Das türkische Kino wird vom deutschen Feuilleton nur in Form von global kursierenden Festivaldarlings wahrgenommen. Durch Filme also wie den Berlinale-Gewinner Bal – Honig von Semih Kaplanoğlu (2010), den Cannes-Gewinner Winterschlaf von Nuri Bilge Ceylan (2014) oder die Ende nächsten Monats startende, für den Auslands-Oscar nominierte Koproduktion Mustang von Deniz Gamze Ergüven. Darüber hinaus gibt es publizistische Aufmerksamkeit hier lediglich als Belächeln oder Empörung – wenn eine neue Folge der komischen Recep Ivedik-Reihe oder ein Kino-Sequel des nationalistischen Reißers Tal der Wölfe in die deutschen Kinos kommt. Demzufolge bestünde das türkische Kino neben der Filmkunst entweder aus plumpen Witzen und dem de
Filmkunst entweder aus plumpen Witzen und dem derben Lachen des nie erwachsenen Machos, der mit der modernen Gesellschaft von veganer Teestube bis zu Adventure-Quiz nicht zurechtkommen möchte, oder aus antisemitisch kodiertem Gewalt-Kino.Zwischen rüpelhafter Burleske und nationalistischer Action geht im türkischen Kommerzkino allerdings einiges. Es macht die Facetten einer vielschichtigen Gesellschaft sichtbar und ist auch in Deutschland zu sehen: In den Herbst- und Wintermonaten startet in den hiesigen Multiplexen beinahe jede Woche eine neue Großproduktion aus der Türkei.Der Marktanteil einheimischer Produktionen beträgt in der Türkei 58 Prozent (in Deutschland machen deutsche Filme eher ein Viertel denn ein Drittel des Gesamtgeschäfts aus), 2014 gingen dort 61,5 Millionen Kinotickets über den Tresen und sorgten für einen Umsatz von 225 Millionen Euro. Mit knapp über 100 produzierten Spielfilmen pro Jahr ist die Türkei ein boomendes Kino-Land. Dazu leistet der Erfolg von Soap Operas, die in die arabische Welt und nach Asien exportiert werden, einen großen Beitrag. 2012 wurden mehr als 70 türkische Soaps in 39 Länder verkauft. Mit Folgen für die türkische Branche, die, anders als die abgeschotteten Zirkel der europäischen Filmwirtschaft, jungen Filmemachern schnelle Aufstiegschancen bietet.Hodschas mit SpürsinnTV-Schnulzen wie Aşk-ı Memnu (Verbotene Liebe) oder Öyle bir geçer zamanki (So schnell vergeht die Zeit), in denen es zumeist um Liebe und Eifersucht zwischen schönen Menschen in großen Wohnungen geht, fordern mit ihren romantisierenden Beziehungsidealen durchaus traditionelle Geschlechterrollen heraus. Sicher keine Highlights des Emanzipatorischen, verhalten sich diese Produktion aber kritisch zu verstaubten Ehrbegriffen und Rollenmustern und dienen damit als Vorbild für Spielfilme wie Aşk Sana Benzer (Die Liebe gleicht dir) oder Delibal, in denen Mann und Frau miteinander debattieren und der Macho auch mal Schwäche zeigen darf. Mit 1,9 Millionen Zuschauern in der Türkei besonders erfolgreich war Kocan Kadar Konuş (Der Ehemann-Faktor) – vor Kurzem startete ein Sequel in Deutschland: eine romantische Komödie, die echte Liebe gegen gesellschaftliche Konventionen positioniert und matriarchal vermittelte Machtspiele und Standesdünkel mit hohem production value aufs Korn nimmt.Placeholder infobox-1Derartige Filme, angesiedelt zwischen urbanem Alltag und Beziehungsmärchen, sind relativ neu unter den Genres, die die beiden Verleiher Kinostar und AF-Media als türkisches Mainstream-Kino auf westeuropäische Diaspora-Märkte exportieren. In diesem Kino kann man viel über die Herausforderungen für