Manchmal ist es die Handschrift, die Stefan Bürkle auf die falsche Fährte lockt. Kein Name steht auf dem Blatt, keine Angabe zum Geschlecht. Aber diese geschwungenen Buchstaben, mit denen der Bewerber seinen Werdegang ins Formular eingetragen hat. Eindeutig: Es muss eine Bewerberin sein. Oder? Bürkle leitet ein Elektrotechnik-Unternehmen mit 130 Mitarbeitern in Stuttgart, nicht selten erlebt er eine Überraschung, wenn er den namen- und gesichtslosen Kandidaten schließlich im Gespräch gegenübersitzt. Die Bewerberin mit der schön geschwungenen Handschrift ist in Wahrheit: ein Mann.
„Das sind für mich oft die Aha-Erlebnisse“, sagt Bürkle. Wenn schon Kleinigkeiten falsche Vorstellungen hervorrufen, was würde dann erst passieren, wenn er in den Unterlagen ein Foto sähe, einen Geburtsort, der sehr exotisch klingt, oder bloß einen Vornamen, wie ihn jemand trägt, mit dem man gerade zufällig im Streit liegt? Man kann seine Vorurteile nur schwer besiegen. Aber man kann sie austricksen. „Ich möchte so neutral wie möglich entscheiden können“, sagt Bürkle.
Der Mittelständler steht damit jedoch relativ allein. 2013 beteiligte Bürkle sich mit vier weiteren Privatunternehmen an einem Modellprojekt des Landes Baden-Württemberg zur anonymen Bewerbung – und blieb dabei, während die meisten anderen Firmen den Versuch nicht weiterverfolgten. An einem Pilotprojekt der Antidiskriminierungsstelle des Bundes nahmen vor sieben Jahren Großunternehmen wie die Deutsche Post, L’Oréal, Procter & Gamble und die Deutsche Telekom teil. Die Bewerbung ohne Namen und Foto beibehalten haben nach dem Test aber nur öffentliche Stellen, etwa das Familienministerium und die Stadtverwaltung Celle.
Und nun macht die Landesverwaltung in NRW die Rolle rückwärts: Die anonymisierte Bewerbung habe sich „nicht bewährt“, heißt es im Koalitionsvertrag der neuen schwarz-gelben Regierung. Das ist erstaunlich, weil eine Evaluation 2013 ergab, dass keine Behörde Schwierigkeiten mit der Umsetzung hatte. Migrantinnen und Migranten wurden so häufig zum Gespräch eingeladen, wie es der Anzahl ihrer Bewerbungen entsprach: Man mag das Ergebnis zwar mit Vorsicht betrachten, weil die Zahl der untersuchten Stellen klein war und nicht alle Job-Aspiranten den Fragebogen der Forscher ausfüllten. Doch statt die Erfahrungen genauer auszuwerten, stampft Schwarz-Gelb das Projekt lieber ganz ein.
Zu schwarz für die Kunden
Weg mit dem Foto, weg mit dem Namen, ein unverstellter Blick auf das, was zählt: Die Idee klingt einfach und einleuchtend und ist doch umkämpft. Warum trifft sie auf so viel Widerstand?
