Von innen Gegenrede leisten

MaerzMusik 2018 Das Festival für Zeitfragen setzt einen Schwerpunkt auf das vielschichtige Werk der*des Transgender-Künstler*in Terre Thaemlitz. Ein Portrait von Dennis Pohl

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Terre Thaemlitz
Terre Thaemlitz

Foto: Ruthie Singer

Der erfreulichste Tag der letzten Legislaturperiode? Der 07. Juli 2017, keine Frage. Damals billigte der Bundesrat die zuvor beschlossene sogenannte Ehe für Alle – mit einer beinahe einstimmigen Mehrheit. Eine logische, seit Jahren überfällige Entscheidung, klar. Von einem historischen Tag für sich und seinen Lebenspartner sprach dementsprechend etwa Berlins Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke).

Zwei Tage später reibt sich in Athen ein Haufen nackter Körper aneinander. Dazu hämmern übersteuerte Klavierklänge, eine beinahe mechanische Dringlichkeit liegt in der Luft, irgendwo zwischen körperlichem Fordismus und rationalisierter Pornoindustrie. Der Mensch als triebgesteuertes Wesen, Liebe als Illusion, Zweisamkeit als Hürde, alles völlig wertfrei. „Diebusiness culturehat verstanden, dass es auf sexuelle Dinge nicht mehr ankommt“, schreibt Terre Thaemlitz zu ihrem Werk. „Wenn gesellschaftliche Zielvorstellungen wie Privatvermögen, ein Ganztagsjob, Schulden, finanzierte Eigenheime, Familie und Militärdienst in der Breite weiterverfolgt werden.“ Es ist eine audiovisuelle Gegenrede einer radikalen Gegenkünstlerin.

„Deproduction“ heißt die Arbeit, die an diesem Tag im Rahmen der 14. documenta Premiere feierte. Mit ziemlich genau 90 Minuten Länge ist sie eine Art Album nach dem Tod des Albumformats – und Thaemlitz’ eindringliches Plädoyer dagegen, dass angesichts von Fortschritten wie der Ehe für Alle alles in Ordnung ist. Oder besser: dafür, dass grundsätzlich überhaupt nichts in Ordnung ist. Sondern weiter kritische Fragen gestellt werden müssen: Höhlt die queere Szene durch die Aneignung solcher tradierter Lebensentwürfe nicht das subversive Potenzial des Körpers aus? Und woher rührt die Fixierung auf die Familie überhaupt? Ist die Familie für alle ein Fortschritt? Oder macht sie uns am Ende alle unfreier? Und wer profitiert davon? Womöglich der Staat, der eigentlich nur Sozialleistungen zurückfahren will? Dinge eben, mit denen sich die wenigsten beschäftigen möchten, gerade in der oft an der Grenze zum betriebsblinden Hedonismus operierenden Dance-Music-Szene.

Tatsächlich ist Thaemlitz in jeder Hinsicht eine Besonderheit in der Musikwelt. Man könnte seine Arbeit leicht auf zwei Worte verkürzen: nein und aber. Gemeinhin akzeptierten Denkmustern traut die Amerikanerin mit Wohnsitz im japanischen Kawasaki nicht über den Weg. Sie sieht in ihnen vielmehr selbst geschaffene, trügerisch bequeme Hindernisse auf dem Weg zu Freiheit und Wahrheit – wenn es so etwas denn überhaupt gibt, versteht sich. Als überzeugter Nihilist hinterfragt er seit über 20 Jahren konsequent das gesellschaftliche Narrativ von Liebe, Hoffnung, Produktivität und Fortpflanzung. Selbstverwirklichung? Für Thaemlitz bloß ein anderes Wort für die Fügung in kapitalistische Wertschöpfungsketten. Die Zukunft? Lenkt nur von der Unfreiheit in der Gegenwart ab. Sex? Bringt so viel Aufwand, Gewalt und Unterdrückungsmöglichkeiten mit sich, dass man am besten gleich damit aufhört. Und die Menschheit? Ein schrecklicher Haufen, unverbesserlich.

Die Keimzelle dieses radikal kritischen Denkens liegt in einer 285.068-Einwohner-Stadt im mittleren Westen. 1968 wird Terre Thaemlitz in St. Paul, Minnesota geboren – und im Alter von zwei Jahren von ihren Eltern in eine musikalische Früherziehung gesteckt. Doch weder mit der Geige noch mit anderen Instrumenten kann er etwas anfangen. Trotzdem muss er bleiben, bis er 13 ist: „Das hat meine tiefe Ablehnung gegenüber institutionalisierter Musik begründet“, sagt sie heute über diese Zeit. „Es war meine anti-musikalische Ausbildung.“ Gleichzeitig beginnt Thaemlitz zu spüren, dass er anders ist als die anderen Teenager. Egal ob sie sich als Junge oder Mädchen versteht, er fühlt sich stets wie in einem schlecht sitzenden Kostüm. Doch wem sollte man das im spießbürgerlichen Vorort erzählen?

