Am 31. Dezember 2000 schneidet die Telekom die Bundesrepublik aus dem Verband telegrafierender Staaten heraus. Der Auslandsdienst wird eingestellt, die Grenzen werden dicht gemacht. Telegramme aus Übersee oder sonst wo gehören endgültig zur Geschichte.
Unsere Familie erhielt wenige Telegramme. Das wichtigste kam 1974 an einem Oktobermorgen um fünf Uhr früh: Vater sitzt beim Frühstück. Er nutzt die Minuten, bis er zur Frühschicht aufbrechen muss, um eine zweite Tasse Kaffee zu trinken, wie jeden Morgen. Mutter hat die Dose mit den Broten in seine Tasche gesteckt. Es klingelt. Vater schaut Mutter an, Mutter schaut ihn an und geht zur Tür. Als sie zurückkommt, hält sie einen Umschlag in der Hand, beige wie ausgewaschenes Packpapier, rote Schrift: Telegramm. Ihr Gesicht ist blass. Es muss etwas Schlimmes passiert sein. Immer wenn ein Telegramm kommt, ist etwas Schlimmes passiert. Sie schneidet den Umschlag auf, faltet das Papier auseinander, liest: »Vater gestorben / Beerdigung Freitag / Otto« Fünf Worte, ein Faustschlag, Mutter weint, Vater auch. Wir Kinder sitzen herum und wissen nicht, wie wir die Eltern trösten sollen. »Übermorgen müssen wir fahren«, sagt Mutter. Vater nickt.
Die Schwestern werden bei einer Cousine untergebracht, sie sind zu klein für die Reise. Der Zug geht am Abend. Als wir am Bahnhof Friedrichstraße aussteigen, fällt fahles Morgenlicht durch die dreckigen Scheiben und an den Eisenträgern entlang auf die Gleise. Ich sehe den Grenzsoldaten, der auf einer Galerie über den Fahrdrähten steht, ich sehe seine Waffe. Es ist kalt, ich friere. Der Zug ist wieder einmal sehr voll gewesen. Die Reisenden drängen die Treppen hinunter zu den Kontrollen. Die meisten sind Rentner, eine Frau führt ihren wackligen Mann. Wir gehen unter Neonröhren und zwischen bleichen Wänden. Es riecht nach Putzmittel wie in den Zügen der Reichsbahn und nach unausgeschlafenen Menschen. Die Schlange vor dem Schalter bewegt sich kaum, manche der alten Leute sitzen auf ihren Koffern. Die Wächter haben nur eine Tür zur DDR aufgemacht, alle anderen sind verschlossen. Später treten meine Eltern mit mir vor. Das Gesicht unter der Schirmmütze blickt mich an, ich sehe von unten herauf ein Stück vom grauen Kragen und die harten Augen. Der Beamte zieht das Telegramm durch den Schlitz hinter das Fenster, die Pässe auch. Er knallt mit dem Stempel. Ohne ein Wort nehmen meine Eltern mich zwischen sich, wir gehen zur Gepäckvisitation.
Todestelegramme ersetzten an der deutsch-deutschen Grenze die polizeiliche Einreisegenehmigung, auf die man mindestens sechs Wochen warten musste. Wer eine traurige Nachricht bei sich trug, schlüpfte leicht durch den Eisernen Vorhang.
Schnellste Verbindung zwischen Ost und West zu sein, war nur einer der Glanzpunkte in der Geschichte der Telegrafie. Das Telegramm hat die Menschheit vom Pferderücken in die Neuzeit katapultiert. Es begleitete technische und politische Revolutionen, mit seiner Unterstützung entstanden und vergingen Staaten. Darüber ist das Telegramm zweihundert Jahre alt geworden. Jetzt stirbt es einen langsamen Tod.
Das erste deutsche Telegramm galt dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden. Am 22. November 1794 schickte der Physikprofessor Johann Lorenz Boeckmann vom Turmberg in Durlach einen Glückwunsch aus 200 Buchstaben ins Karlsruher Schloss. Boeckmann hatte das System des optischen Telegrafen vom Priester Claude Chappe abgekupfert. Der vernetzte Frankreich, nachdem er bewiesen hatte, dass sein System der Nachrichtenübermittlung auf 225 Kilometern zwischen Lille und Paris funktionierte. Chappe brauchte alle zehn Kilometer einen Streckenposten, der die Signale empfing und zum nächsten weiterleitete. Die Botschaften sprangen in Riesensätzen durch die Landschaft, schneller als jeder Reiter.
