Das osteuropäische Kino zeichnete sich schon immer durch die Hinwendung zum Alltäglichen aus. Dieses Jahr aber bestimmten wie selten zuvor gesellschaftliche Themen den Wettbewerb des Cottbuser Filmfestivals, das zum nunmehr 16. Mal einen Überblick über das Filmschaffen in den ex-sozialistischen Ländern Europas bot. In den letzten Jahren vermeldete das Selbstbewusstsein demonstrierende Festival ständig Zuschauerrekorde. Das Stadtmagazin Herrmann fragte nun ironisch, wie es denn zusammenginge, dass zwar die Einwohnerzahl der Lausitzmetropole ständig sinke, auf dem Filmfestival aber jedes Jahr mehr Publikum gezählt würde.
Doch in der Tat, die Säle waren voll, und das filmwirtschaftliche Forum Connecting Cottbus, vor acht Jahren mit dem Ziel geg
Jahren mit dem Ziel gegründet, ein Netzwerk für das osteuropäische Kino zu schaffen, ist zu einem der wichtigsten Treffpunkte für Produzenten, Lizenzhändler und Vertreter von Filmförderungsinstitutionen in Ost und West geworden. Unterstrichen wird der filmwirtschaftliche Aspekt mit einem erstmalig vergebenen Verleih-Preis, dessen 13.500 Euro einem Film zu Gute kommen, der für einen erfolgreichen Einsatz im Kino besonders wertvoll erscheint. Ein Beitrag, mit dem der im deutschen Kinoalltag unterrepräsentierte osteuropäische Film zu mehr Zuschauern finden soll. In diesem Jahr ging der Verleih-Preis übrigens an denselben Film, der auch mit dem Hauptpreis des Festivals ausgezeichnet wurde, das serbische Generationenporträt Morgen in der Früh von Oleg Novkovic, der es mit dieser doppelten Starthilfe hoffentlich wirklich in die deutschen Kinos schafft.Der Mehrwert des osteuropäischen Kinos besteht gegenwärtig in der Fähigkeit, schnörkellos auf Fehlentwicklungen der letzten Jahre hinzuweisen und dabei den zeitgeschichtlichen Hintergrund im Auge zu behalten. Im Zentrum stehen wieder die "kleinen" menschliche Schicksale, die die mythische Bilderphraseologie genauso wie die Gewaltmetaphorik vergangener Jahre abgelöst zu haben scheinen. Beispielhaft für diese Entwicklung sind etwa die rumänischen Wettbewerbsbeiträge, die die Legende von der "Revolutionsnacht" des 22. Dezember 1989, in der das tyrannische Ceaucescu-Regime gestürzt wurde, auf die persönlichen Erfahrungswerte ihrer Protagonisten reduzieren. So gerät in Paper will be blue der junge Soldat Costi zwischen die unklaren Fronten, dorthin, wo zwischen Freund und Feind keine Unterscheidung mehr möglich ist. Und 12:08 East of Bucharest dokumentiert den heutigen Blick auf die damaligen Ereignisse: In der fiktiven Talkshow eines semiprofessionellen Provinzsenders diskutieren zwei Veteranen des Schicksalstages mit Anrufern. Jeder der Beteiligten glaubt fest an seine ganz persönliche Version der Wahrheit - Gedächtnisprotokolle, die sich deutlich voneinander unterscheiden. Entsprechend stellt der rumänische Originaltitel die zentrale Gretchenfrage über die "Revolution": "A fost sau n-a fost? - Gab es eine oder gab es keine?"Beide Filme sind geradlinig erzählt, mit einer disziplinierten Lakonie, die bisweilen auch verhalten ironische Momente zulässt. Ihre untergründige Emotionalität beziehen sie aus der authentischen Personenzeichnung ihrer Alltagshelden, aus deren nachvollziehbarem Ungeschick, mit der historischen Dimension ihres Tuns umzugehen. Beide Beiträge belegen die anhaltende Stärke, mit