Fünf Kisten aus grauem Plastik, aufgereiht auf Grabfeld 317 und mit dem Edding durchnummeriert, verwahren das, was von der Einsamkeit übrig geblieben ist.
„Wie viele sind es heute?“, fragt Margarethe Kohl.
„30“, antwortet Olaf Leguttky, der Friedhofsleiter.
„Oh Mann, oh Mann“, sagt Kohl, die Pastorin, eine große Frau mit kurzen goldblonden Haaren. Die Sportschuhe schauen unter ihrem schwarzen Talar hervor.
Es ist eine Gruppenbeerdigung von Menschen, die keine Gruppe bilden, 30 für sich allein Verstorbene und von Amts wegen Eingeäscherte, durch Zufall vereint am selben Beisetzungstermin.
„Wir machen es kurz und schmerzlos“, sagt Kohl.
Der Öjendorfer Friedhof in Hamburg ist an diesem Dienstagmorgen um kurz vor acht noch menschenleer. Bevor alle anderen Beerdigungen stattfinden, bevor sich die Freunde und Familien versammeln, schwarz gekleidet an den offenen Gräbern stehen und ihre Lieben beweinen, bringen Kohl und Leguttky diejenigen unter die Erde, die keine Angehörigen haben. Die starben, ohne dass jemand ein Grab organisierte und Blumen kaufte. Deren Bestattung die Behörden abwickeln müssen, nachdem sich nach einer ersten Wartefrist von 14 Tagen und einer zweiten von einem Monat niemand gemeldet hat. Mit Würde, aber tränenlos.
„Wir sind heute hier zusammen, um Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten“, sagt Kohl. Keine Trauergemeinde hört ihr zu, nur Leguttky und seine Arbeiter im grünen Overall wohnen dem Vorgang bei. „Wir wissen nicht, was diese Menschen geglaubt haben“, sagt Kohl. „Wir wünschen uns, dass sie einst geliebt wurden.“
Ein Friedhofsmitarbeiter mit lehmigen Schuhen liest die Namen vom Klemmbrett in seiner Hand ab, und bei jedem zeichnet die Pastorin mit dem Finger ein Kreuz auf dem Urnendeckel, streicht einen letzten Segen über den Aufkleber mit Geburtsdatum und Einlieferungsnummer. Manfred Gotthold. Ein Kreuz. Jutta Sturm. Ein Kreuz. Robert Jäkisch. Reinhard Kuhl. Sechs Kreuze für die erste, sechs für die zweite, sechs für die dritte, sechs für die vierte, sechs für die fünfte Kiste.
Ein Fremder im Wald
„Ältere Menschen waren es“, sagt Kohl, als sie das Ende der aufgereihten Kisten erreicht. „Und Menschen, die meine Kinder hätten sein können. Und keiner ist da, der sie auf dem letzten Weg begleitet.“
Viel ist im Moment von der Einsamkeit die Rede, die sich angeblich wie eine Epidemie durch unsere Gesellschaft zieht. Einsamkeit, liest man, sei so tödlich wie 15 Zigaretten täglich. Aber sie ist so viel schwerer zu greifen als andere Leiden. Sie lässt sich nicht wie das Rauchen eindämmen, mit Warnhinweisen, Verboten und höheren Steuern. Städte versuchen inzwischen mit speziellen Initiativen, Menschen aus der Isolation zu holen. München etwa will Senioren mit einem kostenlosen Mittagessen vor der Vereinsamung bewahren, in Hamburg machen Behördenmitarbeiter seit Kurzem Hausbesuche bei den Hochbetagten, die als besonders gefährdet gelten.
