Improvisation zwischen den Welten

Jazzfest Berlin 2017 Amirtha Kidambi über ihr Verhältnis zur Karnatischen Musik und wie diese ihren Weg als Musikerin beeinflusst hat.

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Musik zuhause und in der Community

Die Karnatische Musik ist so eng mit meinem Leben verknüpft, dass ich ihren genauen Einfluss auf mein Musizieren und Improvisieren kaum ausmachen kann. Ich habe ihre Melodien mit allen Sinnen aufgenommen und ihre Rhythmen während meiner Ausbildung im Bharatanatyam, einer klassischen indischen Tanzform, buchstäblich verkörpert. Karnatische Musik ist die klassische Improvisationstradition des indischen Südens und unterscheidet sich stark von der nordindischen, hindustanischen Musik, die dem westlichen Publikum vielleicht eher vertraut ist. Ich hörte die Karnatische Musik im Auto auf dem Weg zur Schule oder zur Tanzstunde, und auch zuhause lief sie eigentlich ständig. Wir besuchten zahllose Arangetrams (Abschlusskonzerte) junger Künstler*innen und Auftritte von Meister*innen aus Indien in der Gegend um San Francisco. An jedem Wochenende nahmen wir als Familie an den religiösen Bhajan-Gesängen teil, dies war unsere Form von Gottesdienst. Die Familie meines Vaters folgte dem Universalismus des indischen Gurus Sai Baba (ebenfalls Guru der verstorbenen Alice Coltrane). Dieser predigte, dass alle Religionen lediglich unterschiedliche Wege zum selben Gott sind. Bhajans leiten sich von nord- und südindischen Ragas ab, die mit Folklore- und Klassikelementen vermischt werden. Der Gesang wird häufig vom Harmonium begleitet, das ich auch im Ensemble Elder Ones spiele. Der Klang des leiernden Harmoniums und die Ragas dieser Bhajans sind die Ur-Klänge meiner Kindheit. Die fantastischen Sänger*innen unserer Community regten mich zum Zuhören und Mitsingen an, und durch das Nachahmen ihrer Art zu Improvisieren, ihre Melodien und Kadenzen auszuschmücken und ihrer Phrasierung von typischen Rhythmen und Melodie, wurden sie Teil meiner musikalischen Prägung.

Traditionen in der Praxis verbinden

Ich habe die Karnatische Musik zwar nicht von früher Jugend an regelrecht erlernt, in diesem Sommer aber hatte ich endlich Gelegenheit zum intensiven Studium bei einem Guru in Indien. Oberflächlich betrachtet bestehen zwischen dem Erlernen der Improvisation im Jazz und in der Karnatischer Musik viele Ähnlichkeiten. In der Karnatischen Musik gibt es eine Reihe von „Standards“, viel gespielten und bekannten Stücken, die uns von den großen karnatischen Komponist*innen überliefert sind. In diesen Melodien gibt es mehrere vorkomponierte Improvisationen, die mündlich von den Komponist*innen an ihre Schüler*innen weitergegeben und so verbreitet wurden. Indem man die Strukturen dieser komponierten Improvisationen lernt, eignet man sich das nötige Werkzeug und Vokabular an, um später eigene Improvisationen auszuführen. Vergleichbar wäre dies mit der Methode, Soli zu transkribieren, um Muster zu lernen und den Ideen großer Musiker*innen zu folgen. In den Kompositionen sind außerdem an mehreren Stellen Improvisationen vorgesehen. Dort kann man entweder entlang der Melodie improvisieren oder sich freier innerhalb der Sprache des jeweiligen Raga bewegen. Der Raga ist ein einzigartiger Aspekt Karnatischer Musik und weitaus formaler und regulierter als jede melodische oder harmonische Improvisation im Jazz. Die Ragas selbst weisen eine bestimmte Art mikrotonaler Verzierung, oder Gamaka, auf, die einen ganz wesentlichen Teil ihres Charakters ausmachen. Die Noten sind auf vorgeschriebene Weise durch Oszillationen und Glissandi miteinander verbunden. Beim Erlernen der Improvisation darf man diese Oszillationen und Variationen der Tonlagen keinesfalls vernachlässigen, sonst verliert man das Wesen des Ragas, in dem man improvisiert.