der das rumänische Kino in dokumentarischer Gelassenheit die eigene Gesellschaft seziert. Albern wirkt dagegen der klischeebeladene Radau patriarchaler Dörfler in Kirgisische Mitgift, in der Natacha Régnier als französische Verlobte eines nach Paris emigrierten Kirgisen in dessen Heimatort drapiert wird, um die Vormodernität der dortigen Gesellschaft zu erfahren - mit jeder Szene keimt der Verdacht, hier wurde die prekäre Frage nach der Rolle der Frau vor allem als Finanzierungsargumentation gegenüber westeuropäischen Filmstiftungen ins Skript geschrieben.Zum Hauptpreisträger in Cottbus wurde das bereits erwähnte, nahezu dokumentarisch anmutende serbische Generationsportrait Morgen in der Früh auserkoren. Regisseur Oleg Novkovic´ erzählt darin vom Auswanderer Nele, der nach 12-jähriger Diaspora in die schmucklose Plattenbaulandschaft Neu-Belgrads zurückkehrt. Nach einer Sauftour mit alten Freunden hält Nele unversehens die Fäden seiner Vergangenheit wieder in der Hand und beginnt, sich darin zu verstricken. Die Rückkehr in die alte Heimat bedeutet für Nele auch eine Reise in das Feindesland einer unbewältigten Liebschaft, und so blitzt eine selbstzerstörerische amour fou auf, mit der das von Kriegsfolgen, Korruption und Visumzwang geprägte Dauer-Hangover der heute 30- bis 40-Jährigen in der serbischen Hauptstadt auf eine universelle Ebene gehoben wird. Das Gesellschaftsbild ist perspektivlos - nach der kurzen Euphorie der Wende, dem anschließenden Siegeszug halblegal agierender Glücksritter in Politik und Wirtschaft und den kriegsgenerierenden Versuchen, mit ethnisch-religiösem Gedröhn Gesellschaftsordnungen neu zu kreieren, bleibt, begleitet von beredten zivilgesellschaftlichen Worthülsen im entfernten Brüssel, nur noch das individuelle Weiterwursteln in verregneter Stimmung.An dieser Stelle setzte bisher die oft zitierte "Suche nach dem kleinen Glück" ein, meist gepaart mit einer gehörigen Portion Selbstmitleid. Beides ist inzwischen einer Rationalität gewichen, die einen Status Quo notiert, in dem die gesellschaftliche Mitte als Ansammlung von Außenseitern beschrieben wird. Eine keineswegs plötzliche Entwicklung, wie der ungarische Taxidermia nachvolllzieht. Regisseur György Pálfi, der vor vier Jahren mit dem schrulligen Provinzporträt Hukkle bekannt wurde, verstört zunächst mit oberflächlichem Ekel und Kotzorgien, mit dem Fresswettbewerbe als sozialistisches Sportereignis beschrieben werden. Die drastische Metapher ist Dreh- und Angelpunkt einer visuell überzeugenden Drei-Generationen-Saga über Fleischeslust, Despotie und Entfremdung vom Zweiten Weltkrieg bis ins 21. Jahrhundert, eine bittere Parabel über die stagnierende Entwicklung der "condition humaine" im Angesicht der Geschichte. Letzter Spross der von Pálfi ins düstere Licht gesellschaftlicher Unzulänglichkeiten gerückten Dynastie ist übrigens ein Tierpräparator, der sich, nachdem der fettleibige Vater explodiert ist, mit Hilfe einer eigens entwickelten Maschine selbst den Kopf abschlägt und ausstopft. Während in Cottbus Taxidermia lief, wurde im benachbarten Guben das umstrittene Plastinarium eröffnet, in dem Gunther von Hagen präparierte Skelette und andere - echte - Leichenteile für die Nachwelt konserviert. Die Realität hat die drastische mediale Metaphorik eingeholt, auch die des osteuropäischen Kinos.