Etwa 20 Prozent der Menschen über 85 Jahren fühlen sich hierzulande allein, hat die Psychologin Maike Luhmann von der Universität Bochum ermittelt. Aber auch in den jüngeren Jahrgängen sind zwischen zehn und 15 Prozent betroffen. In Großbritannien soll sich seit kurzer Zeit ein eigenes Ministerium dem Kampf gegen die Einsamkeit widmen – was man im ersten Moment für so skurril halten könnte wie ein Heimatministerium, über das man sich in Deutschland wundert. Die Politik entdeckt das Alleinsein, aber hat sie die Mittel dagegen? Geld kann man umverteilen an diejenigen, die es weniger gut getroffen hat. Liebe, Freundschaft, Zuwendung nicht so ohne Weiteres.
Die Einsamen wandern in den Städten unruhig hin und her, wenn die Blätter treiben. Die Einsamen schlafen unter Brücken. Die Einsamen werden alt und wunderlich in einem Haus mit 16 Katzen. Die Einsamen versuchen, ihr Leid in Jazz-Bars zu veredeln, und googeln heimlich nach flüchtigen Bekannten von früher, als könnten sie sich daran wärmen.
Oder es sind Menschen wie Susanna, 24 Jahre alt, die in einer Universitätsstadt in Baden-Württemberg lebt und sagt, sie fühle sich schon von Kind auf verlassen. Oft sind es Sekundenbruchteile, in denen Susanna das Gefühl mit voller Wucht erwischt, sie von allen Mitmenschen fortkatapultiert.
Zum Beispiel, wenn sie im Wald spazieren geht und jemanden entgegenkommen sieht, sich Schritt für Schritt zu einem „Hallo“ durchringt, nur um sich zu vergewissern, dass der Kontakt noch möglich ist, aber der Spaziergänger nur irritiert schaut, wortlos weitergeht und ihr zeigt, dass er ein Fremder bleiben wird. „Da ist ein Mensch, ich nehme ihn wahr, aber er guckt zur Seite“, sagt Susanna so, als könnte sie es selbst nicht fassen.
Wer Freunde um sich weiß, den wird es nicht weiter bekümmern. Aber Susanna sagt, in solchen Augenblicken merke sie, wie unendlich unwahrscheinlich doch jede Beziehung zu anderen ist. „Du lebst wie in einer Kugel, die dich umschließt“, sagt sie. „Und nur manchmal geht sie auf, und jemand kommt zu dir herein.“
Siebte Klasse, sie war die Neue
Susanna heißt eigentlich anders. Die Einsamkeit ist ein Stigma, mit dem sie nicht erkannt werden will, aber, sagt sie, sie wolle sich ihr stellen. Sie spricht langsam und nachdenklich, wenn sie versucht zu ergründen, woher das Gefühl kommt. Die Antwort hat sie bis heute nicht.
Vielleicht begann es damals, in der siebten Klasse, als sie mit ihren Eltern umzog und in eine andere Schule kam. Sie war die Neue, das Kind aus der polnischen Großfamilie mit fünf Geschwistern, dem man die Armut an der Kleidung ansehen konnte. Eine einzige Freundin fand sie in der Klasse, der sie sich anvertrauen konnte, die aber dann zu denen überlief, die sie mobbten. „Vielleicht ist da schon etwas schiefgelaufen“, sagt sie.
Nach dem Abitur begann Susanna ein Studium der Kindheitspädagogik und zog in die fremde Stadt. Aber sie wurde irgendwie nicht warm mit den Kommilitonen dort, sie, die so ernst blieb, und die anderen, die so ungezwungen über Mode und Partys redeten. Nur zwei Mitstudentinnen fühlte Susanna sich nahe, beide älter, um die 30, beide mit Kindern. Zu ihnen setzte sie sich im ersten Semester.
Sie strahlten eine Reife aus, die Susanna ansprach, und trotzdem blieben sie ihr fremd. Die Vorlesungen verbrachten sie miteinander, nicht die Freizeit. Sie tranken Kaffee auf dem Campus, nie zu Hause. Gegen Ende wurde eine der beiden Kommilitoninnen erneut schwanger, unterbrach das Studium, der Kontakt verlor sich. „Die waren irgendwann vom Radar“, sagt Susanna. Wie das passieren konnte, kann sie selbst nicht erklären. Sie habe einfach akzeptiert, dass sie nicht die Priorität im Leben von Frauen mit Familien sein könnte.
