Das türkische Kino boomt noch immer. Vor Kurzem erreichte Recep Ivedik! (Beeil dich!), eine Klamotte im Ballermann-Stil, innerhalb von drei Wochen dreieinhalb Millionen Zuschauer. Das ist der momentane Box-Office-Rekord einer Entwicklung, die vor einigen Jahren mit Filmen wie der warmherzigen Gauklerkomödie Hokkabaz und dem melancholischen Babam ve Oglu (Mein Vater und mein Sohn) begann. Parallel punktete die Türkei im Arthouse-Sektor mit Bilge Ceylans Film Ilklimler (Jahreszeiten) und Ömer Kiziltans Takva. Jenseits nationalistischer Actionfilme wie Kurtlar vadisi - Irak (Tal der Wölfe - Irak) und Son osmanli yandim ali (Der letzte Osmane), die von der deutschen Presse regelmäßig und unter Auslassung von Gegenbeispielen als Exempel für türkische Großmannssüchte herangezogen werden, kommen unter der Regierung Erdogan verstärkt Themen auf die Leinwand, die unter säkularen Vorgängerkabinetten noch als Tabus gegolten haben. Auch im kommerziellen Kino.
So wird das Melodram Mein Vater und mein Sohn, das es 2006 auf 3,5 Millionen Zuschauer brachte, zum Rührstück, weil der kleine Deniz seine Mutter während des Militärputsches 1980 verliert. Und die fein ziselierte Politgroteske Beynelmilel (Die Internationale) über eine linkische Provinzkapelle, die kurz nach dem Militärputsch 1982 einer hochrangigen Politikerdelegation zur Begrüßung die sozialistische Hymne als Frühlingslied vorspielt, variiert dramaturgisch raffiniert wie selbstverständlich kurdische Lieder und Tänze. Das tut auch das spirituell angehauchte Vexierspiel Beyaz Melek (Weißer Engel) über eine Gruppe Istanbuler Altenheimbewohner, die an ihrem Lebensende eine Reise in den Osten der Türkei antreten und dort eine ursprüngliche Menschlichkeit wiederfinden, die im Fahrplan der urbanen Moderne verloren gegangen ist.
Damit hat sich ein Stück Normalität im türkischen Film breit gemacht. Der Komponist und Filmemacher Zülfü Livaneli, vor Kurzem mit dem Ehrenpreis des Nürnberger Filmfestival Türkei/Deutschland ausgezeichnet, kann sich noch an die Publikumsreaktionen auf Zeki Öktens Film Sürü (Die Herde) erinnern, dessen Drehbuch von Yilmaz Güney stammte. "Die Herde wurde 1978 gedreht. Damals hatte ich zum ersten Mal auch Gesang integriert. In diesem Gesang gab es einige Worte, die Kurdisch anmuteten, obwohl sie eigentlich überhaupt keine Bedeutung hatten. Aber sie klangen kurdisch, und an diesen Stellen wurde in den Kinos applaudiert. Daraus hat sich ein politisches Statement entwickelt, was eigentlich gar nicht beabsichtigt war."
Die Militärregierung, die sich zwei Jahre später an die Macht putschte, prägt die politische Kultur in der Türkei bis heute. Livaneli beklagt vor allem das Fehlen einer politischen Mitte: "Ich habe heute Angst vor der Polarisation in der Türkei. Wir haben einen islamischen Pol, einen kurdischen Pol und einen türkisch-nationalistischen Pol. Auf der Straße grüßt man sich nicht mehr, wenn man zu verschiedenen Lagern gehört. Ein Ausweg wäre es, die Politik um die gemäßigte politische Linke und die gemäßigte politische Rechte herum zu entwickeln, wie das in normalen Demokratien funktioniert. Doch die Armee hat diese Entwicklung nach dem Putsch kaputt gemacht, besonders die Linke. Sie hat die Linke zerstört."
Livaneli, der aus politischen Gründen mehrmals die Türkei verlassen musste und zeitweise im deutschen Exil gelebt hat, meint zur aktuellen Integrationsdiskussion: "Deutschlands Intellektuelle wollten, dass die intellektuellen Türken hierzulande als Dolmetscher funktionieren. Ich bin nicht der einzige, der mittlerweile genug von dieser Debatte hat. Wir müssen endlich akzeptieren, dass wir verschiedene Identitäten haben und für eine echte Integration sich beide Seiten annähern müssen wie bei einer Ehe." Livaneli, der 1987 seinen ersten Langspielfilm Yer Demir Gök Bakir (Eisenerde Kupferhimmel) gemeinsam mit Wim Wenders als frühe türkisch-deutsche Koproduktion in die Wege geleitet hat, spricht sich für "gemeinsame Projekte" statt langer Reden aus. So wie die Filme von Fatih Akin, die helfen, international nicht nur das deutsche, sondern auch das türkische Kino neu zu positionieren.
In Nürnberg war die Verfilmung von Livanelis Roman Mutluluk (Glück) zu sehen, der zur Frankfurter Buchmesse, wo die Türkei Gastland sein wird, auf Deutsch erscheinen soll. Der episch in Szene gesetzte Film variiert den Widerstreit zwischen überkommenen Moralvorstellungen und modernen Gesellschaftsbildern der Gegenwart am Beispiel des jungen Cemal, der von seinem Vater gezwungen wird, seine Schwester Meryem zu töten, die zuvor vergewaltigt worden war. Damit würde die Familienehre wiederhergestellt. Doch in Cemal, der zunächst am traditionellen Ehrbegriff festhält, rumort der moralische Aufschrei gegen die Konventionen der Altvorderen. Für die beiden jungen Leute beginnt eine Odyssee, die sie aus der Provinz über Istanbul in die Ägäis führt - eine schmerzhaft kathartische Reise, an deren Ende sie sich schließlich von der provinziellen Verlogenheit ihrer Herkunft befreien.
Die Diskurse über Ehrbegriffe und politische Einschnitte der Vergangenheit zeigen die Offenheit, mit der türkische Filmemacher heute die Risse in Gegenwart und Geschichte ihres Landes zu betrachten beginnen. Dazu gehören individuelle Identitätsfragen, denen sich der Autorenfilm mit sensibler Metaphorik stellt. In Semih Kaplanoglus Film Yumurta (Ei), der detailgenauen, in ruhigen Bildern erzählten Geschichte eines Landflüchtlings, der nach dem Tod seiner Mutter in sein früheres Leben in der Provinz eintaucht, wird viel gewartet. Die Dialoge entspinnen sich eher nebenbei in der unscheinbaren Mimik und Körpersprache der Protagonisten, deren verhaltene Schauspielerführung Kaplanoglu virtuos beherrscht.
Dem türkischen Kino ist es in den letzten Jahren gelungen, sowohl im traditionell starken Autorenfilm als auch im kommerziellen Kino auf sich aufmerksam zu machen. Eine Situation, die sich für beide Felder positiv auswirkt - für Cannes werden in diesem Jahr gleich drei türkische Beiträge gehandelt. Es bleibt zu hoffen, dass der Antrag des türkischen Generalstaatsanwalts auf ein Verbot von Erdogans Partei AKP die politischen Gewichte in der Türkei nicht weiter voneinander entfernt. Die Gefahr ist groß, dass das Zentimeter für Zentimeter in Richtung einer diskursfreudigen Kulturlandschaft geöffnete Fenster vom Wind politischen Marktschreiertums wieder zugeschlagen wird.
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