Gewebe

Short-Cuts Erzählungen von Christina Chiu

Als sie die Sachen aus dem Supermarkt im Auto verstaut hat und den Wagen zurücksetzen will, sieht sie im Rückspiegel die hochschwangere Frau, mit der sie an der Kasse ins Gespräch gekommen ist. "Ein Teil von mir hätte sie gern überrollt, das Bollern ausgekostet, wenn sie unter die Räder geriete." Derselbe Teil von Mrs. Sheng-Stevenson hätte auch gern gesehen, wenn die Nachbarstochter Laurel Tung, in derselben Klasse wie ihre Tochter Sarah, an ihrer Magersucht gestorben wäre. Zehn Jahre ist es her, dass Sarah, leidenschaftlich und hübsch und im Begriff, ins Leben hinauszugehen, sich erschossen hat, und nun gibt es keine Minute mehr, in der man frei wäre und keinen Ort mehr, an den man sich wohlfühlen könnte. Keine Möglichkeit mehr, bei sich selbst zuhause zu sein.

Sie wirken zufällig aneinander gereiht, diese Geschichten. Aber weder sind es Geschichten noch ist es der Zufall, der hier regiert; ganz im Gegenteil erscheint es in tiefem Sinne passend, dass zwei Texte über zwei grundverschiedene Mädchen, die doch beide dem Tod nahe sind, das Buch eröffnen und beschließen. Laurel, die sich so fühlt wie Sarah es ihr an den Kopf wirft: als "ein dickes, fettes Nichts", und Sarah, die sich um die Rolle der Julia bewirbt und einen Freund hat und von Laurel beneidet wird. Dass dann doch sie es ist, die mit dem Sterben ernst macht, erfährt man erst ganz am Schluss des Buches, und wenn man gar nicht auf die Idee kommt, "warum" zu fragen, dann hat dies mit Christina Chius Bild vom Leben zu tun, das unausgesprochen hinter allem Erzählten sichtbar wird: Das Bild von etwas, das unerwartet auftaucht und sich so unerwartet wieder entzieht, ewig überraschend, unzuverlässig, unergründlich. Warum hat sie sich umgebracht: Es sind Ahnungen, die einen streifen; Stimmungen; ein paar wenige der unzureichenden Bruchstücke, die man jeweils in der Hand hält, wenn man einen anderen verstehen will; nichts, gemessen an dem, was ist und was wirklich entscheidet. Genau so, wie es der Satz von Albert Einstein sagt, den Chiu ihrem Text voran gestellt hat: "Etwas tief Verborgenes musste hinter den Dingen sein."

Natürlich werden sie als "Short Cuts" verkauft und beworben: Auf welche Texte sonst träfe das Etikett so gut zu wie auf diese elf 20 bis 30 Seiten langen dichten Geschichten, die, jede für sich, die Leserin übergangslos hineinstürzen lassen in das Gewebe einer bestimmten Situation, eines Beziehungsgeschehens, eines kurzen Zeitabschnitts in jemandes Leben. Ein Abendessen. Die Verabredung von ein paar Verwandten. Eine alte Frau, die dem Grabstein ihres Mannes ihr jetziges Leben erzählt. Exakte Alltagsszenarios, in bester amerikanischer Tradition hautnah am konkreten Geschehen entlang und doch unerzählt das erzählend, was hinter dem Konkreten liegt. In jener Kunst, die Raymond Carver meisterlich beherrscht, dessen Geschichten nicht von ungefähr Vorbilder für Robert Altmans Short Cuts abgaben; in dieser Kunst besteht Christina Chiu, Tochter chinesischer Einwanderer in New York, die als Literaturredakteurin in New York lebt, mit ihrem Buch Troublemakers and Other Saints durchaus.

Um so mehr, als jede einzelne Geschichte auch als Kapitel eines Romans anzusehen ist; eines Romans um eine chinesische Einwandererfamilie in Amerika, deren verschiedene Mitglieder - aus drei Generationen - erzählen: In jedem Kapitel ändern sich Perspektive und situativer Kontext und wir finden irgendwann irgendwo versteckt einen alten Bekannten aus dem vorvorigen Kapitel, auf den plötzlich ein ganz neues, anderes Licht fällt. Ein immer wieder angewandtes reizvolles Verfahren, das sich gerade für ein Christina Chiu zentral wichtiges Thema, das Erzählen der Kluft zwischen den Generationen, gut eignet. Chiu wendet sich vor allem und am differenziertesten den Jungen zu, die Älteren sind tendenziell die verwirrten Verlierer, die mit dem vielfachen Verlust von Jugend, kultureller Identität und nun noch den eigenen Kindern nicht zurecht kommen.

Die Geschichten um Laurel und Sarah umrahmen das Innere des "Romans" wie zwei Außenränder, einer links, einer rechts, die den Eingang zur Familie Wong flankieren. Zwei Außenseiter, die sichtbar aus der sozialen Integration fallen, die auffallend geworden sind und daran erinnern, dass auch in der Jugend schon der Tod steckt. Vom Tod umrahmt, sind diese Geschichten dennoch nicht traurig; sie sind viel zu konkret und augenblicksverhaftet, um melancholisch zu sein. Sie sind wirklich, so wie es wirklich ist, dass der Tod das Leben einrahmt; sie sind gut.

Christina Chiu: Schwarze Schafe und andere Heilige. Aus dem Englischen von Angela Praesent. Dumont, Köln, 2002, 300 S., 19,90 EUR

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