das moderne türkische Leben lernen. Die Blockbuster spiegeln von neo-osmanischer Großmannssucht à la Fetih 1453 (Eroberung 1453) über religiöse Erweckungsszenarien wie Selam: Bahara Yolculuk (Selam: die Reise zum Frühling) bis zu nachdenklichen Politdramen das gesamte Spektrum einer Gesellschaft wider, die politisch tief gespalten ist.So ist beeindruckend, wenn nach dem letzten Filmbild von Madimak – Carinas Tagebuch über das Massaker, das 1993 von religiösen Eiferern an 35 alevitischen Intellektuellen verübt wurde, das Publikum in tiefer Trauer bis zum letzten Namen im Abspann sitzen bleibt. Oder wenn ganze Familien über die Anspielungen auf korrupte Provinzpolitiker und vorteilsnehmende Polizisten in einer der Komödien lachen. Jedes ideologische und habituelle Genre des zeitgenössischen türkischen Kinos findet in Deutschland sein originäres, segregiertes Zielpublikum.Die aktuelle Kinosaison wurde im Herbst traditionell mit dem neuesten, inzwischen sechsten Teil der Paranormal Activity/Blair Witch Project-Variation Dabbe eröffnet, die ein islamisches Horror-Subgenre begründet hat. Darin agieren Hodschas mit kriminalistischem Spürsinn und den Koran zitierend zwischen striktem Horror und augenzwinkerndem Hokuspokus.Weniger pointiert geht es zur Zeit leider in den burlesken Komödien zu, die in den letzten Jahren Sternstunden der Klamotte wie Yapişık Kardeşler (Siamesische Zwillinge) hervorgebracht haben, in der – an den religiösen Sittenwächtern vorbei – die Protagonisten in der Großstadt wider Willen als Männerstripper endeten und in ihrem Heimatdorf versehentlich den Imam vom Minarett stießen. Aktuell geht subversiver Charme eher von Geschichten über den „kleinen Mann“ aus, der sich, zuweilen testosteronübersteuert, im Kampf gegen die allgegenwärtige Gentrifizierung und die Übermacht der eigenen Mutter aufreibt. Geschichten, die leider ins Alberne abkippen. Selbst Star-Comedian Cem Yilmaz arrangiert seine Indiana Jones/James Bond-Persiflage Ali Baba ve 7 Cüceler (Ali Baba und die 7 Zwerge) über zwei türkische Gartenzwerghändler, die in die Fänge der bulgarischen Russenmafia geraten, bestenfalls als Gänsemarsch der Possen.Mit dem Star-Potenzial seines tollpatschigen Helden spielt der Familienschwank Dedemin Fişi, der nach dem Start am letzten Freitag in der Türkei in dieser Woche in die deutschen Kinos kommt. Und in dem Alper Kul eine Hauptrolle hat, der Anti-Held der Temel-Filme, jener Komödien, deren Pointen über die Schwarzmeerküstenbewohner mit dem deutschen Ostfriesenwitz vergleichbar sind. Osman Pazarlama, der neue Film mit Şahan Gökbakar aus der eingangs genannten Recep vedik-Reihe, kommt parallel zum türkischen Start am 18. Februar heraus.Diese Programmierungspolitik zielt darauf, von der Aufmerksamkeit in der türkischsprachigen Presse zu profitieren. Pressevorführungen oder Screener für deutsche Journalisten gibt es nicht; aus Angst vor Piraterie und weil die populären Stars ihr Publikum automatisch generieren. Wie sonst nur bei Til-Schweiger-Filmen muss der interessierte Kritiker am Erstaufführungstag ins Kino gehen, wo er es, wie ich im Berliner Cineplexx Neukölln, allerdings schnell zur Bekanntheit beim Personal bringen kann – als „einer von den zwei Deutschen, die sich die türkischen Filme ansehen“. Eine miese Quote für eine Gesellschaft, die sich in ihrer Begeisterung fürs Interkulturelle gefällt.