Wir müssen zuhören

Podcasts Ein Jahr nach der Tat von Hanau: Eine ganze Reihe Formate arbeitet den neuen und alten rechten Terror in Deutschland auf
Ausgabe 06/2021
Protest bei der Urteilsverkündung zum NSU-Prozess im Juli 2018. Zu jedem der 438 Verhandlungstage gibt es nun eine Podcast-Episode
Protest bei der Urteilsverkündung zum NSU-Prozess im Juli 2018. Zu jedem der 438 Verhandlungstage gibt es nun eine Podcast-Episode

Foto: Christian Mang/IMAGO

Am 19. Februar jährt sich der rechtsextreme, rassistisch motivierte Anschlag in Hanau zum ersten Mal. Neun Menschen mit Migrationshintergrund wurden am 19. Februar 2020 ermordet. Ein Jahrestag wie dieser erinnert in Zeiten medialer Corona-Monokultur daran, dass sich marginalisierte Gruppen in Deutschland oft nicht sicher fühlen können und von den Sicherheitsbehörden alleingelassen werden. Davon zeugt nicht nur Hanau.

Wie tief verwurzelt Rassismus und Rechtsextremismus in Deutschland sind, legen auch verschiedene Podcasts offen. Podcast-Redakteur Vinzent-Vitus Leitgeb und Gerichtsreporterin Annette Ramelsberger von der Süddeutschen Zeitung widmen sich in Deutsche Abgründe den Taten des NSU. Es geht um die Anfänge im Jena der 90er Jahre, um die Strukturen, die ein Untertauchen ermöglichten, aber auch um die blinden Flecken und Ungereimtheiten bei den Ermittlungen. Untermauert wird all das durch Zitate aus dem NSU-Prozess. Den insgesamt 438 Verhandlungstagen wird eine eigene Episode gewidmet, doch präsent ist der NSU-Prozess eigentlich immer. Ramelsberger schildert die Stimmung im Gerichtssaal immer wieder auf bedrückende Weise – sei es die Selbstverständlichkeit, mit der rechtsradikale Ideologie vor sich hergetragen wird, sei es die Verzweiflung der Angehörigen der Opfer. Diese bekommen auch jenseits der Verhandlungen eine Stimme. So erinnert sich Enver Şimşeks Sohn Abdulkerim an die Zeit nach dem Mord, aber auch an das Leben, das sich sein Vater in Deutschland aufgebaut hatte. Es macht die Grausamkeit dieser und vieler anderer Taten greifbar. Was umso wichtiger ist, da die Taten des NSU in die Gegenwart reichen. Die Morde, scheinbar unbehelligt von Polizei und Verfassungsschutz, haben Rechtsextremen ein neues Selbstbewusstsein verschafft. Und so stellen Leitgeb und Ramelsberger den Mord an Walter Lübcke, die Anschläge in Halle und Hanau oder die Drohschreiben im Namen des „NSU 2.0“ in einen direkten Zusammenhang zu den Taten des NSU.

Dem Zusammenspiel zwischen rechter Gewalt und der Polizei geht der fünfteilige WDR-Podcast Oury Jalloh nach. Der Asylbewerber aus Sierra Leone verbrannte 2005 in einer Dessauer Polizeizelle. Schwer verletzt und an Händen und Füßen gefesselt soll er sich – so die Darstellung der Behörden – selbst angezündet haben. Dass diese Geschichte nicht stimmen kann, arbeitet die Journalistin Margot Overath ebenso heraus wie die Hintergründe rund um die Polizeiwache, die schon mit anderen gewaltsamen Todesfällen in Verbindung gebracht wurde. Die fünf Episoden schildern jedoch nicht nur die Machtstrukturen innerhalb der Polizei und die politischen Mechanismen der Vertuschung, sondern auch den Durchhaltewillen zivilgesellschaftlicher Gruppen, die diesem Unrecht nicht länger tatenlos gegenüberstehen wollen.

Ein Fall, der weniger mediale Beachtung fand, ist der Brandanschlag auf eine Flüchtlingsunterkunft in der Hamburger Halskestraße im August 1980, bei dem die Vietnamesen Nguyên Ngo c Châu und Đô Anh Lân getötet wurden. Diesem Mordanschlag widmen sich die Journalistinnen Minh Thu Tran und Vanessa Vu in einer Episode ihres Podcasts Rice and Shine über vietdeutsches Leben. Besonders hörenswert ist das auch deshalb, weil sie den Opfern und ihren Angehörigen auf unaufdringliche Art sehr nahe kommen.

„Die Rechten fühlen sich stark und sie werden zuschlagen. Aber wir müssen ihnen zeigen, dass sie nicht in unserem Namen sprechen. Nicht im Namen der schweigenden Mehrheit. Und deswegen darf die Mehrheit nicht schweigen“, sagt Annette Ramelsberger am Ende von Deutsche Abgründe. Auch deshalb müssen diese Geschichten immer wieder erzählt – und gehört – werden.

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Geschrieben von

Benjamin Knödler

Product Owner Digital, Redakteur

Benjamin Knödler studierte Philosophie und Sozialwissenschaften an der Humboldt-Universität zu Berlin (HU). Neben seinem Studium arbeitete er als Chefredakteur der Studierendenzeitung UnAufgefordert, als freier Journalist, bei Correctiv und beim Freitag. Am Hegelplatz ist er schließlich geblieben, war dort Community- und Online-Redakteur. Inzwischen überlegt er sich als Product Owner Digital, was der Freitag braucht, um auch im Netz viele Leser:innen zu begeistern. Daneben schreibt er auch weiterhin Texte – über Mieten, Stadtentwicklung und Podcasts. Er ist außerdem Co-Autor zweier Jugendbücher: Young Rebels (2020) und Whistleblower Rebels (2024) sind im Hanser Verlag erschienen.

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