Beerdigungsrituale im Jazz sind meistens interessante Ereignisse. Musiker*innen geben ihren verstorbenen Kollegen das letzte Geleit – und wie könnte man ein dem musikalischen Abenteuer gewidmetes Leben passender würdigen als mit Musik? Als allerdings der Sarg Amiri Barakas im Januar 2014 in die ausverkaufte Newark Symphony Hall überführt wurde, verwandelte sich die Gedenkfeier in ein besonderes Ereignis. Der Dichter Saul Williams war um eine Trauerrede gebeten worden und er richtete eine Aufforderung an den Verstorbenen, die in der Trauergemeinde für einiges Aufhorchen sorgte: „Raus aus dem Sarg mit dir! Dies ist ein Überfall! Du kannst dich noch nicht abmelden, gerade jetzt, wo wir Dich so brauchen!“ Baraka wäre mit diesem coup de théâtre zur Segnung seiner Seele bestimmt einverstanden gewesen, denn dramatische Auftritte waren fester Bestandteil seines künstlerischen Impulses.

Wenn er seine Gedichte öffentlich vortrug, fing er oft unvermittelt an, zu singen. Er summte mit viel Nachdruck Melodien von Bud Powell, Thelonius Monk oder Charles Mingus – Giganten des Modern Jazz, die den Soundtrack seiner Jugend geschrieben und ihn zum Nachdenken über die Stellung Nicht-Weißer und ihrer großen künstlerischen Errungenschaften im weißen Amerika angeregt hatten. Seine unverblümte Auseinandersetzung mit der harten Realität einer Gesellschaft im Nachhall der Bürgerrechtsbewegung prägte Barakas gesamtes Leben. Einige Jahre vor seinem Tod wurde er gefragt, was er von dem Phänomen Barack Obama hielte und wie er mit einem Schwarzen im Weißen Haus die Chancen für einen echten, umfassenden Fortschritt für schwarze Amerikaner einschätzte, im Gegensatz zu den bisher nur teilweise eingeleiteten Schritten. „One Negro can’t suddenly reverse several hundred years of oppression – Ein Schwarzer kann Jahrhunderte der Unterdrückung nicht plötzlich umdrehen.“ Sein bissiger Kommentar ist auf zwei verschiedenen Ebenen bemerkenswert: Erstens passte er genau zu diesem heißspornigen Denker, diesem Dichter, Dramatiker und Essayisten. Und zweitens unterstrich er die Tatsache, dass Baraka in den Tumulten der 1950er-Jahre erwachsen wurde, als Afroamerikaner offiziell nicht als Schwarze, sondern als „Negroes“ bezeichnet wurden, also mit einem Begriff, der ein Leben als Bürger zweiter Klasse in allen Bereichen implizierte.

Barakas unmittelbare Erfahrungen mit den diskriminierenden „Jim Crow-Gesetzen“ und seine hellsichtige Interpretation ihrer weitreichenden psychologischen wie politischen Auswirkungen bestärkten seinen Entschluss, den Kampf gegen ihre Akteure und Vertreter aufzunehmen. Und zwar mit den Mitteln der Kunst. Es gibt viele Bilder, die Baraka als dynamischen Kulturaktivisten darstellen, aber das eindringlichste zeigt ihn auf der Ladefläche eines Transporters in Harlem, wo er den Passanten an den Straßenecken Spoken Word und Theater nahe brachte. Inspiriert von Malcolm X und dem Marxismus gründete er zusammen mit Künstlern wie dem Autor Ishmael Reed und dem Saxophonisten, Dramatiker und Schauspieler Archie Shepp 1965 das Black Arts Repertory Theatre und das damit verbundene Black Arts Movement. Ihr Ziel war es, eine Plattform für die ganze Bandbreite schwarzer Kreativität zu bieten, von Lyrik bis Musik.

Geboren wurde Baraka 1934 als Everett Leroi Jones in Newark, New Jersey. Mit seinem Entschluss, nach seinem Übertritt zum Islam Mitte der 1960er-Jahre den Namen Imamu Amiri Baraka (die Worte für geistigen Führer, Prinz und Segen aus dem Swahili und dem Arabischen) demonstrierte er seine Hinwendung zu nicht-westlichen Religionen, und anders als eine Reihe seiner Zeitgenossen hielt er bis zu seinem Tode an diesem muslimischen Titel fest. Er war mehrsprachig und ausgesprochen produktiv: Seine Theaterstücke, wie etwa „Dutchman“, erhielten große Anerkennung. Den größten Einfluss übte er jedoch mit seinen kritischen Schriften aus, vor allem über Musik. In „Apple Cores“, seiner regelmäßigen Kolumne in der Zeitschrift„Down Beats”, pries er die Pioniere der Avantgarde und der New Music, die neue Pfade abseits des Bebop beschritten, darunter Albert Ayler, John Coltrane, Pharaoh Sanders, Cecil Taylor, Ornette Coleman, Bobby Bradford, Dennis Charles und Sunny Murray.

