Stupid City

Literatur Konzerne und Profitinteressen bestimmen das Gesicht unserer Städte. Ernst Hubeli hat hingeschaut
Ausgabe 11/2020
Die moderne Stadt, getrieben von Stadtmarketing und Smart-City-Konzepten, verkommt immer mehr zu einem Ort mit Bürokomplexen. Noch ist es – zum Glück – nicht überall so
Die moderne Stadt, getrieben von Stadtmarketing und Smart-City-Konzepten, verkommt immer mehr zu einem Ort mit Bürokomplexen. Noch ist es – zum Glück – nicht überall so

Foto: Odd Andersen/AFP/Getty Images

Schon immer sind Städte Orte der Widersprüchlichkeit gewesen. Das gilt nicht nur für die sozialen Welten, die in ihnen mal aufeinanderprallen. Es gilt ebenso für die Diagnose über den Zustand der Städte. Auf der einen Seite ist da die Erzählung der Stadt als Sehnsuchtsort und als Befreiungsschlag mit der sprichwörtlich frei machenden Luft, an den es Menschen zieht, auch wenn das nicht immer freiwillig geschieht – meist liegt es an den dort vorhandenen Arbeitsplätzen. Auf der anderen Seite war die Erzählung der Stadt schon immer auch eine über Nöte, über Krisenhaftigkeit. In Tod und Leben großer amerikanischer Städte hat die Stadtsoziologin Jane Jacobs schon 1961 die Gefahr des Niedergangs, die von einer funktionalistischen Stadtplanung und -sanierung ausgeht, in den Titel eingeschrieben. Die „Unwirtlichkeit unserer Städte“ kritisierte auch der Psychoanalytiker und Stadtkritiker Alexander Mitscherlich und beklagte: „Machen nicht unsere Städte, wenn man nicht in ihnen zwischen Büro, Selbstbedienungsladen, Friseur und Wohnung funktioniert, sondern sie betrachtet, als spaziere man in der Fremde umher – machen sie dann nicht depressiv?“

Ähnlich fühlt der Bewohner oder Besucher auch heute beim Spazieren durch die Städte des 21. Jahrhunderts. Die moderne Stadt, getrieben von Stadtmarketing und Smart-City-Konzepten, verkommt immer mehr zu einem Ort mit Bürokomplexen, Shoppingmalls und uniformen Neubauprojekten, die mit den Stadtsehnsüchten von einst, nach einem Ort, an dem jeder Platz in einer Nische findet, wenig zu tun haben. Noch ist es – zum Glück – nicht überall so weit, auch wenn Pessimisten so manche Metropole mit ehemals groben Ecken und Kanten als glatt geschliffen verloren einfach nur noch vergessen wollen.

Ist die Entwicklung denn überhaupt aufzuhalten? Das Dilemma ist bekannt: Durch die Arbeitsplätze, das Kulturangebot in den Städten und durch ihre Attraktivität für Touristen wird der Wohnraum knapp, die Mieten zunehmend unbezahlbar; das trubelige Leben, die Möglichkeit zum „Miteinander unter Unbekannten“, wie Max Weber die Essenz des Stadtlebens gefasst hat, werden weggentrifiziert, übrig bleiben: Ketten, Konsumenten, Kapitalanlagen. Der „Erfolg“ der Stadt wird ihr zum Verhängnis.

In seiner Streitschrift Die neue Krise der Städte befasst sich der Architekt und Stadtplaner Ernst Hubeli also folgerichtig mit der „Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert“. Es ist die zentrale Frage, das haben die diversen Proteste und Initiativen der letzten Jahre in Berlin wie in anderen Städten ebenso gezeigt wie die Entwicklungen nicht nur in Städten wie New York oder Paris, die als Negativbeispiele Pate stehen.

Dabei, so beschreibt es auch Hubeli, ist die Wohnungsfrage keineswegs neu: „Seit der Antike wird über das Wohnen nachgedacht. Jede Epoche hat – mit oder ohne revolutionären Zündstoff – ihre eigene Bandbreite an Mythologien, Dramen oder Theorien aufgespannt.“ Im 19. Jahrhundert lieferte Friedrich Engels Reportagen aus dem von Wohnungsnot geplagten London, in denen er über Krankheiten, Elendsquartiere der eng zusammengepferchten Industriearbeiter oder Situationen wie im Bürgerkrieg berichtete – und zum Schluss kam, der Ursprung der Wohnungsnot und des mit ihr verbundenen Elends liege in den kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnissen.

Die Eigentumsverhältnisse sind es über 150 Jahre später, die die Wohnungsfrage in den Städten dominieren. Zum Beispiel, weil Eigentümer zunehmend internationale, börsennotierte Immobilienkonzerne sind, deren Hauptziel die Profitmaximierung ist. Die Stadt wird von finanziell starken, global agierenden Konzernen aufgekauft – vor allem der Boden ist es, der zunehmend zur Manövriermasse und Wertanlage wird, handelt es sich bei ihm doch um ein nicht vermehrbares Gut. Was auf dem Boden entsteht, ist hingegen zweitrangig. Es sind Mechanismen wie diese, die dazu führen dass die Stadtgesellschaft schleichend entmachtet wird, wird die US-Soziologin Saskia Sassen angeführt. „Das börsenfixierte und deregulierte Wachstum der Städte stellt auch deren Überleben infrage“, zitiert Hubeli eine Diagnose des Wohn- und Siedlungsprogramms der Vereinten Nationen, UN-Habitat, die klingt, als käme sie „aus der alten Schule der Kapitalismuskritik“.

Was tun also? Die Initiative „Deutsche Wohnen & Co Enteignen“ ist Beispiel dafür, dass Protest wirkt. Die Initiative fordert beispielsweise, große börsennotierte Immobilienkonzerne mit mehr als 3.000 Wohnungen in Berlin zu enteignen und die Bestände zu vergesellschaften. Mit diesem Vorstoß hat die Initiative die Debatte geprägt und nicht nur die Berliner Politik ein Stück weit vor sich hergetrieben. Sie hat Fragen über das Verhältnis von Eigentum und Gemeinwohl salonfähig gemacht, die Big Player verunsichert. Auch dass es in Berlin heute einen Mietendeckel gibt, ist wenigstens eine indirekte Folge des Drucks aus der Zivilgesellschaft.

Hubeli widmet sich den neuen Enteignungsbestrebungen intensiv, zeichnet die historische Entwicklung nach, weist aber auch darauf hin, dass die Krise des Wohnens auch den Ausbau von öffentlichen und genossenschaftlichen Bauträgern erfordert – ebenso wie Bodenreformen.

Neben den ökonomischen und politischen Fragen geht Hubeli jedoch noch einen Schritt weiter: „In der Wohnungsfrage verketten sich politisch-ökonomische mit seelisch-kulturellen“ Aspekten, und so changiert seine Perspektive zwischen der des kritischen Stadtplaners und der des soliden Architekten, werden Machbarkeitsaspekte ebenso betrachtet wie philosophische, kultur- oder sozialwissenschaftliche.

Wachstum nach innen

So verknüpft Hubeli die Wohnungsfrage mit den Begriffen von „Heimat“ und „Zuhause“, was nicht zuletzt in einer per se entgrenzten Welt, in der der Mensch zunehmend zum Nomaden wird, ein mitunter widersprüchliches Bild ergibt. Beispielsweise, indem es einerseits den Drang der Stadtbewohner nach dem Austausch im öffentlichen Raum gibt, während beim Streamingdienst Netflix zugleich Formate wie Aufräumen mit Marie Kondo die „eigenen“ vier Wände zelebrieren.

Fest steht für Hubeli, dass das Wohnen heute eine Gesellschaft spiegelt, die es nicht mehr gibt. Dafür führt er Belege an – unter anderem, dass trotz demografischer Veränderungen noch immer die Wohnungen am meisten gebaut werden, die am wenigsten gebraucht werden. Gerade in den Städten seien die „Kleinfamilienhaushalte auf 15 und weniger Prozent geschrumpft“, doch die Wohnräume passten sich nicht daran an. Außerdem prognostiziert Hubeli, dass „neue Wohnformen in andere Stadtformen übergehen“ werden. Er plädiert für ein Wachstum der Städte nach innen, für eine Nachverdichtung, ohne die Freiräume aufzugeben, die es von den Stadtbewohnern zu befüllen gilt und Urbanität erst entstehen lassen.

Die Lage ist deshalb dramatisch, weil auch der Mittelstand erfasst sei. „Wenn Wahlfreiheit auf dem Wohnungsmarkt ein Luxus ist und monetären Wohlstand voraussetzt, ist die Folge eine weitreichende soziale Ausgrenzung und Spaltung. Sie hat sich in den letzten dreißig Jahren verschärft und auch den Mittelstand erfasst“, schreibt Hubeli, um mit Michel Foucault zu dem Schluss zu kommen, dass Wohnen gegenwärtig eine Macht ist, die die Bewohner in ihr Dispostiv zwängt, sie zu Unterworfenen macht.

Es sind große Bögen, die hier auf knapp 200 Seiten geschlagen werden – kundig geht es von Homer über Jane Jacobs, Walter Benjamin und Michel Foucault bis hin zu Heidegger. Hubeli umschifft dabei die Gefahr von Oberflächlichkeit und Zusammenhanglosigkeit. Stattdessen steht am Ende die Erkenntnis, dass das Wohnen über die Zukunft der Städte entscheidet und beides zusammen ein vielschichtiges Problem darstellt.

In all diese verschiedenen, zuweilen auch sich reibenden Richtungen zu denken, dazu lädt Hubeli ein. Das Lesen in seinem Buch hat schon fast etwas von Flanieren in einer Stadt.

Info

Die neue Krise der Städte. Zur Wohnungsfrage im 21. Jahrhundert Ernst Hubeli Rotpunktverlag 2020, 192 S., 15 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU) und sammelte nebenbei erste journalistische Erfahrungen als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz möglichst viel Anklang zu finden. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts.

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