Unterschiedlicher hätten die Hauptgewinner kaum sein können. Das weiße Rauschen, ein verstörender, bewusst desolat inszenierter Film über die Katharsis eines 21jährigen Schizophrenie-Kranken, und Der Überfall, ein in der besten Tradition des schwarzen Wiener Humors gehaltenes Kammerspiel über eine Geiselnahme, in der Täter- und Opferrollen sich ständig verschieben, wurden auf dem 22. Saarbrücker Max-Ophüls-Filmfestival mit den beiden höchstdotierten Preisen ausgezeichnet.
Mit seinem umfangreichen Programm gibt das Saarbrücker Festival einen fundierten Überblick über die aktuellen Trends des jungen Films im deutschsprachigen Raum. Dennoch wird immer wieder über eine Verkleinerung, zuweilen sogar Streichung nachgedacht. Der jüngsten Etatbeschneidung von 120.000 DM fielen gleich mehrere etablierte Reihen, darunter die Präsentationen aktueller Filme aus dem grenznahen Frankreich, zum Opfer. Die immer wieder laut werdenden Kürzungsvorschläge wirken vollkommen absurd angesichts des regen Interesses, das die Branche dem Festival auf der Suche nach neuen Talenten entgegenbringt. Und zumindest in dieser Hinsicht weckt der aktuelle Jahrgang berechtigte Hoffnungen.
Die beiden Preisträger markieren die Eckpunkte des gegenwärtigen jungen Kinos in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Die filmischen Welten, die dazwischen liegen, zentrieren sich vor allem um persönliche Geschichten. Sie erkunden gesellschaftliche Realitäten, die in zunehmend schnellere Bewegung geraten und ihren Protagonisten immer mehr Flexibilität abverlangen. In Birthday - der den Publikumspreis gewann - treffen sich vier alte Freunde zu ihrem jeweiligen 30. Geburtstag in Ludwigsburg, Köln, einem toskanischen Fischerdorf und Berlin. In England begibt sich der nach einem Aufräumeinsatz bei Tschernobyl schwer krebserkrankte Valerij auf die Reise nach Westen und bleibt in Berlin hängen, das Pärchen in L'amour, l'argent, l'amour treibt es auf der ungeduldigen Suche nach dem Ort ihrer Sehnsucht vom feindselig kalten Berlin über die ostdeutsche Industrieprovinz, Duisburg-Ruhrpott und Paris in ein winterlich verlassenes Feriendorf an der französischen Westküste.
Helden im ständigen Stadium der Durchreise - hier manifestiert sich bereits eine Ortlosigkeit, die anderswo, in vollkommen stilisierten Bilderwelten auf die Spitze getrieben, zum Lebensprinzip erhoben wird. Filme wie Freunde, dem von einer Kriminalhandlung zusammengehaltenen Diskurs über Treue und Verrat in einer langjährigen Männerfreundschaft, und das Psychodrama Finnlandia, in dem die Selbstzerstörungskräfte einer Lifestyle-Beziehung seziert werden, arbeiten auf unterschiedliche Weise mit hochartifiziellen Bildern, die kaum noch Rückschlüsse auf bestimmte Drehorte zu lassen. "On the road", im Rahmen der Globalisierung längst zum alltagsbiographischen Lebensentwurf geworden, findet seine leitmotivische Entsprechung im Film. Identitätsstiftend sind nicht mehr die Orte, in denen sich der Alltag abspielt. Sie sind austauschbar geworden, und so verbleiben einzig die dunklen Räume der Szenekneipen, U-Bahnhöfe, Großtankstellen, die austauschbare Architektur der vergammelnden Wohnhäuser aus den 60er und 70er Jahren und die sterile Atmosphäre moderner Innenstadtquartiere als skizzenhafte Orientierungspunkte. "Heimat" als konkreter Ort hat aufgehört zu existieren. Von einer Stadt, einer Region bleibt allenfalls ein "B", "D" oder "K" als erster Buchstabe auf den Nummernschildern der Autos.
Und dort, wo Orte noch als solche erkennbar sind, entbehren sie jeden Ansatz von Geborgenheit. Das nette Schweizer Bergdorf in Orgienhaus entpuppt sich schon bald als Wallfahrtsort sektiererischer religiöser Eiferer, die sich einem brutalen Kult der Teufelsaustreibung verschrieben haben. Die Szenerie in dem sozial engagierten Großstadtdrama Alaska.de, angesiedelt in einem Berliner Plattenbauviertel - übrigens der einzige Film mit originär ostdeutscher Thematik - verschreckt genauso wie die latent aggressive Enge in Die Einsamkeit der Krokodile, die jedem die Luft zum Atmen nimmt, der sich nicht nahtlos in die Wertegemeinschaft eines westfälischen Provinzstädtchens eingliedert.
Die neue Heimatlosigkeit ruft Existentialisten auf den Plan, die die Tragfähigkeit von Freundschaften und Beziehungen ausloten. Immer wieder kommt es dabei zu Verletzungen, sind die Protagonisten gezwungen, ihre Sehnsucht nach sozialer Geborgenheit mit den Anforderungen ihrer oft feindseligen Umwelt zu koordinieren. So etwa der junge Rudi in Gelbe Kirschen, der sich gleich während seines ersten Dienstes bei der Wiener Fremdenpolizei in die "illegale" Alena verliebt, oder die unterkühlte Einzelgängerin Anne aus Stiller Sturm, die sich auf der Suche nach dem ganz großen emotionalen Kick völlig isoliert im wogenden Leben der Kölner Nachtbars wiederfindet.
Plakative Sozialdramen - etwa die Berlin-Filme der letzten Jahre - waren in Saarbrücken genauso wenig anzutreffen wie die nabelschauartigen Reisen in die Innerlichkeit, die seit jeher im deutschsprachigen Kino herumgespenstern. In den trotz einiger Überladungen erstaunlich geradlinig erzählten Geschichten verbindet sich die Beschreibung sozialer Realitäten mit dem ausdrücklichen Plädoyer, das eigene Leben selbst zu bestimmen. Selten war so wenig unausweichliches Schicksal. Selbst supranationale politische Verwerfungen können die Protagonisten nicht langfristig aus der Bahn bringen. So beschreibt die mit leichter Hand inszenierte Tragikomödie Als Großvater Rita Hayworth liebte die Kindheit der 13jährigen Tschechin Hannah, die sich nach der Niederschlagung des Prager Frühlings als Flüchtlingskind sogar im grantigen Oberfranken zu behaupten weiß.
Nicht immer gibt es ein derartiges Happy End. Am Schluss von England erlebt Valerij die Jahrtausendwende am Ufer des Ärmelkanals, bevor er stirbt. Das Ende von Lukas, dem Helden aus Das weiße Rauschen, der sich schließlich an der spanischen Atlantikküste wiederfindet, bleibt offen. Immerhin, wo "Heimat" als sozialer Ort nicht mehr existiert, hat die Sehnsucht noch einen Namen: das Meer.
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