Ein wichtiger Aspekt beim Erlernen von Improvisationen in der Karnatischen Musik ist die Imitation des Gurus, also des Lehrers oder der Lehrerin. Zunächst lernt man, was der Guru geschaffen hat. Wenn man einmal selbst Guru ist, baut man auf diesem Wissen auf und gibt es an die eigenen Schüler*innen weiter, und so fort. In der Karnatischen Musik, einer mündlich tradierten Form, ist die Beziehung zwischen Lehrer*in und Schüler*in enorm wichtig. Es wird viel auswendig gelernt und es ist nicht ungewöhnlich, ein Stück hundertmal zu spielen, ohne jede weitere Erklärung des Lehrers oder der Lehrerin. Im vergangenen Sommer verfolgte ich den Unterricht an der berühmten Musikschule Kalakshetra im indischen Chennai und machte eine aufschlussreiche Beobachtung: Während einer Geigenstunde mit zwei Schüler*innen brachte eine Lehrerin ihnen eine mikrotonale Gamaka bei, indem sie sie ihnen wieder und wieder vorspielte, ohne ein Wort zu sprechen. Die Schüler*innen wiederholten diese eine Geste ad infinitum. Es war fast unerträglich, zuzusehen. Diese Methode beruht auf dem Gedanken, dass die Schüler*innen das musikalische Element durch wiederholtes Hören und Nachahmen ganz in sich aufnehmen und so fest verankern, dass sie nicht weiter darüber nachdenken müssen. Wenn sie es dann später spielen und improvisieren, ist es bereits zum inhärenten Teil ihres Wesens geworden.

Eine weitere Parallele zwischen Jazz und Karnatischer Musik ist das Ensemblespiel. Kommunikation und Interaktion zwischen den Spieler*innen ist ein spannendes Element der Karnatischen Musik. Es gibt eine ganze Reihe bekannter und üblicher Formeln für die Improvisation unter den Musikern (den Mrindangam-Perkussionist*innen, Violonist*innen, Sänger*innen und anderen Solist*innen), so dass die Gruppenmitglieder oft schon ahnen, was die Stimmführer spielen werden und diesen Faden entweder weiterspinnen oder im Gleichklang mitspielen. Eine sehr ausgefeilte Version dieser Formeln ist Korvai, ein Konzept, das ich selbst noch nicht ganz begriffen habe. Es handelt sich dabei um eine lange, komplizierte rhythmische und melodische Passage voller additiver und subtraktiver Patterns. Alle Musiker*innen lernen jeweils verschiedene Versionen solcher Korvais und entwickeln darüber hinaus ihre eigenen. Am Ende eines großangelegten Improvisationsabschnitts beginnt die führende Stimme vielleicht ein Korvai, das der oder die Perkussionist*in sofort aufgreift und in das die übrigen melodischen Begleitstimmen dann einfügen. Ein spannender, spontaner Moment, der aus den durch häufiges Üben fest verankerten Mustern entsteht. Ich verwende – teils bewusst, teils unbewusst – viele dieser melodischen und rhythmischen Ideen in meinen eigenen Kompositionen. Es geht mir aber nie darum, ein Element der Karnatischen Musik exakt zu kopieren, aber ich habe bestimmte Klänge im Ohr, die ich sehr mag und die wie unordentliche Re-Interpretationen Eingang in meine Kompositionen und mein Spiel finden. Ich lege meine Kompositionen so offen wie möglich an, damit alle Musiker*innen Raum zur Improvisation finden. Darum versuche ich, nicht allzu viele Formeln, Muster oder Stoffe einzubauen, die ich aus anderen Kompositionen kenne, sondern verschiedene Stile und Ausdrucksweisen möglichst organisch zu kombinieren.