Als Susanna vor zwei Jahren ihre Bachelorarbeit schrieb, nahm der Stress überhand, sie wurde krank, ist auch heute noch krankgeschrieben und hofft, bald arbeiten zu können.
Drei Menschen zählt sie auf, mit denen sie sich trifft, alle zwei bis drei Monate sieht sie den einen, einmal im Monat die andere. Am häufigsten trifft sie eine Freundin, die sie über die Kirche kennengelernt hat, im Zweiwochentakt vielleicht, höchstens. Susanna stockt. Freundin, was für ein großes Wort, was für eine Anmaßung. Sie nennt deren Namen nicht, als stünde ihr das nicht zu. „Ich würde sie gerne öfter sehen, aber ich merke sehr genau, ob eine Person Kontakt will oder nicht“, sagt Susanna. „Und diese Person will nicht.“
Die Einsamkeit ist tückisch. Sie beginnt als kleiner Knacks, als haarfeiner Riss zwischen uns und den anderen, der sich zu einem Graben auswächst, der irgendwann unüberbrückbar erscheint. Die Einsamkeit wird zu einem Perpetuum mobile der Isolation. Irgendwann ist die Einsamkeit selbst es, die uns einsam macht.
Wissenschaftler konnten diesen Effekt besonders eindrucksvoll am Beispiel Framinghams beobachten, einer Kleinstadt im US-Bundesstaat Massachusetts. Für eine große Studie hatten Mediziner im Jahr 1948 begonnen, regelmäßig sämtliche Bewohner des Ortes zu untersuchen. Aber nicht nur Gesundheitsdaten sammelten die Forscher, sondern auch Angaben zu den Freundschaften, die die Einwohner zueinander pflegten. So entstand eine riesige Karte der sozialen Beziehungen.
Als der Psychologe John Cacioppo, einer der führenden Einsamkeitsforscher, und zwei Kollegen im Jahr 2009 die Daten aus Framingham analysierten, stellten sie fest: Die Einsamkeit ist nicht Folge fehlender Kontakte, sondern auch eine ihrer Ursachen. Bewohner, die angegeben hatten, sich häufig allein zu fühlen, verloren in den folgenden Jahren rund acht Prozent der Freunde. Wer einsam war, nannte in der nächsten Befragungsrunde seltener andere Bewohner des Ortes als Freund – und wurden von den anderen wiederum seltener als Freund gesehen. Die Beziehungen kappen aus beiden Richtungen. Die Einsamen meiden ihre Mitmenschen, nach denen sie sich doch so sehr sehnen – und sie werden gemieden. Es ist, als läge ein Fluch auf ihnen. Als hätten sie eine schlimme Krankheit, sodass man sich tunlichst fernhalten muss – und als hielten sie sich selbst fern, um die anderen vor sich zu schützen.
In der Vereinzelungsmaschine
Die Vorsicht scheint begründet. Einsamkeit wirkt tatsächlich ansteckend, auch das stellten die Forscher fest: Das Gefühl des Alleinseins verbreitet sich im Netz wie ein Virus. Wer mit einem einsamen Menschen befreundet blieb, lief Gefahr, sich bald darauf ebenfalls einsam zu fühlen. Selbst Freunde von Freunden von Einsamen waren noch deutlich stärker gefährdet. Wer die Einsamkeit also vermeiden will, sollte die Einsamen meiden, Beziehungsabbruch als Selbstschutz. Den Einsamen kann das natürlich nicht bestärken.
Vielleicht liegt darin eine Erklärung: Mit seinem unbedingten Drang nach einer erfüllenden Beziehung erinnert uns der Einsame daran, wie brüchig letztlich die Gewissheit ist, unter Menschen geborgen zu sein. Aus seinem Wunsch nach Wärme weht uns ein existenzieller Polarwind entgegen.
