie.

Jetzt sichern

Digital

Schenken Sie einen unserer Geschenkgutscheine für ein Digital-Abo.

Jetzt sichern

Dieser Artikel ist für Sie kostenlos. Unabhängiger und kritischer Journalismus braucht aber Unterstützung. Wir freuen uns daher, wenn Sie den Freitag abonnieren und dabei mithelfen, eine vielfältige Medienlandschaft zu erhalten. Dafür bedanken wir uns schon jetzt bei Ihnen!

Jetzt kostenlos testen

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden