Wer das Elend der Mobilität in Deutschland bestaunen will, könnte zum Beispiel am Neckartor in Stuttgart vorbeischauen. Oder an der Landshuter Allee in München. Oder in der Lederstraße im eher beschaulichen Reutlingen. Der Verkehr tobt über mehrspurige Straßen. Pendler kutschieren in die Stadt hinein oder hinaus. Die Verkehrsadern durchschneiden die Städte, sie machen sie zu unwirtlichen Orten. Risiko und Nebenwirkung der Automobilität. Insbesondere das Neckartor in Stuttgart ist zum Sinnbild dessen geworden, was in Deutschlands Verkehr schiefläuft. Die Messstation dort liefert häufig Überschreitungen der Stickoxid- und Feinstaub-Grenzwerte. Das Verwaltungsgericht in Stuttgart gab kürzlich der Deutschen Umwelthilfe Recht, die gegen die Überschreitungen geklagt hatte. Stuttgart muss handeln.
Damit ist der Diesel-Skandal im Alltagsleben angekommen. Wer Diesel fährt, muss bald mit Fahrverboten rechnen. Zum Ärger der Bürger darüber, dass sich Politik und Konzerne zu betrügerischen Kartellen zusammengeschlossen haben, kommt die Sorge ums eigene Auto hinzu. Die Kraftwagen der Deutschen sind dreckiger, als sie laut EU-Richtlinien sein dürften. Wie soll die Mobilität der Zukunft aussehen? Plötzlich ist das eine Wahlkampffrage. Immerhin ist dies das Land, das sich seit Jahrzehnten als Autonation begreift, und als Vorreiter bei der Öko-Wende zudem. Mobilität emissionsfrei zu organisieren, wer soll das hinbekommen, wenn nicht Deutschland? Und Luftverschmutzung ist kein Schönheitsfehler, sie greift die Gesundheit an. Lärm und Staub machen krank. Und in den Städten geht es darum, wie wir öffentlichen Raum begreifen: als Hoheitsgebiet der Autos oder als Ort für Menschen.
Alles andere als visionär
Die Antworten der Politik sind alles anderes als visionär. CSU-Chef Horst Seehofer machte es zur Koalitionsbedingung der CSU, dass Verbrennungsmotoren nicht verboten werden. Diejenigen, die über eine Zeit nach dem Verbrenner nachdenken, landen meist beim Elektroauto. Martin Schulz forderte nach dem Diesel-Gipfel eine verbindliche Quote für elektrisch angetriebene Wagen. Die Grünen wollen deren Kauf mit 6.000 Euro subventionieren. In anderen Ländern ist man weiter. Dort gelten Restlaufzeiten für Otto- und Dieselmotoren. Großbritannien will ab 2040 keine Verbrenner mehr zulassen, in Indien soll das schon 2030 der Fall sein, Norwegen plant für 2025.
Die Erzählung von der Mobilität der Zukunft klingt simpel: Freie Fahrt für freie Bürger – bloß nicht mehr mit Diesel und Otto, sondern mit schicken E-Autos. Aber diese Geschichte hat einen Haken: Elektroautos sind derzeit in Deutschland sündhaft teuer. Und sie sind selbst für eine klimabewusste wohlhabende Bevölkerungsschicht nicht attraktiv – weil ihre Reichweite viel zu gering ist. Natürlich werden mehr Ladestationen und bessere Akkus die Reichweite ausdehnen. Doch das löst das größte Problem nicht. Der Zweifel nagt weiter: Sind E-Autos wirklich umweltfreundlich und ethisch vertretbar? Schon die Herstellung der Akkus ist kein Spaß: Unter hohem Energieaufwand werden hier seltene Erden verarbeitet, die unter menschenunwürdigen Bedingungen in Krisenregionen Afrikas, etwa dem Kongo, gewonnen werden. Oft von Kindern.
Eingetrübt ist auch die Hoffnung darauf, dass E-Mobile wenigstens im Laufe ihrer Nutzung ihrem guten ökologischen Ruf gerecht werden – zumindest solange die Energiewende in Deutschland nicht vollzogen ist. Wenn der Strom aus Kohlekraftwerken stammt, kommen zwar keine Abgase mehr aus dem Auto – dafür aber aus stinkenden und giftigen Kraftwerken. „Bei den Elektroautos ist der Automobilindustrie ein besonderer Coup gelungen“, kritisierte Dieter Teufel, Leiter des Umwelt- und Prognoseinstituts Heidelberg im Deutschlandfunk: „Sie gelten per definitionem per Gesetz als Nullemissionsfahrzeuge.“
Befürworter führen ihrerseits Studien ins Feld. Sie sollen belegen, wie viel umweltfreundlicher eine Welt voller E-Mobile wäre. Eine ziemlich unübersichtliche Situation ist entstanden. Einer Studie der einen Seite folgt ein Gegengutachten der anderen. So endet die Debatte häufig viel zu früh – beim Elektroauto als dem Leitgefährt der Zukunft.