Die Einsamkeit, sagt Susanna, verändere sie. Die Gedanken kreisen, mit jeder Umdrehung eine Spur tiefer, eine Spur grundsätzlicher, sie werden bleischwer wie ein altes Uhrpendel. Sie entwickeln ein solches Gewicht, dass sich jedes ungezwungene Gespräch über das Wetter wie eine gigantische Selbstverleugnung anfühlt. Wie können wir nur über Nichtigkeiten reden, wenn ich mich so unendlich verlassen fühle in dieser Welt?
Der Einsame verwildert. Er verharrt in einem sozialen Funkloch, kein Anschluss unter diesem Kummer. „Wer einsam ist, wird selbstbezogen und schwierig“, sagt Susanna. „Ein einsamer Mensch muss erst mühsam wieder resozialisiert werden.“ Und auf jedes sich abgerungene „Hallo“ bei einem Waldspaziergang kann schon ein Rückschlag folgen.
Seit jeher steht die Moderne im Verdacht, eine einzige große Vereinzelungsmaschine zu sein. Die Diagnose wurde sowohl links- als auch rechtsgewendet formuliert. Mal ist es der flexible Kapitalismus, der Menschen in miteinander konkurrierendes Humankapital verwandelt, immer bereit, für die nächstbeste Stelle alles aufzugeben. Mal ist es das Verschwinden traditioneller Werte, das uns angeblich vor lauter Ichbezogenheit vergessen lässt, Vater und Mutter ebenso zu ehren wie Onkel und Tante. Eine konservative Deutung bietet derzeit der Psychiater Manfred Spitzer, der für seine alarmistischen Thesen regelmäßig in der Kritik steht: „Der Stellenwert von Ehe und Familie hat während der vergangenen Jahrzehnte abgenommen, und entsprechend hat die Einsamkeit der Menschen zugenommen“, klagt er in seinem Buch Einsamkeit. Als ob es so einfach wäre.
Leben wir in einsameren Zeiten? Die Antwort ist kompliziert, meint der Soziologe Janosch Schobin, der an der Universität Kassel zum Thema forscht. Es stimme zwar: Je moderner und wohlhabender die Gesellschaft sei, in der wir lebten, desto häufiger fänden wir unsere wichtigsten Bezugspersonen außerhalb der Verwandtschaft, allein schon aus mathematisch-demografischen Gründen, weil die Familien kleiner würden und damit weniger Geselligkeitsoptionen bereitstellten. Unsere sozialen Netze seien weniger durch Blutsbande vorgegeben, sie bestünden zu einem größeren Teil aus selbstgewählten Beziehungen. Wahlverwandtschaften ersetzen demnach die Sippe, Freunde sind die neue Familie.
Unsere Bindungen sind nicht mehr das Ergebnis einer Lotterie, das wir als schicksalhaft hinzunehmen haben. Sie sind eine bewusste Entscheidung, die wir zum eigenen Vorteil treffen. Gezielt können wir uns mit Menschen umgeben, die uns wirklich etwas zu sagen haben. „Wo wir Beziehungen selbst wählen können, sind sie von höherer Qualität“, sagt Schobin. „Vermutlich führt das sogar dazu, dass wir uns in diesen Beziehungen weniger einsam fühlen.“
Gleichheit macht gesellig
Wir sind damit aber auch abhängiger von unseren so sorgsam abgestimmten, mühevoll durchoptimierten und alle Pflege beanspruchenden Vollwert-Kontakten. Soziale Füllmasse enthält unser Freundeskreis kaum. Kommt uns jemand abhanden, zieht der wahre Freund um, stirbt die große Liebe, reißt der Verlust gleich eine Lücke. Mit den wenigen Richtigen ist alles da, aber ohne ist alles verloren. „In wohlhabenden und fortgeschrittenen Gesellschaften reicht oft der Ausfall einer Person im Beziehungsnetz, und jemand ist sozial isoliert“, sagt Schobin. Die moderne Einsamkeit ist somit eine paradoxe Angelegenheit: Wir fühlen uns heute weniger einsam, sind aber gerade deswegen einsamkeitsgefährdeter. Wie müsste also eine Politik gegen das Alleinsein aussehen?