Dass Diskriminierung im Job nur ein Phantomproblem wäre, kann der Grund nicht sein. Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration schickte vor einigen Jahren an 1.800 Betriebe fiktive Bewerbungen um einen Ausbildungsplatz als Kfz-Mechatroniker und Bürokaufmann, mal mit türkischem, mal mit deutschem Namen. Das Ergebnis: Tim und Lukas wurden im Schnitt nach fünf Bewerbungen zum Gespräch eingeladen. Hakan und Ahmet brauchten dagegen sieben Anläufe – bei gleichen Schulnoten und gleicher Qualifikation. Zu einem ähnlichen Befund kamen zwei Ökonomen der Uni Konstanz, als sie Praktikumsbewerbungen verschickten. Selbst bei Schnupperarbeitseinsätzen hatten Bewerber mit deutschem Namen eine um 14 Prozent höhere Chance auf ein Vorstellungsgespräch als ihre Kommilitonen, die Fatih und Serkan hießen. Die Beratungsfälle, die in der Antidiskriminierungsstelle des Bundes auflaufen, sprechen ebenso dagegen, dass Benachteiligung bei Bewerbungen ein Randphänomen wäre. Da meldet sich etwa ein Ostafrikaner, der einen Job nicht bekam, weil er „zu schwarz“ für die Geschäftskunden wäre. Oder ein deutscher Ingenieur mit arabischem Migrationshintergrund, der 180 Bewerbungen verschickte, ohne zu einem Gespräch eingeladen worden zu sein, trotz des Fachkräftemangels, den Arbeitgebervertreter sonst lauthals beklagen. Am Ende fand er eine Stelle in der Schweiz. Von den rund 16.000 Beratungsfällen, die die Antidiskriminierungsstelle seit ihrer Gründung 2006 bearbeitet hat, bezogen sich 1.592 auf die Jobsuche – fast jede zehnte Anfrage also.
Die Scheu der Unternehmen vor der anonymen Bewerbung mag damit zu tun haben, dass sie ihre Rationalität bei Stellenbesetzungen notorisch überschätzen. Der Wirtschaftspsychologe Uwe Kanning von der Hochschule Osnabrück bemängelt, dass von der vielen Forschung zur Personalauswahl in den Betrieben kaum etwas ankommt. Studien ergeben: Lücken im Lebenslauf sagen nichts über die Leistungsfähigkeit aus. Personaler suchen die Unterlagen dennoch fieberhaft nach verdächtigen Leerstellen ab. Wissenschaftler sind sich einig: Das lockere Vorstellungsgespräch eignet sich kaum, um die besten Kandidaten zu erkennen. 95 Prozent der Unternehmen machen es trotzdem so. Personalverantwortliche meinen mit den Jahren, ein Gespür für den richtigen Bewerber zu entwickeln, dabei haben sie keine Ahnung, ob viele der Aussortierten sich nicht als die besseren Mitarbeiter erwiesen hätten. „Viele Unternehmen glauben, bei ihnen werde nicht diskriminiert“, sagt Christine Lüders, die Leiterin der Antidiskriminierungsstelle. „Dass viele Vorurteile unbewusst wirken, ist da leider schwer zu vermitteln.“
Hinzu kommt: Die Anonymisierung wirkt auf den ersten Blick aufwendig und kompliziert. Tatsächlich ist sie zumindest nicht trivial. Wird das Geburtsdatum ausgeblendet, lässt sich aus der Anzahl der Berufsjahre auf das Alter schließen und fehlschließen: Ein junger Einsteiger sieht auf dem Schreibtisch des Personalers mit einem Mal aus wie die Mutter, die wegen der Kindererziehung aussetzte. Oder die Angaben zu den Sprachkenntnissen offenbaren eine Migrationsgeschichte, die eigentlich das Geheimnis des Bewerbers bleiben sollte, und beim deutschstämmigen Türkischlerner vielleicht nicht mal eine ist.
Mitunter können die Folgen einer anonymen Bewerbung sogar ganz anders ausfallen, als man es erhofft. Das zeigt das Beispiel Frankreich. Dort ist die Bewerbung ohne Namen und Gesicht seit 2006 für Unternehmen mit mehr als 50 Mitarbeitern gesetzlich vorgeschrieben – theoretisch. Praktisch fehlen bis heute die Ausführungsbestimmungen für die Umsetzung. Dafür startete die französische Arbeitsagentur einen großangelegten Feldversuch. Unternehmen, die der Agentur offene Stellen meldeten, konnten an einem Experiment teilnehmen: Die Arbeitsvermittler würden ihnen Bewerbungen nach dem Zufallsprinzip anonymisiert oder in klassischer Form weiterleiten. Zehn Monate lief der Versuch, rund 1.000 Firmen beteiligten sich. Es ist bis jetzt eine der verlässlichsten Studien zum Verfahren.