Die Debatte über das Auto beruht auf einer angestaubten Prämisse: dass ein eigenes Auto für jeden selbstverständlich ist. Einer Civey-Umfrage zufolge nutzt die Hälfte aller Befragten täglich oder fast täglich ein Auto. 20 Prozent nutzen es mehrmals in der Woche. In Deutschland sind laut Kraftfahrtbundesamt insgesamt 45,8 Millionen Pkw zugelassen, 684 Kraftfahrzeuge pro 1.000 Einwohner. So kommt es auch, dass jedes Auto im Durchschnitt nur mit ein bis zwei Personen besetzt ist. Dass man daran etwas ändern könnte, wird in der öffentlichen Debatte kaum thematisiert. Im Land von Gottlieb Daimler und Carl Benz scheint es nicht opportun, Mobilität neu und ganz anders zu organisieren.
Die Infrastruktur ist vollkommen auf das Auto ausgerichtet: Auf dem Land geht ohne eigenen Pkw nichts. In den Städten wird dafür Sorge getragen, dass die Autofahrt nicht allzu ärgerlich wird. Parkplätze sind oft kostenfrei oder im Vergleich zu anderen Ländern nicht allzu teuer. Bis heute zieht das Fahrrad gegen das Auto den Kürzeren. Autobauer freut das. Und dieselben Unternehmen, die mithilfe von Kartell und technischer Manipulation ihre Kunden – und die Umwelt – geschädigt haben, werden auch in Zukunft Elektroautos und automatisierte Fahrzeuge liefern. Für den Erhalt vorhandener Arbeitsplätze mag das vielleicht gut sein – für eine Verkehrswende, die diesen Namen verdient, reicht das nicht.
Denn die Verkehrswende ist ohne eine Revolution der Mobilität nicht zu haben. Der Thinktank „Agora Verkehrswende“ der Stiftung Mercator spricht sich klar für eine neue Form der Beweglichkeit aus. Zwar setzt auch Agora auf Elektromotoren als ein Kernstück der Wende. Aber nur mithilfe eines anderen Faktors: der Digitalisierung. „Sie verändert den Verkehrssektor mit hoher Geschwindigkeit. Sie hat bereits heute Einfluss darauf, welche Verkehrsträger genutzt und kombiniert, welche Routen gefahren und welche Mobilitätsdienstleistungen in Anspruch genommen werden.“ Im Zentrum steht dabei in den Augen der Experten das Smartphone. Es ermöglicht kollaborative Mobilitätsdienstleistungen – und wird mehr und mehr zum persönlichen Navigator zwischen den vielen Mobilitätsoptionen. In der Realität findet das, was Agorabeschreibt, schon statt: Fahrräder, die in Trauben überall über die Innenstädte verteilt sind – und per App ausleihbar sind. Elektroscooter, die sich via Smartphone buchen und starten lassen. Autos, die man für eine Fahrt benutzt – und dann wieder abstellt. Das Modell hat durchaus Potenzial. Laut einer repräsentativen Civey-Umfrage können sich 14,4 Prozent aller Befragten auf jeden Fall vorstellen, Carsharing-Angebote zu nutzen, 26,2 Prozent antworteten immerhin noch mit „eher ja“.
In vielen Fällen stecken hinter diesen flexiblen Carsharing-Angeboten Autohersteller wie BMW, Mercedes oder Citroën. So entsteht eine kuriose Situation. Indem es viel einfacher geworden ist, mit einem Mercedes oder BMW herumzufahren, machen die Autohersteller Werbung für ihre alten Kutschen mit Auspuff. Andererseits helfen sie so, ein völlig neues Konzept von Mobilität zu etablieren. Das geht nicht mehr zwingend vom Privatfahrzeug aus, sondern beruht auf dem Gedanken Teilens.
Tilman Bracher, Bereichsleiter für Mobilität am Deutschen Institut für Urbanistik, mahnt zur Vorsicht. „Das Problem bei flexiblen Carsharing-Angeboten in den Großstädten ist, dass sie eine Alternative zum öffentlichen Nahverkehr darstellen. Sie sorgen nicht dafür, dass es weniger Autos auf den Straßen gibt.“ Aus wirtschaftlicher Sicht funktioniert das System nur in den Kerngebieten der großen Städte. „Wenn wir nichts finden, was auch in der Fläche funktioniert“, sagt Bracher, „dann kommen wir nicht weit.“
Gerade auf dem Land ist der private Pkw jedoch fast unverzichtbar. Weite Strecken und ein schlechtes Angebot des öffentlichen Nahverkehrs machen Alternativen schwierig. Und doch gibt es sie. Insbesondere liniengebundene und für die tatsächliche Nachfrage oft überdimensionierte Busse könnten durch kleinere Fahrzeuge ersetzt werden. Flexibel buchbar, könnten sie mit intelligenter Routenführung das bestehende Angebot verbessern. Der Gedanke des Teilens kann aber auch auf dem Land funktionieren, meint Bracher – allerdings eher in Gestalt von sogenanntem fixem Carsharing: Die Autos haben dabei eine feste Station, zu der sie immer wieder zurückkehren. Das wäre beispielsweise durch gewerbliche Carsharing-Anbieter machbar. Oder wenn sich mehrere Familien ein Auto teilen. Um die Autos besser auszulasten, könnte es sinnvoll sein, Fahrgemeinschaften zu bilden – etwa mit Hilfe besserer Mitfahrer-Apps. Doch der Weg dahin ist weit. Civey zufolge können sich nur etwa zehn Prozent der Menschen vorstellen, für kürzere Autofahrten Fahrgemeinschaften mit Fremden zu bilden. Ein Viertel der Befragten lehnt das ab.
