Seitdem der türkische Slapstick-Komiker Şahan Gökbahar Mitte Februar beim Deutschland-Start seines neuesten Films Recep Ivedik 2 alle sieben Säle des Multiplexkinos Karli in Berlin-Neukölln gefüllt hat, ist das türkische Filmwunder auch in den deutschen Feuilletons angekommen. Die Blödelei eines tölpelhaften Nichtsnutzes, der sich mit wenig Verstand, aber viel Durchsetzungsvermögen auf der Karriereleiter nach oben bewegt, wollten allein in Deutschland am ersten Wochenende 190.000 Zuschauer sehen. In Westeuropa, wo neue Mainstream-Produktionen vom Bosporus teilweise zeitgleich mit den Türkei-Starts programmiert werden, kommt in den Wintermonaten seit einigen Jahren fast jede Woche ein neuer türkischer Film in die Multiplexe. Am internationalen Festivalgeschehen geht dieser Boom genauso vorbei wie an der hiesigen Filmkunstszene, wo Autorenfilmer wie Yesim Ustaoğlu als Inbegriff des türkischen Kinos gelten. Worum also geht es in den türkischen Blockbustern?
In den letzten Jahren hat das türkische Kino von einem bisher einmaligen Zuschauerboom profitieren können. Bereits 1996 wurde Yavuz Turguls Drama Eskiya, der Bandit (Eskiya) zum internationalen Erfolg. Das Melodram Mein Vater und mein Sohn (2005) oder die romantische Komödie Die Gaukler (2006) konsolidierten zehn Jahre später ein Marktsegment, das bis dahin von internationalen Kinoerfolgen amerikanischer Herkunft dominiert wurde. In Deutschland wurden einige Großverleiher frühzeitig auf die türkische Mainstreamware aufmerksam, schafften es jedoch nicht, das türkischstämmige Publikum an sich zu binden. So wurde das Marktsegment schließlich erfolgreich vom in der Türkei und vier westeuropäischen Ländern operierenden Maxximum-Filmverleih erschlossen. Die Firma kam 2006 mit dem kontrovers diskutierten Tal der Wölfe – Irak in die Schlagzeilen. Der einseitig nationalistische Grundton des Agentenfilms mobilisierte damals antitürkische Ressentiments und die deutsche Filmkritik, die sich bis dahin kaum für den inzwischen auch nach Deutschland geschwappten türkischen Kinoboom interessiert hatte.
Eine erfolgreiche Strategie
Nationalismus spielt in einigen aktuellen türkischen Kinohits eine Rolle. Etwa in der Komödie Die osmanische Republik (2008), welche die Rolle der USA bei der Manipulation ihrer Vasallenstaaten aufs Korn nimmt, oder in dem Drama 120 (2008), das den Märtyrertod von über 100 Kindern aus dem osttürkischen Van verklärt, die im russisch-türkischen Krieg 1914 Nachschubmunition an die osmanische Armee geliefert haben.
120 wird vom Stuttgarter Kinostar-Filmverleih vertrieben, der sich seit einem Jahr erfolgreich auf dem bisher allein von Maxximum bedienten deutschtürkischen Markt positionieren konnte und auch dessen Strategie kopiert hat: enge Zusammenarbeit mit den Produzenten bei der Projektentwicklung, zeitnahe Starts in der Türkei und in Deutschland und möglichst regelmäßiges Bedienen des Zielpublikums mit neuen Produktionen.
Ein großer Teil der Neuerscheinungen wirbt freilich mit alten Namen. Vor kurzem erschien Tal der Wölfe – Muro, ein Sequel, das mit dem berüchtigten Vorgänger und der gleichnamigen 97-teiligen Fernsehserie kaum mehr gemeinsam hat als einen der wichtigsten Protagonisten. Im Nachklapp einer TV-Serie entstand auch Der Gouverneur (2009), der die reale Geschichte des populären Antikorruptionspolitikers Recep Yazicioğlu, der 2003 an den Folgen eines mysteriösen Autounfalls verstarb, für einen Politthriller verarbeitet, der den Ausverkauf des Landes an ausländische Investoren geißelt und dabei reichlich türkische Flagge zeigt.