Das Militär musterte die Erfindung, befand sie für tauglich und verleibte sich auch jede folgende Verbesserung ein. Die Leistungen der Telegrafie wuchsen, als der deutsche Arzt Samuel Thomas von Sömmerring 1809 die Elektrizität als Transportmedium ins Spiel brachte. Es dauerte noch 36 Jahre, bis Samuel Finley Morse in Amerika das Patent auf einen Apparat bekam, der zum ersten Mal die Botschaften direkt aufs Papier zeichnete.
In Italien eroberte die Telegrafie die Luft. Guglielmo Marchese Marconi, Sohn eines Gutsbesitzers und schlechter Schüler, bändigte die elektromagnetischen Wellen, die Heinrich Hertz gefunden hatte. Er sandte 1897 Funksignale über eine fünf Kilometer breite Meerenge bei Bristol.
In fast allen Ländern legte der Staat seine Hand auf die Nachrichtenübermittlung, auch in Deutschland gab man sie zur Post in Monopolstellung. Die Apparaturen wurden feiner, die Geschwindigkeit stieg, bald war das Telegramm Alltag. Händler orderten ihre Bestellungen, Kriegsberichterstatter verkündeten Neuigkeiten von den Schlachtfeldern, und Otto von Bismarck ließ am 13. Juli 1870 mit der »Emser Depesche« die Feindschaft zwischen Frankreich und Deutschland eskalieren.
Auch freundliche Worte fanden den Weg durchs Kabel. Als am Bodensee Graf Ferdi nand von Zeppelin Geburtstag feierte, ließ Wilhelm II. am 8. Juli 1913 aus Brunsbüttelkoog ausrichten: »meinen waermsten Glueck wunsch zur heutigen vollendung ihres 75sten lebensjahres / kaiser und reich sind stolz auf den kuehnen beherrscher des luftmeeres / moegen sie sich ihrer bahnbrechenden erfolge noch recht lange in gesundheit und jugendfrische erfreuen« Artig verbeugte sich der greise General der Kavallerie und antwortete ans kaiserliche »Civilkabinett«: »Bitte Seiner Majestät meinen alleruntertänigsten und (aus) vollem Herzen kommenden Dank für das so überaus gnädige Telegramm vermelden zu wollen.«
Der Krieg hatte stets besondere Verwendung für die Telegrafie. Zur Generalmobil machung am 1. August 1914 lagen in allen Postämtern des Reiches Formblätter bereit. Als der Befehl aus Berlin das Land überrannte, notierten die Postbeamten lediglich Datum und Uhrzeit und hängten die Papiere an die Bekanntmachungstafeln. Sofort bildeten Passanten Trauben und freuten sich, dass die Kompanien bald marschieren würden. Ein markiger Satz unter der stilisierten Kaiserkrone fegte den Selbsterhaltungstrieb fort.
Auch während des Zweiten Weltkriegs florierte die Telegrafie, obwohl im Umgang der Soldaten das gebrüllte Wort per Telefon längst modern geworden war. Als die Städte endlich zerschossen waren, blühte zwischen den Ruinen das Telegrafiewesen wieder auf und wurde zur Kommunikationssäule für das Wirtschaftswunder.
Der Abstieg begann 1962. Zunehmend fragten sich die Kunden der Post, warum sie langsam und teuer telegrafieren sollten, wenn sie das gleiche Ergebnis mit einem Griff zum Telefonhörer schnell, billig und persönlich auch haben konnten. Das Telegramm passte immer weniger in eine Zeit, die sich unter dem Einfluss von Fernsehen und ersten Pauschalreisen beschleunigte. Noch strahlte es die Aura wichtiger Amtlichkeit aus, doch es wurde zunehmend wunderlich.
