Die Scheinheiligkeit des Seins

Zur Aufregung um die Katar-WM Die WM in Katar provoziert mit ihren Menschenrechtsverletzungen zunehmend öffentliche Kritik, auch in Deutschland. Das ist soweit berechtigt, bringt aber auch eine enorme Vertuschung eigener autoritärer, repressiver Haltungen mit sich.

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Es ist mal wieder soweit: Der globale Kommerzfußball lädt zum Spektakel. Nach zuletzt Südafrika, Brasilien und Russland wird die aktuelle WM im Wüstenstaat Katar stattfinden, aus diversen Gründen ein recht ungeeigneter Ort zum Fußball spielen, und vermutlich momentan auch zum Erbauen von großen Fußballstadien. So weit, so klar. Die Gründe, warum die WM in Katar eigentlich nur als ein weiterer Beleg für die skurril offensichtliche Bestechungskultur der FIFA sein kann, sind vielzählig erörtert worden (hier z.B. stellt die SZ Korruptionsanklagen dar) und bedürfen hier wohl keiner weiteren Ausformulierung. Zu diesen, nun ja, schlechten Startbedingungen gesellen sich seit Jahren regelmäßig weitere Berichte über die menschenrechtsverletzenden Zustände in Katar sowie haarsträubende Aussagen von den Offiziellen aus Katar selbst.

Entsprechend groß ist, langsam aber sicher, die Empörung in Westeuropa darüber, dass ihr fußballerisches Freudenfest in so einem offensichtlichen moralischen Morast stattfinden wird. Die Kommentare schreien es auf jedem Social Media-Kanal hinaus, Vereine und Funktionäre fordern Boykotte (siehe dazu hier). Das ist, grundsätzlich, auch äußerst berechtigt und das gesamte Projekt der WM in Katar ist zweifelsohne zu verurteilen.

Das Problem dabei ist nur: Diese Aufregung bietet eine wunderbare Gelegenheit, die eigenen faulen Wurzeln mal wieder geflissentlich zu vergessen. Es ist sicherlich eine nervige Leier, aber da sie eben der Realität entspricht, unverändert eine notwendige. Auch hier, in den Landen der westlichen Demokratie, haben Homophobie und Co. einen institutionalisierten Platz. Das müselige Ringen um Raum, dass marginalisierte Gruppen seit Jahren bestreiten, scheint für den mittelmäßig progressiven Mainstream so anstrengend, dass sich nun gegenwärtig dankbar für eine Weile auf der butterweichen Katar-Kritik-Wolke ausgeruht werden kann.

Getreu der Logik: Wenn es irgendwo anders auf der Welt noch schlechter läuft, dann kann es bei uns ja gar nicht so schlimm sein. Die Bastion der westlichen Werteunion liegt sich mal wieder für eine kleine Weile wohlig schunkelnd im Arm, denn es ist Fußball-Zeit. Ähnliches war schon bei der EM vergangenes Jahr beobachtbar, als der DFB und sein Drumherum sich in ein Meer aus Pride-Symbolen stürzten, weil die gegnerische Nationalmannschaft aus Ungarn kam, wo Neo-Faschist Orbán regiert. Auch in diesem Fall ist es erst einmal etwas Schönes, gegen Orbán Flagge zu zeigen - Wenn das aber mit einem fast schon wertenationalistischen Deutschtümeln einhergeht, läuft etwas schief. Nicht zu schade, diese Absurdität besonders plakativ zur Schau zu stellen, war sich vor einem Jahr so z.B. die CSU-Abgeordnete Daniela Ludwig, die passend zum Spiel Deutschland gegen Ungarn auf Twitter mit stolzer Pride-Flagge auf dem Ärmel posierte - Dumm nur, dass Ludwig im Parlament gerade einmal vier Jahre zuvor selbst noch gegen die Einführung der Homoehe gestimmt hatte (siehe hier und hier).

Solche Fälle des traurigen Besingens eines imaginierten, natürlich deutschen Wertehaltung sind auch dieses Jahr wieder in einer Vielzahl anzutreffen. So schrieb am 07.11.22 auch Marcel Graus für die BILD-Zeitung über die "unfassbaren" Skandal-Aussagen des katarischen WM-Botschafters Khalid Salman (Graus' Artikel hier), dieser hatte in einem Interview mit dem ZDF Homosexualität als Geisteskrankheit bezeichnet (siehe hier). Die Aussage ist, selbstredend, eine der oben erwähnten haarsträubenden Äußerungen aus den offiziellen Reihen Katars. Aber wenn schon aus dem Hause Springer eine Verteidigung der progressiven Moral erklingt, sollten die Alarmglocken läuten. Der Verlag ist nicht ohne Grund nach wie vor ungekrönte Königin der Presserügen (siehe hier) und stetiges Fähnchen im populistischen Wind.

Da sind vielleicht fast noch die gruseligen Aussagen so mancher Bayern-Legenden angenehmer, die nämlich zumindest ganz unverhohlen die WM in Katar verteidigen. So wie hier, in einem von funk zusammengetragenen Beitrag dargestellt, Bastian Schweinsteiger, Uli Honeß und Thomas Müller. Letzterer ließ beispielsweise verlauten, es "gehe im Großen und Ganzen um Menschenrechtsverletzungen, die grundsätzlich in jedem Land auftreten".

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So sei abschließend noch einmal gesagt: Gegen gescheite Kritik am idiotischen Projekt "Katar-WM" ist nichts einzuwenden. Sie sollte nur im Stande sein, auszuhalten und mitzudenken, dass der Rest der (westlichen) Welt keine fein lackierte Utopie ist. Und erst recht sollte sie nicht vorgenommen werden, ob bewusst oder unbewusst, um sich mit dem eigenen, vermeintlich progressiven Liberalismus-Paket zu brüsten. Denn in diesem Sinne hat Thomas Müller mit seiner Aussage ja sogar absolut recht: Homophobie und Co. gibt es nicht nur in Katar, sondern auch überall sonst auf der Welt. Das sollte in der Konsequenz aber nicht Katar entlasten, sondern den Rest der Welt in die kritische Zange nehmen. Ansonsten ist die Katar-Kritik nämlich nur noch eins: Projektion, um vor dem eigenen moralischen Morast, der vielleicht größer ist, als es lieb ist, zu fliehen. Und, gerade in Fällen wie von Daniela Ludwig letztes Jahr, ist sie damit auch nur eine nahezu absurd offensichtliche Scheinheiligkeit des eigenen Seins.

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