Eine vierte Person

Weltumspannendes Erzählen In dem Roman des somalischen Romanciers Nuruddin Farah "Duniyas Gaben" erzählt eine Geschichte sich selbst

Ein Schmetterling, ein Vogel, eine Libelle. In Duniyas Träumen künden sie die Ereignisse an. Als wären Träume und Ahnungen Vorzimmer des Lebens, die einen Vorgeschmack geben von dem, was kommt. Eine Geschichte wird geboren heißt der erste Teil des Romans.

Es ist die Entbindungsschwester Duniya aus Mogadischu, die schwanger geht mit dieser Geschichte: in der ein Findelkind auftaucht, für das Duniya, die mit ihren beiden halbwüchsigen Kindern Mataan und Nasiiba wohnt, die Verantwortung übernimmt; in der Bosaaso, ein entfernter Bekannter, urplötzlich ihr Liebster ist. "Duniya dachte, dass die Ehe einer Wohnung glich, in der sie schon zweimal gewesen war, aber Liebe war ein Palast, in den sie bis jetzt noch nicht die Gelegenheit gehabt hatte, einen Fuß zu setzen. Wenn das, was zwischen ihr und Bosaaso ablief, der Anfang einer langen Werbung war, die schließlich zu solch einem vielzimmrigen Herrschaftssitz führen würde, dann möge es so sein. Bislang hatte sie nur flüchtige Blicke davon erhascht - in einem Rückspiegel in den Augen eines Fahrers, der kein Taxifahrer war. Davor hatte sie Anzeichen gesehen, in einem Traum von so flirrender Gestalt wie ein Schmetterling im Zickzackflug."

Duniyas Gaben ist ein Buch der Geschichten. Viele kleine Geschichten lagern sich um die eine große - die von Duniya, Bosaaso, und Duniyas Kindern; sie umhüllen sie wie Schichten, reichern sie an, bis aus vielen Einfachheiten jene Komplexität entsteht, die das Leben ist. Alltag ist ein Spektrum an Geschichten, und dort, wo Duniya der Schnittpunkt bestimmter Geschichten ist, ist ihr Alltag. Bevor Duniya dem Taxifahrer Bosaaso (der kein Taxifahrer ist) begegnet, den sie schon vorher kannte, hat eine Ahnung ihr gesagt, dass Bosaaso nun zu ihrem Leben gehören würde. Drum war an diesem Morgen, an dem das Buch einsetzte, auch in ihrer Arbeit in Dr. Mires Entbindungsklinik alles schief gegangen: Andere Vorgänge verlangten ihre Aufmerksamkeit. Duniya, die dem zum Leben verhilft, was geboren werden will, ahnt eine Liebe voraus, eine neue Fürsorge, eine ganze Verwandlung. Von dieser Verwandlung erzählt das Buch; sie manifestiert sich in so unspektakulären Dingen des Alltags wie einem Familienstreit, einer Wohnungskündigung und einem lange erwarteten Besuch. Aber genau davon scheint Farah erzählen zu wollen; dass alles Alltägliche auch symbolisch zu lesen ist. Wenn irgendwo, dann verbirgt sich hier die geistige Substanz eines Lebens.

Farah hat die erstaunliche und bei uns so nicht gekannte Fähigkeit, auch ein Spektrum an verschiedenen Sprachen zu entfalten; von der magischen Sprache der Geschichten und Träume über die durch verschiedenste Figuren verlebendigte Erzählsprache bis hin zu der nachrichtlichen, aufs Faktische reduzierten Zeitungssprache, in der zum Ende jedes Kapitels jener kühle Blick des Weltinteresses - oder Desinteresses - auf Afrika zitiert wird.

Duniyas Gaben heißt im (1993 erschienenen) Original Gifts. Das Geben ist ein Hauptthema des Buches, und es kommen vom freien, selbstverständlichen Geben bis zum hochmütigen, mitleidigen Geben, wie es die reichen Länder gegenüber den armen afrikanischen praktizieren, alle Varianten vor. Als Bosaaso eine Schwägerin abweist, die zum wiederholten Mal ihre Rechnungen von ihm bezahlt haben will, reflektiert Duniya, die die Szene zufällig miterlebt: "Es herrschte Schweigen ... Es schien so, als hätte sich ihnen eine vierte Person angeschlossen. Spannung war die vierte Person in der Küche, omnipräsent, erlaubte niemandem, still zu sitzen. Das war keine Angelegenheit zwischen Gleichrangigen, die sich einen Showdown lieferten, dachte Duniya ... Das glich eher einer europäischen oder amerikanischen Spenderregierung, die eine ›offene Aussprache‹ (so die Allzweckphrase, die im offiziellen Protokoll auftauchen würde) mit Vertretern eines afrikanischen Landes hat, worin den letzteren gesagt wird, dass sie in der Zahl der Mercedesse und ähnlicher Extravaganzen unbescheiden seien ...".

Duniyas Gaben ist ein Buch, so kämpferisch und klug, so kritisch und frohgemut wie Duniya selbst. Was Duniya - auf völlig unangestrengte Art - leistet, leistet auch der Roman: Eine Seelen- und eine Welterkundung, die die in unseren gesellschaftlichen Breiten so übliche Trennung zwischen "politisch" und "privat" schlicht vergessen lässt, weil es sie in Farahs Kosmos nicht gibt. Das Leben einer Duniya ("Sie war eine Frau, die sich all den Widersprüchlichkeiten des Lebens zu fügen wusste, ohne dabei irrsinnig zu werden.") wird von den Resten einer morgendlichen Traumstimmung ebenso bestimmt wie von den vielen Alltagspflichten gegenüber Kindern und Beruf; von der Verletzbarkeit einer Verliebten ebenso wie vom selbstbewussten Stolz einer autonomen Frau in einer Männerwelt; von der Verwurzelung in der tiefen traditionellen Verbundenheit zur Familie ebenso wie vom Pragmatismus einer modernen Alleinerziehenden, die mit den verschiedenen Vätern ihrer Kinder so selbstverständlich umzugehen weiß wie mit der charmant daherkommenden sensationellen Frechheit ihrer Tochter.

Duniya: in diesem Sinne eine visionäre Gestalt in einem visionären Buch. Vollkommen - nicht im Sinne von Perfektheit, sondern von geistiger Weite. Ein fabulierendes Buch und ein Buch über das Fabulieren; eine Information über Leben im modernen Somalia; eine Erörterung über die Thematik des Gebens; ein Hoheslied auf die unterschwelligen Ebenen menschlichen Wissens: des Träumens, Ahnens, Phantasierens. "Offenbarungen kommen aus einem Nebel des Zweifelns, in Höhlen, im Dunkeln, aus Kindermund oder über die Äußerungen einer älteren oder verrückten Person. Sie entschied, dass ihre eigene Epiphanie zu jenem Zeitpunkt an einem Morgen stattgefunden hatte, als eine Geschichte entschieden hatte, sich ihr zu erzählen, sich durch sie zu erzählen ..."

Nicht von ungefähr bedeutet arabisch "Duniya": "die Welt". Mit seiner Duniya und dem "Universum ihrer Phantasie" ist Nuruddin Farah ein weltumspannendes Erzählen gelungen, von dem man in unserer Ersten Welt meist nur träumen kann.

Nuruddin Farah:Duniyas Gaben. Roman. Aus dem Englischen von Klaus Pemsel. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2001, 358 S., 49,80 DM

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