Männer laden Männer ein
Das Ergebnis spricht für die Anonymisierung, und gleichzeitig scheinbar dagegen. Ließ die Arbeitsagentur den Firmen geschwärzte Lebensläufe zukommen, wurden Frauen häufiger zum Gespräch eingeladen. Das Ausblenden von Namen, Alter, Geschlecht oder Familienstand durchbrach zudem die Tendenz der Personalverantwortlichen, ihresgleichen ins Vorstellungsgespräch zu bitten. Ohne Anonymisierung luden Männer eher Männer und Frauen eher Frauen ein. Fehlten die Angaben, gab es keinen Unterschied mehr.
Umso mehr erstaunte die Forscher, was sie bei Job-Suchenden mit Migrationshintergrund feststellten. Von der Anonymisierung der Bewerbung profitierten Migranten kaum, im Gegenteil: Sie kamen sogar seltener zum Zuge. Auch Forscher, die das deutsche Projekt untersucht haben, finden solch merkwürdige Ergebnisse. Alles in allem, heißt es in der Abschlussstudie der Antidiskriminierungsstelle, verbessert die Anonymisierung die Chancen für Frauen und Migranten. Manchmal schien allerdings das Gegenteil einzutreten: In einem Fall verschlechterten sich die Aussichten für Bewerber mit Migrationshintergrund, in einem anderen für Frauen.
„Wir hatten in dem Projekt wahrscheinlich keine repräsentative Auswahl von Arbeitgebern, sondern vor allem solche, für die Diversität ohnehin ein Thema war“, sagt Annabelle Krause vom Bonner Institut zur Zukunft der Arbeit. Ähnlich erklären es die französischen Forscher: Die teilnehmenden Unternehmen hatten häufiger als andere angegeben, bereits Maßnahmen gegen Diskriminierung ergriffen zu haben. Gut möglich, dass einige Betriebe gezielt Frauen oder Migranten gefördert hatten und durch die Anonymisierung zurückgestutzt wurden. „Das Verfahren kann unterschiedlich wirken. Es kann negative Diskriminierung vermeiden, aber eben auch positive“, sagt Krause.
Der Streit um anonyme Bewerbungen zielt mitten in eine heikle Gerechtigkeitsdebatte: Sollen allein Leistungen den Ausschlag geben, oder kann man mehr Fairness nur erreichen, wenn man unterrepräsentierte Gruppen bewusst bevorzugt? In den USA, wo manche Universitäten die Zulassungsbedingungen für afroamerikanische Interessenten niedriger halten, beschäftigt die Frage seit Jahrzehnten die Gerichte. Die Trump-Regierung will die Regelung prüfen. Unternehmen in Deutschland verweisen gern darauf, die anonyme Bewerbung durchkreuze ihre gutgemeinten Förderansätze – etwa der Elektrokonzern Bosch, der nach dem baden-württembergischen Pilotversuch wie so viele wieder ausgestiegen ist. Die Blind-Bewerbung würde dem Ziel zuwiderlaufen, mehr Frauen zu rekrutieren, sagt ein Sprecher. Das kann schnell zum Vorwand werden. Zumal der Gegensatz längst nicht so eindeutig ist. Das beweist etwa Nordrhein-Westfalen, das Land, in dem die anonyme Bewerbung gekippt werden soll. Innerhalb der Behörden hat eine zweite Stelle die Einladungen zum Vorstellungsgespräch überprüft: Wo die Personalverantwortlichen zu wenige weibliche Kandidaten eingeladen hatten, justierte sie nach. Bei 89 untersuchten Stellenbesetzungen passierte das immerhin dreimal.
Die neue Regierung in Düsseldorf will das Verfahren nun durch ein besseres ersetzten. Bloß durch welches? Das kann man im zuständigen Integrationsministerium nicht sagen. Die Suche habe ja gerade erst begonnen.
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