Bars, Kneipen, Theater und viele Geschäfte sind geschlossen. Die Menschen sind angehalten, ins Homeoffice zu gehen und den öffentlichen Raum zu meiden, um sich selbst und andere vor der Ausbreitung des Coronavirus’ zu schützen. Doch was bedeutet diese Situation für Menschen, die auf der Straße leben, die keinen Rückzugsort haben? Dirk Dymarski war selbst viele Jahre in Berlin obdachlos und ist Mitglied der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen. Wir haben mit ihm gesprochen.
Herr Dymarski, derzeit heißt es angesichts des Corona-Virus’ häufig, die Menschen sollten, wenn irgend möglich, zu Hause bleiben. Doch was ist mit denen, die kein Zuhause, kein Obdach haben?
Diese Frage stelle ich mir persönlich auch seit Tagen. Wenn ich allein an die Straßenobdachlosen denke, die sich mit Dachpappe, Pappkartons oder ähnlichem in einem Bankvorraum oder an anderen Orten eingerichtet haben. 14 Tage Quarantäne – wie soll das für sie funktionieren? Eine andere Frage, die mich die letzten Tage beschäftigt: Wenn zum Beispiel in Berlin ein Straßenobdachloser oder jemand, der in einer vom Bezirk zur Verfügung gestellten Unterkunft untergebracht ist, infiziert wird – was passiert dann? In Hamburg hat es in einem Winternotprogramm infizierte Übernachtungsgäste gegeben. Dort wurden 300 Menschen auf einen Schlag unter Quarantäne gesetzt.
Wie bewerten Sie diese Maßnahme?
Ich sehe es mit einem lachenden und einem weinenden Auge. Einerseits muss man die Winternotprogramme jetzt nicht so früh am Morgen verlassen, die Leute sind dort wenigstens halbwegs im Warmen und Trockenen. Auf der anderen Seite leiden viele der Menschen an Suchterkrankungen. Ich versetze mich mal selbst in die Situation. Wenn ich zwei Wochen lang 24 Stunden am Tag mit 299 anderen in einem Haus sein muss, geht das vielleicht zwei, drei Tage gut – aber darüber hinaus? Was ist in einer Woche? Und wenn ich mich an die Notübernachtungssituation in Berlin erinnere: Wenn es da in einer der Einrichtungen zu Quarantäne-Fällen kommt? Also ich möchte in deren Haut nicht stecken.
Gehören obdachlose Menschen zum Personenkreis besonders gefährdeter Personen? Ein Leben auf der Straße ist ja durchaus kräftezehrend.
Kräftezehrend ist das Leben auf der Straße definitiv. Wir von der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen sagen: „Obdachlosigkeit macht auf Dauer krank“. Das bedeutet aber umgekehrt nicht, dass man besonders auf Abstand gegenüber Obdachlosen gehen muss. Obdachlose sind keine besondere Gefahrenquelle!
Sie sprechen damit einen diskriminierenden Blick auf Obdachlose im Allgemeinen an.
Definitiv. Die Abneigung gegenüber Straßenobdachlosen ist leider grundsätzlich gegeben, beziehungsweise auch gegenüber Leuten, die in Einrichtungen wohnen. Das habe ich auch einige Jahre erlebt.
Inwiefern?
Zum Beispiel wenn es darum geht, über den freien Wohnungsmarkt auf Wohnungssuche zu gehen. Wenn man sich auf ein Wohnungsinserat meldet und erklärt, dass man derzeit in einer Einrichtung lebt, kommt schnell die Standard-Antwort: „Sorry, ich habe vergessen, die Wohnungsanzeigen rauszunehmen.“
Wie bewerten Sie die Versorgungslage für obdachlose Menschen?
Das lässt sich nicht so eindeutig sagen. Ich selbst bin über zehn Jahre in Berlin als Straßenobdachloser und in ASOG-Einrichtungen (Vom Bezirksamt zugewiesene Unterkünfte, Anm. d. Red.) unterwegs gewesen. Auf der einen Seite bemüht man sich auf der Straße um ein sogenanntes Gemeinschaftsgefühl, andererseits verhält man sich plötzlich wie ein Raubtier – egal ob das die Lebensmittelversorgung angeht oder auch die Sicherung von Notschlafplätzen. Vor diesem Hintergrund ist es, was das Thema Versorgung angeht, schwierig – vor allen Dingen, wenn ich mir die Qualität mancher Notübernachtungsstellen anschaue. Wenn ich noch welche hätte, würden sich mir da die Nackenhaare aufstellen. Zwar hat jeder, der in Notübernachtungen oder auf der Straße ist, das Anrecht auf eine Unterbringung. Da gibt es dann aber das nächste Problem: Denn es gibt einige Betreiber, die mit Armut Kohle machen. Da werden auch mal Vier- oder Fünfbettzimmer zu Tagessätzen von über 35 Euro pro Person vermietet, das Wort „Menschenwürde“ mit Füßen getreten.