In seinem Roman Slapstick, einer Endzeit-Satire, erzählt der amerikanische Schriftsteller Kurt Vonnegut von Dr. Swain, dem letzten Präsidentschaftskandidaten der USA, der die Wahlen mit dem vielleicht letzten großen Versprechen gewinnt, das ein Bewerber noch geben kann: „Nie wieder einsam!“ Sein Programm gegen die Isolation sieht vor, dass ein Computer jedem Amerikaner und jeder Amerikanerin per Zufall zwischen Vor- und Nachnamen einen neuen Mittelnamen schiebt, willkürliche Alltagsbegriffe wie Himbeere, Eidechse oder Narzisse. So sollen unter den Himbeeren und Narzissen im Volk künstliche Verwandtschaften generiert werden. Der Staat initiiert Verbindungen, aber man darf zweifeln, ob sich damit allein das hehre Wahlversprechen einlösen lässt.
Die Geschichte vermittelt eine Ahnung von der totalitären Gefahr einer staatlich gelenkten Clan-Wirtschaft. Die Politik gegen das Alleinsein greift tief in das Beziehungs- und Seelenleben ein und verfehlt dabei doch ihr Ziel: Eine Zufallsverschwisterung behebt noch keine zwischenmenschlichen Lücken, solange man gemeinsam einsam bleiben kann. In letzter Konsequenz fällt die Bekämpfung des Alleinseins in den Zuständigkeitsbereich des Einzelnen und lässt sich kaum durch staatliche Großprogramme bewerkstelligen.
Gut möglich, dass von dem in Großbritannien ausgerufenen Einsamkeitsministerium deswegen nur Politmarketing bleibt. Der Staat, der mit kühl betonter Sachnotwendigkeit die Leistungen kürzt, kann hier die Gelegenheit ergreifen, sich mit einem emotionalen Thema als Fürsorger zu inszenieren. Aber am Ende weckt er Erwartungen, die vielleicht gar nicht zu erfüllen sind.
Muss man resignieren und die Einsamkeit zum Privatunglück erklären, auf das es keine politische Antwort gibt? Vielleicht sollte sie nur indirekter ausfallen. Forschungen wie die des Kasseler Soziologen Schobin zeigen, wie stark das Ausmaß der Verlassenheitsgefühle von Land zu Land variiert. Die Umstände haben einen Einfluss darauf, wie verloren wir uns fühlen.
Im Norden Europas ist die Einsamkeit weniger verbreitet als im Süden, in den Staaten des ehemaligen Ostblocks plagt sie den Menschen häufiger als im Westen. Warum? Offenbar hängt das Ausmaß der Einsamkeit damit zusammen, wie stark die Menschen in einem Land einander und den Institutionen vertrauen. Der Wendeschock in Osteuropa und womöglich auch das Spitzeltum in der Zeit davor, so lässt sich zum Beispiel vermuten, haben das Vertrauen bis heute erschüttert. Wo das Vertrauen erodiert, greift die Einsamkeit um sich – und umgekehrt. Wo die Einsamkeit grassiert, nehmen Solidarität und Demokratie Schaden – und umgekehrt. Vermutlich spielt auch Ungleichheit eine Rolle: In Gesellschaften, in denen Einkommen und Vermögen weniger weit auseinander liegen, können sich die Menschen als Gleiche erleben. Über diesen Weg ließe sich die Einsamkeit vielleicht eher angehen.