Baraka beleuchtete aber nicht nur die musikalische und politische Bedeutung der oben genannten Musiker, sondern er gewährte auch dringend notwendige Einblicke in die tiefgreifenden historischen Wurzeln der Pioniere schwarzer Musik. Sein Werk „Blues People“ ist noch heute ein grundlegender Text für jede*n Wissenschaftler*in, die*der den Jazz im Kontext der schwarzen Lebenserfahrung in Amerika erforschen will, bis hin zu Ahnenfolklore, ‚afrikanischen Überresten‘, der Kluft zwischen Stadt und Land sowie Klassenkonflikten. Nirgends fordert Barakas ökumenische Vision schwarzer Musik so sehr zum Nachdenken auf wie in dem Essay „The Changing Same“. Er stellt eine kontinuierliche Bewegung vom Blues, zu R&B und Avantgarde-Jazz fest und platzierte James Brown und Sun Ra in einen einzigen, lebendigen, ganzheitlichen Ausdrucksstrom. Für das Jahr 1966 war dies ein mutiger, wenn nicht sogar prophetischer Standpunkt.

Barakas Interesse an der populären Seite schwarzer Musik wurde mit der Zeit immer umfassender, und als ich ihm 2006 beim Calabash Book Festival in Jamaika zum ersten Mal begegnete, sprach er dort über die musikalische und politische Vorrangstellung des Reggae. Auf einer Party nach den Lesungen war er der erste, der sich zur Musik von Bob Marley und Jimmy Cliff in Bewegung setzte. Baraka spielte auch selbst Aufnahmen ein: Bei einer Zusammenarbeit mit dem New York Art Quartet im Jahr 1964 rezitierte er das surrealistische Bluesgedicht „Black Dada Nihilismus“ und bewies, dass er als Spoken Word-Künstler seine künstlerischen Neigungen zu den Beat Poets hinter sich gelassen hatte. „It’s Nation Time“, 1972 für die Motown-Tochter Black Forum aufgenommen, war eine glänzende Synthese aus afrozentrischen Texten, Soul und Free Jazz. In den darauffolgenden Jahren gab es weitere Sessions mit David Murray und William Parker, dessen „I Plan To Stay a Believer“ Baraka Gelegenheit zur Ehrung von Curtis Mayfield gab, seinem Lieblingsvertreter der Message Music.

Als diese CD im Jahr 2010 aufgenommen wurde, hatten bereits mehrere Generationen von Rappern und Autoren Baraka zu ihrem Wegbereiter erklärt. Sein Einfluss auf die Vordenker des Hip-Hop Mitte der 1970er-Jahre war groß und Barakas Zorn und Eindringlichkeit sowie sein Wunsch, die maßgebliche Frage „Who will survive America – Wer wird Amerika überleben“ zu stellen, hallt in den explosionsartigen Reimen von Public Enemy in den 1980er-Jahren nach. Saul Williams, Ursula Rucker, Greg Tate und Jessica Care Moore bedienten sich in den 1990er-Jahren großzügig bei Baraka. Zwar ist es richtig, dass Barakas Verachtung für eine kapitalistische Hausmacht, die noch immer ethnische Minderheiten benachteiligt, ein Hauptelement seines Wesens war, aber sein alles umschließender Blick auf die Kunst, der Grenzen zwischen den Disziplinen einstürzen lässt, ist sein wirklich großartiges Erbe. Man könnte sich keine aufregendere Verkörperung von Barakas unbezwingbarem Geist vorstellen als Heroes Are Gang Leaders, bestehend aus den Dichtern Thomas Sayers Ellis und Randall Norton und dem James Brandon Lewis Trio – eine kraftvolle, eigenwillige Größe in der zeitgenössischen Improvisationsmusik. Denn afrikanische Trommler und eine Brass Band aus New Orleans haben es bei seiner Beerdigung gezeigt: Dieser Geist steigt nicht ohne ein Lied hinab.