In Großstädten wird mit geteilten Fahrten längst experimentiert. Unternehmen wie Clevershuttle oder Allygator bieten taxiähnliche Fahrdienste an. Sie holen die Menschen ab, wo sie sind und bringen sie zum gewünschten Ziel. Am Steuer sitzt auch hier der Algorithmus, der via App zeigt, wie die beste Route aussieht, auf der möglichst viele möglichst schnell ans Ziel kommen. Derzeit noch mit Fahrer – in etwas fernerer Zukunft fahren die Shuttles wahrscheinlich autonom.
Abschied vom Auto
Die Preise für geteilte Fahrten sind unschlagbar. Der Fahrdienst Allygator verlangt nur fünf Cent pro Kilometer – und unterbietet selbst den öffentlichen Nahverkehr. Allerdings sind privaten Anbietern noch enge Grenzen gesetzt. In den USA ist die private Taxialternative Uber auf dem Vormarsch. Hierzulande hindert das Personenbeförderungsgesetz private Anbieter daran, ungehemmt zu experimentieren und sich auszubreiten – noch. Der Verband der Automobilindustrie und der Bundesverband Deutsche Start-ups e.V. fordern daher eine Reform des Gesetzes. Eine „Flexibilisierung des rechtlichen Rahmens“ tue not. Uber wollte sich in deutschen Städten etablieren – und scheiterte an den strengen Vorgaben. Taxifahrer freute das, sie hatten das Gesetz auf ihrer Seite. Automobilherstellern und Start-ups setzt es enge Grenzen. Da sind auch die Anbieter des öffentlichen Nahverkehrs froh, denn auch er könnte durch neue Konzepte des Teilens untergraben werden. Die Möglichkeit, sich bezahlbar fortzubewegen, gehört jedoch zur Daseinsvorsorge. Sich von privaten Unternehmen abhängig zu machen, beinhaltet das Risiko, mehr bezahlen zu müssen – und dem Gewinnstreben einzelner Anbieter ausgeliefert zu sein.
Beim öffentlichen Personennahverkehr ist zu beobachten, dass nicht immer alles neu erfunden werden muss. Über den Reiz der Innovationen darf man nicht vergessen, dass sich vieles einfach verbessern lässt. Öffentliche Verkehrsmittel erfreuen sich insbesondere in den Metropolen großer Beliebtheit. Ähnlich sieht es mit dem Fahrradverkehr aus – wobei der nicht selten unter sträflich vernachlässigter Infrastruktur leidet. Gemessen an Ländern wie den Niederlanden oder Dänemark gibt es auch hier noch einigen Nachholbedarf. Wie darauf reagiert werden könnte, kann man derzeit in Berlin erleben. Dort liegt dem Abgeordnetenhaus ein Mobilitätsgesetz zur Abstimmung vor. Es sieht unter anderem bis 2018 ein flächendeckendes Netz an Radwegen und 100.000 neue Fahrradständer vor. 200 Millionen Euro sollen allein in dieser Legislaturperiode dafür investiert werden.
Die Mobilität der Zukunft, wie kann und wie soll sie aussehen? Wohl auf jeden Fall vielschichtiger als heute: ein Mix aus geteilten Bahnen, Bussen, Fahrrädern, Autos und Motorrollern, die nicht nur nebeneinander existieren, sondern durch Apps vernetzt und leichter zugänglich gemacht werden. Bis es so weit ist, wird allerdings noch wacker gestritten werden. Zum Beispiel über Datenschutz. Immer zahlreicher werden die beteiligten Apps, immer mehr Share-Modelle produzieren Daten über ihre Nutzer. Dass sich Skeptiker da nur mit Transparenz der Anbieter oder der Anonymisierung ihrer Bewegungsdaten zufriedengeben werden, darf wohl angezweifelt werden.
Zudem werden mit den neuen Mobilitätsangeboten auch neue Arbeitsmodelle entstehen, und mit neuen Arbeitsmodellen kommen meist auch neue Ausbeutungsmöglichkeiten. Die Gefahr, dass sich irgendwann ein Ridesharing-Prekariat entwickeln könnte, ist nicht von der Hand zu weisen. Ähnliche Entwicklungen gab es auch bei Uber oder im Bereich der Wohnungsvermietung Airbnb. Und so gibt es viel zu bedenken im Autoland Deutschland, nach vorne zu denken: Wie soll die Mobilitätswende politisch befördert werden – und welcher Einfluss wird dabei der Privatwirtschaft eingeräumt? Der Straßenkampf hat begonnen.
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