Zur Person
Dirk Dymarski ist seit über 20 Jahren wohnungslos und war viele Jahre davon obdachlos. Er ist Mitglied der Selbstvertretung wohnungsloser Menschen – eine Plattform der Selbstvertretung wohnungsloser und ehemals wohnungsloser Menschen, die sich dafür einsetzt, Armut, Ausgrenzung, Missbrauch, Entrechtung und Wohnungslosigkeit zu überwinden und die konkrete Lebenssituation zu verbessern
Was wiederum die Versorgung mit Nahrungsmitteln angeht: Klar, auch die Qualität der Speisen in Suppenküchen ist oftmals fragwürdig. Aber etwas zu essen und zu trinken kriegt man in Berlin immer. Man kann morgens um 06:00 an der Bahnhofsmission am Zoo an der Frühstücksklappe anfangen und hört um 23:59 an der Bahnhofsmission an der Klappe auf, hat aber den ganzen Tag über Berlin verteilt Angebote von Suppenküchen – ähnliches gilt auch für Hygiene-Angebote. In anderen Städten mag das jedoch anders aussehen. Wenn ich mich an das Hilfesystem in meiner Heimatstadt Bochum Anfang der 2000er-Jahre erinnere: Damals gab es für ganz Bochum eine einzige Suppenküche und eine Notübernachtung, in der die Matratzen nachts schon sprechen konnten. Und das ist mit Sicherheit in den letzten Jahren nicht besser geworden. Im Gegenteil.
Während viele Menschen, die nicht von Obdachlosigkeit betroffen sind, pausenlos die Liveticker aktualisieren, ist das für Straßenobdachlose ja nicht so einfach. Wie kann Aufklärung funktionieren?
Untereinander werden Informationen und Hinweise schon weitergegeben. Das funktioniert im Großen und Ganzen. Und wenn ich in diesen Tagen unterwegs bin, sehe immer mehr Hinweisschilder. In Berlin ist es außerdem beispielsweise so, dass die meisten wissen, dass die Bahnhofsmission ein Anlaufpunkt ist. In der Regel geben die Leute einem dort die Informationen, die man benötigt.
Ein Hinweis, den man häufig bekommt, ist, sich die Hände möglichst häufig zu waschen. Das stelle ich mir schwierig vor.
Klar, Händewaschen, egal in welcher Stadt ist eine schwierige Situation. Aber es gibt schon Möglichkeiten. In Fastfood-Ketten zum Beispiel, in Rathäusern und natürlich in der Bahnhofsmission gibt es Toiletten, die zugänglich sind.
Obdachlosenhilfe baut auch auf ehrenamtliches Engagement. Viele Tafeln stellen gerade ihr Angebot ein. Sehen Sie die Gefahr, dass das ehrenamtliche Engagement zum Erliegen kommt?
Ich befürchte schon, dass sich viele Ehrenamtliche zurückziehen. Ich bekomme in den sozialen Medien allerdings auch mit, dass diverse Einrichtungen ankündigen, dass die Versorgung trotzdem gewährleistet bleiben wird. Die Einrichtungen schauen also schon, dass sie die Leute versorgt kriegen.
Ein anderer Aspekt: Wenn alles geschlossen wird, wenn kaum noch Menschen unterweges sind, dann gehen obdachlosen Menschen doch vermutlich auch Einnahmequellen verloren?
Definitiv. Auch die Möglichkeit, Pfandflaschen zu sammeln, geht verloren. Nehmen wir das Beispiel Berlin. Kulturveranstaltungen und andere öffentliche Veranstaltungen fallen auf einmal weg – inklusive der Spiele von Hertha BSC, Union, Alba und anderen Sportvereinen. Die Möglichkeiten, dort Pfand einzusammeln, fallen dadurch natürlich weg. Und wenn man die Leute dann auch noch dazu auffordert, zu Hause zu bleiben, verstärkt das das ganze natürlich.
Was wünschen Sie sich in der aktuellen Situation von der Politik?
Konkrete Maßnahmen zu benennen, finde ich schwierig. Aber natürlich haben wir mit Blick auf größere Zusammenhänge eine Vision: Dass endlich mehr sozialer und bezahlbarer Wohnraum geschaffen wird.
Was kann man jetzt tun, um die Situation von Obdachlosen in der Corona-Krise zu erleichtern?
Sicherlich zunächst einmal auf sich selbst achten und die eigene Gesundheit nicht vernachlässigen. Aber darüber hinaus würde es auch helfen, Scham, Scheu und Abneigung gegenüber Straßenobdachlosen – die es leider auch unabhängig von der aktuellen Situation gibt – nicht jetzt noch verstärkt zur Schau zu stellen, sondern vielmehr solidarisch zu sein und zu zeigen: „Wir vergessen euch nicht.“
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