Als Ende 2000 der Europäische Rat die Regelungen für eine Europäische Aktiengesellschaft beschloss, atmete der DGB-Vorsitzende Dieter Schulte hörbar durch: "Nach mehr als 20 Jahren ist es endlich gelungen, die Mitbestimmung in der europäischen Aktiengesellschaft zu verankern. Damit haben diejenigen, die die Vorteile der Mitbestimmung zu schätzen wissen, sich über Bedenkenträger und Mitbestimmungsgegner in anderen europäischen Ländern hinwegsetzen können. Nach der Richtlinie über die Europäischen Betriebsräte hat nun auch die Mitbestimmung in den Unternehmen in Europa Fuß fassen können."
Ist die Richtlinie in nationales Recht umgesetzt, blüht in der Mitbestimmungswüste EU ein zweites, wenn auch zartes Pflänzchen. Zwar ist jede Euphorie verfrüht, aber zumindest ist deutlich, dass Regelungen auch in einem sich globalisierenden Kapitalismus möglich sind. Vor Jahresfrist hörte sich das aus dem gewerkschaftlichen Umfeld stellenweise noch ganz anders an. So hieß es im Editorial der von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung herausgegebenen Mitbestimmung: "Und der globale, digitale, noch flexiblere Kapitalismus... führt erst recht die Chimäre vor, er sei dauerhaft domestizierbar."
Solch postmoderne Gewissheit über das Ende der Geschichte dürfte sich durch die EU-Richtlinie kaum beeindrucken lassen. Die dahinter stehende Analyse geht nämlich von einer grundlegenden Veränderung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie aus. Nahezu klassisch hat das vor einiger Zeit Rainer Hank, Leiter des Wirtschaftsressorts beim Berliner Tagesspiegel und neoliberaler Vorturner formuliert: "Wo es langgeht in der Wirtschaft, sagen die Aktionäre. Sie haben ihre Agenten - in Gestalt der Aktienanalysten und der Fondsmanager. Diese Agenten sagen den Unternehmen, was sie zu tun haben: Unternehmensteile abspalten, die nicht passen, andere Unternehmen zukaufen, wenn sie passen, so lautet der Rat, der dann zu Mergern und Demergern führt, zu Übernahmen, Fusionen und Konkursen... Politik muss reagieren auf die Bedürfnisse der Unternehmen, indem sie Rahmenbedingungen des Wirtschaftens so gestaltet, dass Angebot und Nachfrage ungehindert (also ohne Monopole und Kartelle) zueinander kommen... Das Verhältnis zwischen Politik und Wirtschaft dreht sich. Die Wirtschaft kann von der Politik Disziplin erzwingen: fiskalische und sozialpolitische. Das ist der Kern der These von der Schwächung der Nationalstaaten. Das ist - im Übrigen - auch gut so."
Auf der EU-Ebene ist diese Machtverteilung, wenn man so will, im Bereich der grenzüberschreitenden Unternehmenszusammenschlüsse die Realität. Bei einer Übernahme oder Fusion prüft die Kommission deren Wirkung auf die Wettbewerbssituation, nicht aber auf andere Folgewirkungen wie etwa Arbeitsplätze. Hier liegt ein Problem. Denn praktisch sämtliche Zusammenschlüsse - so Tony Edwards, der an der britischen Kingston University zu diesem Thema forscht - haben zu einem Arbeitsplatzabbau geführt. Für ihn ist das eine typische Folge, die unabhängig davon gilt, ob der Prozess stark mitbestimmt abläuft, wie in Skandinavien, oder wie in Großbritannien, wo Arbeitnehmer oft aus dem Radio erfahren, dass ihr Unternehmen verkauft wurde. So geschehen beim Zusammenschluss von GlaxoWelcome und Smithkline, der einige Tausend Arbeitsplätze kostete.