Der Soziologe Schobin warnt sogar vor einer offiziellen Anti-Einsamkeits-Politik. Im Zweifel stigmatisieren diese Maßnahmen das Alleinsein und verstärken es damit. „Für die Einsamkeit fehlt ein positives Deutungsangebot“, sagt er. Er empfiehlt daher eine Art Beziehungs-TÜV, der bei jeder sozialpolitischen Maßnahme danach fragt, was sie eigentlich für die Bindungen des Einzelnen bedeutet. Müssen wir von einem Arbeitslosen verlangen, dass er für den Job umzieht, auch wenn er dafür Freunde zurücklassen müsste? Können wir alternative Wohnformen unterstützen, die verhindern, dass Menschen im Alter im Heim enden und einsam sterben?
Auf dem Friedhof in Hamburg schiebt ein Mann einen Wagen, an dem sich ein Bohrer befindet, der Löcher in die Rasenfläche schlägt, jeweils 40 Zentimeter breit, 40 Zentimeter lang und 80 Zentimeter tief. Manchmal stockt die Maschine, und einer der Männer muss mit dem Spaten einen Stein aus der Erde hieven, ehe einer der Kollegen im grünen Overall die Urne hinunterlassen kann. 24 Tote passen noch in Reihe 56, sechs weitere müssen in die nächste Reihe. Die Asche von rund 1.000 Verstorbenen ruht bereits in diesem Grabfeld. Die Zahl der Bestattungen von Amts wegen ist stark gestiegen. In Hamburg waren es Ende der 90er Jahre 400 pro Jahr, 2017 zählte man 1.073 Tote, für die sich keine Angehörigen fanden, die sich um die Beerdigung hätten kümmern können.
Man wird allein sterben
Einen Grabstein bekommt niemand. Aber in ein paar Wochen, wenn genug Tote für eine Bestellung beim Graveur zusammen sind, finden sich die Namen auf einem Schild, das an eine der Gedenkstelen am Rande der Grünfläche geschraubt wird.
Friedhofsleiter Olaf Leguttky schaut auf die Namen, die dort schon stehen. Namen, die aus Telefonbüchern stammen könnten, oder von den Klingelschildern eines Mehrfamilienhauses, die nach Gesellschaft klingen, nach Nachbarn, Kollegen, Freunden, Mitmenschen. Leguttky zeigt auf einen Eintrag an der Stele: „Jahrgang 1979“, sagt er. „So ein junger Mann.“ Er geht weiter. Hier, ein Verstorbener mit einem „Graf“ und einem „von“ im Namen. „Verarmter Adel?“, überlegt Leguttky. Man weiß es nicht. Man wird es nicht mehr erfahren.
Manchmal passiert aber doch etwas. An einer der Stelen liegt ein Kranz mit verdorrten Blumen und einem weißen Band. „Als letzter Gruß für Helga. Alex, Kirsten und Yann“ steht darauf. Nach Wochen oder Monaten, wenn die Amtsbestattung vollzogen ist, tauchen dann und wann Angehörige auf, die Anteil nehmen. Manchmal, sagt Leguttky, bekomme er einen Anruf: Man vermisse einen alten Schulfreund. Lange nichts von dem gehört, was ist passiert, ist er tot? Der Kunde wurde von Amts wegen bestattet. So lautet dann die Antwort, die Leguttky gibt. Im Computer könnte er noch den genauen Beisetzungsort auf der Grünfläche lokalisieren. Mehr nicht.
Kommt das häufig vor?
„Selten“, sagt Leguttky.
Vielleicht ist es auch deswegen so traurig, wenn uns der Staat in der Kühle seiner Verwaltungstätigkeit den letzten Weg bereitet, weil es so ehrlich ist: Den letzten Rest an Einsamkeit schaffte auch die Politik nicht weg, es bleibt ein existenzieller Abgrund, eine Trennung zwischen uns und den anderen, die durch nichts aufzuheben ist. „Wir sind lächerlich, dass wir Ruhe in der Gesellschaft unserer Mitmenschen finden, die elend und ohnmächtig sind wie wir“, schrieb einmal der Philosoph Blaise Pascal, „sie werden uns nicht helfen: Man wird allein sterben.“
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