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Ein spiritueller und künstlerischer Rahmen für Kreativität

Der Improvisationsansatz in meiner eigenen Musik ist im Allgemeinen eher intuitiv. Ich höre viel Musik der großen Performer*innen und versuche, meinen eigenen Weg zwischen den reichen Traditionen des Jazz und meinem eigenen musikalischen und kulturellen Erbe zu finden. Meine Neigung zu Jazz und Improvisation geht zum großen Teil auf die Musik von John Coltrane zurück. Schon als ich „A Love Supreme“ zum ersten Mal hörte, stellte ich unmittelbar eine Verbindung zu bestimmten Aspekten indischer Musik fest: im Leiern des d-Moll-Pedals, in der Modalität, den selbstvergessenen Improvisationen und, natürlich, der spirituellen Qualität.

Die Karnatische Musik war ursprünglich als künstlerischer Ausdruck von Andacht und Spiritualität gedacht und in den Texten, oder Sahityam, geht es stets um eine der hinduistischen Gottheiten. Die drei Hauptkomponisten der Karnatischen Musik – auch ‚Dreifaltigkeit‘ genannt – sind Swami Thyagaraja, Swami Shyama Shyastri und Swami Dikshitar. Der Gebrauch des Worts ‚Swami‘ vor dem Eigennamen verleiht ihnen den Status der Heiligkeit. In langen Gesprächen über die notwendige Funktion der Improvisation in der Karnatischen Musik beschrieb mein Guru sie als eine Art der Gottesverehrung. Er sagte, dass wir durch das strenge, disziplinierte Studium der durch unsere Ahnen überlieferten Ragas und Kompositionen auf unendlich vielfältige Weise zu ihrer Verzierung und Improvisation beitragen und so aus jedem Raga einen noch schöneren, einzigartig individuellen Ausdruck unserer Hingabe an diese Gottheiten machen. Er beschrieb Improvisationen als Schmuck und Gabe an die Gottheit, ganz so, wie wir die Statue einer Gottheit mit Blumen verzieren und ihr Früchte und Süßigkeiten darbringen. Hier ist die Parallele zu Coltranes musikalischen Zielen im höheren Alter beinahe unheimlich präzise. Es ist unmöglich, „Psalm“ oder „Offering“ zu hören, ohne seine spirituelle Suche zu anzuerkennen. Nicht alle karnatischen Musiker*innen denken noch heute so: TM Krishna und andere begreifen ihre Entwicklung eher in Richtung einer Kunstmusik, auch wenn sie ihren spirituellen Ursprung durchaus noch würdigen.

Ich selbst verfolge mit der Improvisation zwar nicht unbedingt religiöse Ziele, aber ich sehe sie als spirituell an, denn ich begreife das Musizieren als eine Suche nach der Wahrheit. Unsere Welt ist kompliziert und hässlich, und die Musik zeigt uns einen Weg durch den Lärm, hin zum Kern der Dinge. Die hinduistische Philosophie besagt, dass zur Erkenntnis universeller Wahrheiten das Ego oder das Selbst zerstört werden müssen. Eine dieser Wahrheiten betrifft die Verbindung und Universalität aller Dinge. Wenn wir uns auf eine innere Suche begeben, können wir anfangen, uns von unserem Ego zu verabschieden und uns stärker mit dem Universum zu vereinen. Die Musik ist eine dieser Möglichkeiten, das Ego zu zerstören. Auf der Bühne findet eine merkwürdige Trennung zwischen Bewusstsein und Selbst statt. Ich würde nicht sagen, dass ich die Erleuchtung erreicht habe, aber wenn ich singe und improvisiere, habe ich gelegentlich eine Ahnung von etwas Überirdischem.

Im Rahmen des Jazzfest Berlin 2017 spielen Amirtha Kidambi & Elder Ones / Steve Lehman & Sélébéyone am Mittwoch, 1. November 2017 um 20:00 Uhr im Lido.

Dieser Essay ist im Magazin zum Jazzfest Berlin 2017 erschienen, weitere Essays sind auf dem Berliner Festspiele Blog nachzulesen.

Autorin: Amirtha Kidambi, Übersetzung: Elena Krüskemper
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