Pöbelnde Nichtsnutze vom Land
Das türkischstämmige Publikum in Deutschland scheint indes eher auf Magandas als auf Märtyrer zu stehen. Magandas sind Nichtnutze wie Recep Ivedik, die ihre ländliche Herkunft nicht verleugnen, sich pöbelnd einen Weg zum Erfolg bahnen und dabei mit jeder Art von Etikette fremdeln. Eine zwiespältige Witzfigur, die gekonnt Modernisierungsverlierern aus der Seele spricht, die mit dem Caffé-latte-Chic und der Yoga-Kultur der neuen Urbanität nichts anfangen können.
Das Vulgäre an Gökbahars lebensnaher Kunstfigur ist anderen türkischen Kassenschlagern nicht fremd – weder dem Pennäler-Humor der Chaotische Klasse-Filme noch den Maskierte Bande-Blödeleien, die einen Gänsemarsch der simplen Sketche liefern und an Blödeleien à la Dieter Hallervorden erinnern.
Mehr an den Nachkriegsliebling Bully Buhlan gemahnen dagegen Arbeiten wie DKAO – Türken im Weltall (2006), die eine türkische Gurkentruppen-Raumschiffbesatzung auf ihrer Dienstreise gegen fiese Außerirdische begleitet, oder Cem Yilmaz’ aufwändiger Film A.R.O.G. (2008). Die Komödie um einen bauernschlauen Teppichhändler, der in die Steinzeit katapultiert wird, entwickelt sich als temporeiches Spiel zwischen Situationskomik, Selbstironie und Genreparodie. Gerade die ist in den letzten Jahren zu einer Spezialität des türkischen Kinos geworden, wie die pointierte James-Bond-Parodie Süper Agent K 9 (2008) und Die Säge (2008), der die Saw-Filme als dümmlicher Bauern-Horror durch den Kakao zu ziehen versucht, beweisen.
Tabu-Themen
Das türkische Kommerzkino wirkt nicht nur finanziell gesund, sondern ist auch inhaltlich für Überraschungen gut. Die Diskussionen um Weißer Engel (2007), ein bildgewaltiges, hochemotionales Drama über die Situation alter Menschen in der sich modernisierenden türkischen Gesellschaft, führten zu einer rechtlichen Besserstellung pflegender Angehöriger von Hilfsbedürftigen, die Rechtsnovelle ging als „Weißer-Engel-Gesetz“ in die türkische Rechtsgeschichte ein. Tomris Giritlioglus Herbstschmerz (2009) über das Pogrom gegen die Istanbuler Griechen im Jahr 1955 spricht ein Tabuthema an und fand damit bereits über 500.000 Zuschauer.
Auf dem Blödelsektor waren bis vor Kurzem Homosexuelle öfter einen diffamierenden Seitenhieb wert. Nun stellt der fast subversiv-überdrehte Humor der in einem Touristenresort angesiedelten Teenie-Komödie Folge Kadri, nicht deinem Herzen (2008) ein schwules Pärchen als Sympathieträger dar: Die beiden kommentieren die Vorgänge um den Pool in bester Sektlaune.
Und der Regisseur Cagan Irmak, der mit Vater und Sohn den Boom des türkischen Kommerzkinos einst mitbegründet hat, ist mit Einsam (2008) beim neuen Mann angekommen: Sein urbaner Held ist ein erfolgreicher Single, hat aber mit dem inneren Machismo und der Unfähigkeit zur Liebe zu kämpfen. Die neue Innerlichkeit, die Irmak hier zur Schau stellt, hat in der Türkei über zwei Millionen Zuschauer in die Kinos gelockt.
Bernd Buder ist Pressesprecher der 7. Türkischen Filmwoche Berlin (bis 4. April), die vor allem türkische Filmkunst im Programm hat
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