Geeignete Gesprächspartner findet sie erst nach einem Umzug nach Springfield, Missouri – hauptsächlich in der Musik der New-Wave-Band Devo, deren Name für „De-Evolution” steht und die in einer Art Band-Grundgesetz behauptet, dass die Menschheit keiner Evolution mehr unterliege, sondern sich vielmehr im Laufe der Zeit zurückentwickle. „Was Devo von anderen Bands unterschied, war, dass sie sich damit beschäftigten, was es bedeutete in der Gegenwart ein Außenseiter zu sein“, erinnert er sich. Andere Bands hätten dagegen immer für eine Zukunft geworben, in der alles besser sein könnte – wenn man hart genug arbeite, sich Dinge trauen würde oder sich nur selbst akzeptiere. Für Thaemlitz schon damals ein sinnloser Glaubenssatz. Und rückblickend der Grundstein ihrer künstlerischen Entwicklung.

Denn egal, in welcher Form er nach seinem Umzug ins New Yorker East Village im Jahr 1986 künstlerisch tätig war, ob als Deep-House-Produzentin DJ Sprinkles (für Thaemlitz übrigens, wenn man denn wirklich diesen Präfix verwenden müsse, ein „Er“), als Autor, als avantgardistische elektroakustische Komponistin oder Piano-Solist: ihre Kunst war stets bloß Vehikel für Wichtigeres: „Was ich tue, ist aufzuzeigen, warum die Welt am Arsch ist“, sagte sie selbst einmal. Dass es dafür genügend Gründe gibt, ist selbstverständlich. Im Laufe von mittlerweile 21 Alben und mehreren tausend Seiten Begleitwerk hat Thaemlitz aus seiner Kritik an der Gegenwart ein dichtes Netz aus Abhandlungen über die Probleme unserer Zeit gestrickt – in dem jeder Teil weniger Genussprodukt ist als vertonte Waffe gegen alltägliche Gleichgültigkeit.

Ihr 1995 erschienenes Album „Soil“ etwa befasste sich mit häuslicher Gewalt, das legendäre DJ-Sprinkles-Album „Midtown 120 Blues“ mit der aufrührerischen Kraft der House-Szene der 80er und frühen 90er und „Soullessness“ von 2012 mit Religion und Spiritualität als repressive Mechaniken der Macht sowie den problematischen Distributions- und Produktionspraktiken der Musikwelt. Dazwischen immer wieder ein Leitmotiv: ihr Einsatz in verschiedenen AIDS-Hilfegruppen und ihr stetiges Wirken für Frauen- und Queer-Rechte – und sämtlichen sozioökonomischen Implikationen dazwischen. Details? Würden den Server dieser Seite überfordern. Und wären für Thaemlitz selbst vollkommen zweitrangig.

Fragt man Thaemlitz jedoch danach, warum er ausgerechnet die Musik als Grundlage seiner Arbeit gewählt habe, erntet man: ein Nein und ein Aber. Musik sei eigentlich überhaupt nicht für solche Dinge geeignet, sagt sie. Und am Ende interessiere sie auch nur die Industrie dahinter. Die sei nämlich noch verbohrter als die Kunstwelt: „Ich begeisterte mich vor allem dafür, weil ich das Gefühl hatte, dass in der Musik eine kritische Diskussionskultur am dringendsten benötigt wurde“, sagt er. Das habe sich nicht geändert: „Ich arbeite weiterhin in der Musikwelt, weil sie so verdammt reaktionär ist.“ Irgendjemand müsse ja von innen Gegenrede leisten.

Folgende Veranstaltungen mit Werken von Terre Thaemlitz finden bei MaerzMusik – Festival für Zeitfragen statt: Die 30-stündige Live-Performance „Soulnessless in Five Cantos“ im Gropius Bau, die am 17. März 2018 um 15:00 Uhr beginnt und am 18. März 2018 um 21:00 Uhr endet. An dieses Ereignis schließt unmittelbar am 18. März 2018 um 21:00 Uhr das DJ Set „Deeperama“ mit DJ Sprinkles an, ebenfalls im Gropius Bau . Das Ensemble zeitkratzer wird „Deproduction“ am 19. März 2018 um 22:00 Uhr im Haus der Berliner Festspiele aufführen. Und am 21. März 2018 um 20:00 Uhr wird Terre Thaemlitz „Lovebomb / Ai No Bakudan“ realisieren. Außerdem wird Terre Thaemlitz auch bei der Thinking Together Konferenz präsent sein, und zwar am 18. März 2018 um 15:00 Uhr mit dem Vortrag „Secrecy Wave Manifesto“.

Autor: Dennis Pohl
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