Vielleicht liegt es daran, dass ein Telegramm Geschwätzigkeit nicht zulässt. Noch heute will die Post pro Wort entlohnt sein, jedes kostet zwei Mark. Für diese Sparsamkeit gibt es keinen Markt, wenn sich gleichzeitig Worte von allein vermehren, ein Tastendruck Textkaskaden verbreitet, der Spaß der Empfänger im Wegwerfen besteht. Dabei kann Phantasie bereits an dem Bruchstück eines Satzes entflammen. »Ankomme Freitag, den 13. um 14 Uhr, Christine« - daraus hat Reinhard Mey ein Lied gemacht, in dem die hektische Vorfreude überbordet. Sie kippt, als der Sänger merkt, er hat sich um einen Tag verrechnet.
Sprachökonomie heißt, jedes Wort ein Faktum sein zu lassen. Der Telegrammstil ist nötig, sobald man sich auf das Wesentliche konzentriert. Wäre er gefragt, würde die Welt stiller, allein, weil weniger Handys klingelten. Die lassen sich von solchen griesgrämigen Gedanken nicht ausschalten. Gedanken, die außerdem ein wenig ungerecht sind, weil das Telegramm als junges Ding die Depeschenreiter arbeitslos machte. Doch seine Geschichte erlaubt ein bisschen Trauerarbeit.
Selbst die Post kaute an ihrer Dienstleistung Telegramm. Das liegt am Knick in der Zustellung. Bis zum Postamt des Zielortes wird der Text telefonisch transportiert, dort schreibt der Mitarbeiter ihn nieder und ein Bote bringt den Umschlag zum Adressaten. Im besten Fall vergehen Stunden. Telegramm, das ist weder Postdienst noch Telefondienst, ein Zwitter, der sich gegen moderne Firmenstrukturen stemmt.
In den neunziger Jahren verfiel das Telegramm rapide. Die Gesundschrumpfer der Staatsunternehmen teilten den Dienst, das Inland wurde an die »Post Express« vergeben. Das Ausland ging an die Telekom. 1990 zählte man 1,7 Millionen Auslandstelegramme pro Jahr, 1999 waren es etwa eine Viertelmillion, und in diesem Jahr werden es noch 70.000 sein. Waldemar Czauderna von der Münchner Telekom-Niederlassung sagt: »Es lohnt sich nicht mehr.« Die Mitarbeiter sind abgezogen, sie dürfen sich um das Kerngeschäft kümmern. Von den 250 Staaten der Erde sind noch 240 per Telegramm erreichbar. Czauderna: »Innerhalb Europas sticht zahlenmäßig Italien hervor, die lesen gern ein Telegramm. In die GUS und nach Jugoslawien geht auch einiges, und aus der Karibik kommt Verkehr von außen rein. Aber das sind keine wirklich bedeutenden Zahlen.«
Weil für das behäbige Medium neben Fax, E-Mail, Telefon und SMS der Platz auch im Land eng wurde, hat die Post dem Telegramm einen emotionalen Rucksack umgeschnallt. Das traditionell graue, holzige Formular hat zweiseitige Hochglanzgeschwister bekommen. »Die Kunden können aus zwanzig Möglichkeiten wählen«, sagt Uta Müller von »Post Express«. Geburtstag, Hochzeit, Taufe und Todesfall haben eine grafische Gestalt erhalten, und für alle, die es mögen, spielt ein Chip beim Aufklappen Musik. Wenn die Freude des Empfängers noch größer werden soll, legt man den Gutschein einer Parfümerie bei oder lässt das Telegramm an einen Blumenstrauß knüpfen. Wie viele Kunden »Express« damit überzeugt, verrät Uta Müller nicht: »So kurz vor dem Börsengang gibt's keine Zahlen.« Lieber schwärmt sie von geplanten Mailingaktionen für Geschäftsleute. Briefe und E-Mails, sagt sie, würden sehr oft direkt in den Papierkorb verschoben. »Die persönliche Zustellung zieht ganz andere Aufmerksamkeit auf sich. Wir glauben, dass es da einen großen Bedarf gibt.« Der Inhalt des Telegramms verschwindet hinter der Geste.
Doch so leicht ist das Telegramm in seiner reinsten Form nicht auszurotten. Von einer eigenen Fernschreibstelle lädt der Bundestag seine Mitglieder zu Sondersitzungen ein, gratuliert der Bundeskanzler zu Geburtstagen oder Olympiasiegen. Ohne Musik und Blumenstrauß, mit knappen Worten.
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