120 von Özhan Eren

Kino Ende Februar, die türkische Armee war seit vier Tagen gegen Stellungen der kurdischen PKK im Nordirak vorgegangen, protestierte die türkische ...

Ende Februar, die türkische Armee war seit vier Tagen gegen Stellungen der kurdischen PKK im Nordirak vorgegangen, protestierte die türkische Schlager-Diva Bülent Ersoy in der populären Musiksendung Popstar Alaturka, einer Art Die Türkei sucht den Superstar. "Für diesen Krieg würde ich mein Kind nicht unter die Erde schicken", sagte die Jurorin Ersoy und erntete dafür in ihrem polarisierten Land außer Zustimmung scharfe Kritik und polemische Angriffe. Ko-Jurorin Ebru Gündes konterte in der Sendung: "So Gott will, schenkt er mir einen Jungen, den schicke ich dann zum Militär. Für dieses Land wird er kämpfen wie ein Löwe."

Für Türken, die sich eher von Gündes vertreten fühlen, bringt der - von Deutschen ohne jeden Migrationshintergrund geführte - Kinostar-Filmverleih ein Nationalepos ins Kino: 120 erzählt die Geschichte von 120 Kindern aus dem osttürkischen Van, die sich im Januar 1915 auf den Weg durch das schier unüberwindliche Gebirge Richtung Osten begeben, um die dort stationierten Truppen der Osmanischen Armee mit Nachschub zu versehen. Russland hatte das Osmanische Reich angegriffen, womit auch die Tasnaken ihre Chance zur Sabotage wittern - Angehörige der 1890 gegründeten Dashnaktsutiun, kurz Dashnak, der Armenischen Revolutionären Föderation, die mit Unterstützung des Zarenreichs das Osmanische Reich destabilisieren wollten.

120 beginnt mit dem Mord der Dashnak an einem armenischstämmigen Arzt, weil der auch Türken behandelte - ein politischer Mord, wie er tatsächlich zur Praxis der Untergrundorganisation gehörte. Die Türken in Van wiederum beobachten, wie große Teile der armenischen Gemeinde im Vorfeld des 1. Weltkriegs ihre Stadt verlassen: "Die Guten der Armenier, die mit den Aufständischen nichts zu tun haben, sie gehen." 1915, das Jahr, in dem der Film von Özhan Eren (Regie) und Murat Saracoglu (Drehbuch) spielt, kam es in Van zu einem Massaker an 100.000 Armeniern - folgt man 120 wohl vor allem "Aufständische".

Die derartige Bagatellisierung der Massaker an den Armeniern als quasi kriegsnotwendige Maßnahme ist eher nebensächlich. Vor allem geht es den Filmemachern um eine Bejahung der Frage, ob es das Leben von Kindern wert ist, für das Vaterland geopfert zu werden. Dabei arbeiten sie mit Pathos. Die Haltung zu den Armeniern ist bei den Türken zunächst eher indifferent, das Leben sorglos. Mit Ausbruch des Krieges steigert sich die Spannung in der Stadt. Als das hilflose Telegramm der Garnison mit der Nachfrage nach Munitionslieferungen eintrifft, entscheiden die Stadtältesten nach langer Beratung, ihre Kinder in die Berge zu schicken. "Löwen" heißen sie auch hier, so genannt vom Soldaten Musa, der als Kommandant des Trupps fungiert und zunächst wie ein Sportlehrer auf Wandertag wirkt.

Doch nachdem die Pflicht erfüllt ist, kippt die Stimmung. Auf dem Rückweg wird die Gruppe von einem Schneesturm überrascht, von 120 Kindern kehren nur 40 zurück, Musa stirbt - mit der türkischen Fahne in der Hand - den Kältetod. Heroische Posen, die von pathetischer Musik untermalt werden wie das Leiden der Mütter, die sich von Beginn an mit düsteren Vorahnungen herumplagen. Am Ende überleben nur 22 Kinder, die Kamera schwenkt von den Gräbern auf eine übergroße türkische Fahne, zu der eine Stimme aus dem Off denjenigen dankt, die ihr Leben für das Vaterland gelassen haben.

Die nationale Selbstvergewisserung in 120 hat Aktualitätsbezug. "Und wenn das Schicksal seinen Tod will, dann sei es so", urteilte Gündes in der eingangs erwähnten Sendung über den Sohn, den sie nicht hat, aber zur Armee schicken würde. 120 exportiert die patriotische Rhetorik des Jahres 1914 in die Gegenwart, in der es immer noch heißt: "Jeder Türke ist als Soldat geboren." In Deutschland startet der Film am 8. Mai. Mehr Zynismus geht kaum.

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