Eine solche Beobachtung muss keineswegs zu dem Schluss führen, dass Fusionen generell Teufelszeug seien. Mitunter können mit Blick auf die Ökonomie insgesamt durchaus Arbeitsplätze gerettet werden, weil der Verlust beim Versuch, es allein zu schaffen, noch größer gewesen wäre. Möglicherweise nämlich wären beide Partner in den Konkurs gelaufen. Sicherung von Arbeitsplätzen auf gesamtwirtschaftlicher Ebene ist aber nicht das Motiv bei Übernahmen. Deshalb drängen die Gewerkschaften auf eine Folgenabschätzung bei Fusionen und Mitsprache bei deren Gestaltung. Es gehe bei Unternehmenszusammenschlüssen nicht nur um ökonomische Kennziffern, sondern vor allem um Menschen. So der belgische Gewerkschafter Dirk Ameel im Resümee einer Tagung zum Thema Fusionen, die veranstaltet von Eurocadres (einem gewerkschaftlichen Zusammenschluss qualifizierter Angestellter), im Dezember in Brüssel stattfand.
Die Tatsache, dass eine entsprechende Richtlinie in der Kommission seit langem diskutiert wird, zeigt einerseits, dass die Politik sich keineswegs darauf beschränkt, neoliberalen Wunschbildern entsprechend auf die Bedürfnisse der Unternehmen zu reagieren. Andererseits wird aber auch klar, dass die Gewerkschaften Forderungen aufstellen und kein wirkliches Mittel in der Hand haben, ihnen Nachdruck zu verleihen. Ursache für diese Situation des kollektiven Bettelns ist die Tatsache, dass es auf internationaler Ebene keine Tarifverträge gibt. Und der europäische Arbeitgeberverband UNICE weigert sich hartnäckig, auch nur in die Nähe eines Vertrages zu kommen. Gemeinsame Erklärungen, Dialog, Gedankenaustausch all das ist kein Problem; aber auch nichts, was nach Tarifvertrag aussehen könnte. Angebote liegen auf dem Tisch, etwa zum Thema Weiterbildung und lebenslanges Lernen. Am Rande bemerkt: Einige Gewerkschaften in den EU- Staaten dürften ganz froh über diese Haltung sein, denn so brauchen sie nicht Farbe zu bekennen. Ein Stück Tarifhoheit nach Europa abzugeben, ist nämlich mindestens so schmerzhaft wie die Abgabe nationaler Rechte an die EU.
An der Tariffähigkeit der internationalen Gewerkschaftsbünde führt aber letztlich kein Weg vorbei. Die Ansatzpunkte dafür liegen offen zu Tage. Auf der erwähnten Tagung in Brüssel erklärte der - für einige Zeit an UNICE "ausgeliehene" - Personalchef von Siemens, Frank Doberstein, dass bei Fusionen die Zusammenführung der unterschiedlichen Unternehmenskulturen entscheidend für die Motivation der Mitarbeiter sei. Ohne Motivation wird es in einer zunehmend wissensbasierten Wirtschaft bekanntlich schwierig. Hierbei könnten, so Doberstein, Unternehmensleitungen und Betriebsräte eng zusammenarbeiten. Das ist richtig und für den Fall, dass Euro-Betriebsräte vorgeschrieben sind, auch verpflichtend. Richtig ist auch, dass das für jeden Betrieb sehr spezifisch angepasst sein muss. Wenn man sich allerdings ansieht, dass sich die Zahl der grenzüberschreitenden Fusionen laut UNO zwischen 1991 und 1999 verzehnfacht hat, wäre es für jedes konkrete Unternehmen eine Erleichterung, wenn es einen Rahmentarif gäbe, der das Gröbste regelt und genügend Spielraum für den Rest lässt.
Insgesamt hat der globale, digitale, noch flexiblere Kapitalismus gewiss keine Lust sich domestizieren zu lassen. Er hat aber auch Interessen. Das zentrale Interesse heißt Überleben. Dafür braucht er das Wissen und die Arbeitskraft der Menschen, die ihrerseits Interessen haben. Den entsprechenden Ausgleich zu finden, hilft allen. Und ist machbar.
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