Warum Nazis mehr als nur 'Das Pack' sind

Rechtsradikalismus Auf die Frage nach dem Nazi wird gerne das Bild einer "Dumpfbacke" gezeichnet- ein Fehler, der das rassistische Potenzial in Deutschland unterschätzt.

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Die Ereignisse in Freital, Heidenau oder unter einem Post von Til Schweiger sind frustrierend, beängstigend. In Berlin urinieren Rechtsradikale auf ausländische Kinder, im Netz toben unzählige Bürger ihren Hass aus, in der ganzen Republik brennen Flüchtlingsunterkünfte.
Doch die Wut bringt auch etwas Gutes mit sich: Überall gehen Leute an die Öffentlichkeit, machen sich stark für Flüchtlinge und eine Willkommenskultur, Personen des öffentlichen Lebens, Politiker, Privatpersonen.

Allerdings geht dieser politische Trend einher mit einer gefährlichen Eigenart. Sigmar Gabriel spricht öffentlich von einem ‚Pack‘, Cartoonist Ralf Ruthe veröffentlicht alle paar Tage eine Zeichnung eines Glatzköpfigen mit Baseballschläger und Grammatikfehler, und wer im Allgemeinen frustriert ist ob der beängstigenden Entwicklungen hinterlässt auf Facebook einen Kommentar über die geringere geistige Leistungsfähigkeit eines Rechtsradikalen. Diese aktuelle Darstellung eines Nazis ist fatal. Ein Plädoyer für eine differenziertere Vorstellung des Rechtsradikalismus in Deutschland.

Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass das Beleidigen des Gegenübers in einem Konflikt nie förderlich ist und sicher nicht zu einer konstruktiven Lösung beiträgt. Nun mag man einwenden, dass ein Dialog mit Nazis realitätsfern und eine „konstruktive Lösung" absurd ist – nur haben wir keine andere Wahl. Die rechte Szene wird immer existieren und immer ihre Rekruten finden, das zu ignorieren wäre naiv. Genauso wenig lässt sie sich mit Gewalt aus der Welt schaffen. Die einzige Möglichkeit ist also, das Gespräch zu suchen. Das erkannte auch schon der Rapper Blumio, als er 2009 den Song „Hey Mr. Nazi“ veröffentlichte.

In dem Song steckt aber noch eine weitere Erkenntnis, die aufzeigt, wie unproduktiv die Darstellung eines Rechtsradikalen als „Dumpfbacke“ ist: Kaum ein Gedankenkonstrukt ist leichter argumentativ auszuhebeln, als eine Hasstirade auf das Fremde. Sie baut in den allermeisten Fällen auf wirren Argumenten auf, die getragen werden von unseriösen Halbfakten. Wenn sich ein Aktiver gegen Xenophobie und Rassismus nun, gerade in der öffentlichen Debatte und den sozialen Netzwerken, darauf konzentriert, die Lücken in rechten Ideen und Gedankenkonstrukten aufzuzeigen, kann er so wohl niemanden überzeugen, der selbst in solchen Mustern argumentiert und schon zu tief darin eingetaucht ist – all die Unentschlossenen aber können so von dem Irrsinn des Rechtsradikalismus überzeugt werden. Es gibt ein großes Potenzial an Leuten, die sich gegen rechtes Gedankengut einsetzen. Es wäre Verschwendung, dies nicht produktiv zu nutzen.

Es gibt allerdings noch ein weiteres „Potenzial“ an Überzeugung in der BRD, und dieses ist über die Maßen gefährlich und der entscheidende Grund, warum es so fatal ist, bei Rassismus nur an „Das Pack“ zu denken: Deutschland hat noch ein viel größeres Problem als den Nazi – seinen unbewussten Seelenverwandten in der gemäßigten Welt.
Es wimmelt nur so vor Leserbriefschreibern, die sich darüber echauffieren, wie verantwortungslos die Flüchtlingspolitik gegenüber dem Deutschen ist. Unzählige meinen, sich beschweren zu müssen, weil ihnen die Ausbildung nicht bezahlt wird, während Flüchtlinge ein „Taschengeld“ erhalten- dass dies unter dem errechneten Existenzminimum liegt, ist hierfür nicht relevant. Überall in der Republik meinen Leute, die Möglichkeiten Deutschlands seien erschöpft, während wir aber pro Kopf die mit wenigsten Flüchtlinge weltweit aufnehmen. Mütter sind frustriert, weil Sporthallen als Unterkünfte für Menschen genutzt werden, denen so zumindest das Überleben garantiert werden kann- während der Sohn der deutschen Mutter dadurch allerdings nun zunächst einmal keinen Vereinsfußball mehr spielen kann.

Die Argumentationen sind absurd, realitätsfern und stehen in keinem Verhältnis zu der Lebenssituation eines Vertriebenen, der es bis nach Mitteleuropa und Deutschland geschafft hat. Und doch sind diese Beiträge so häufig und breit vertreten, von Leuten aus der „Mitte“, dem „Normalo“. Dies lässt sich auch in einer Massenpartei wie der SPD feststellen. In dieser, einer Partei mit dem Wort „sozial“ im Titel, gibt es beängstigende Tendenzen hin zum Rassismus. Zuletzt blamierte sich der Thüringer SPD-Vorsitzende Andreas Bausewein mit einem öffentlichen Brief an die Kanzlerin, indem er darum bittet, die Schulpflicht für Asylantenkinder zu lockern sowie die Liste der „sicheren Herkunftsländer“, die eine Abschiebung enorm vereinfachen, zu erweitern. Auch der ehemalige Staatssekretär Gerd Andres, SPD-Mitglied, gab letztens in einem Interview zu verlauten, aus dem Balkan würden Familien kommen, da „sie wissen, dass es hier ein Taschengeld gibt“, obwohl sie genauso wüssten, dass ihre Asylanträge ohnehin abgelehnt würden.

Kurzum: die Bundesrepublik Deutschland hat ein beängstigendes rassistisches Potenzial. Gerne wird hier mit dem Finger Richtung Übersee gezeigt, wenn in den USA rassistische Züge bei der Polizei zu Tage kommen. Dabei ignorieren wir jedoch die breite Vernetzung rechten Gedankenguts in unserem Land selbst und unterschlagen so die davon ausgehende Gefahr. Die momentanen Eskalationen in Freital und Co. entspringen einem neuen Mut der rechtsradikalen Szene. Und diesen Mut bekommt sie, da sie spürt, wieviel unterdrückte Zustimmung sie in gemilderten Sphären hat. Der deutsche Nazi ist kein Skinhead mit Schlagring, er ist viel mehr ein Familienvater mit Anzug und netten Nachbarschaftsverbindungen. Die gewalttätige Szene ist nur eine Form „entartete Executive“ eines beängstigenden rechten Potenzials in der gesamten Bundesrepublik.

Darum sind Nazis mehr als nur „das Pack“. Dafür muss das Bewusstsein geschaffen werden, denn nur so kann in der Debatte dagegen gehalten werden. Dafür sprechen auch die Möglichkeiten, Rassismus mit Logik einherzukommen sowie die Unproduktivität von Provokation durch das „Dumpfbacken-Bild“. Darum ist eine differenzierte Wahrnehmung der Verbreitung von braunem Gedankengut in unserer Gesellschaft essenziell.

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