Die tieferen Ursachen wachsender Ungleichheit

Ein neuer Deutungsansatz. Über kaum ein Thema wird gegenwärtig mehr debattiert als über die wachsenden Einkommens- und Vermögensunterschiede. Erweisen sich gängige Erklärungsansätze als Irrwege?

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Ist es die Aneignung von Mehrwert durch den Kapitalisten oder sind es die Zinsforderungen der Geldelite, die Einkommensdivergenzen ursächlich bewirken? Beide Sichtweisen finden viel Zuspruch, ja es kommt zuweilen zu heißen Disputen.

Dennoch gibt es in beiden Konzepten Unzulänglichkeiten, die sie daran hindern, zu den zentralen Ursachen der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich vorzudringen. Die Aussagekraft der Marxschen Werttheorie wird dadurch relativiert, dass sie allein unter Bedingungen allgemeiner Konkurrenz gültig ist. Die Theorien von Silvio Gesell und John Maynard Keynes fußen auf der Annahme, dass Geld gezielt gehortet wird. Neben diesen Einschränkungen sticht die mangelnde Berücksichtigung politischer Faktoren hervor.

Positiv ist zu werten, dass ein Verständnis für die Existenz von Interessenkonstellationen und Mechanismen geweckt wird, die das Verhalten der Wirtschaftssubjekte lenken. So werden Erklärungsmodelle abgelehnt, die wachsende Einkommensunterschiede als ein Werk elitärer Zirkel betrachten, denen es um einen Erhalt und Ausbau von Macht zur Umsetzung der eigenen Agenda geht.

Einkommen nicht aus dem Kapitalverhältnis ableitbar

Nach der Werttheorie von Karl Marx bekommen Lohnarbeiter nur einen Teil ihrer Tätigkeit vergütet, während der Rest des Warenwerts in den Besitz des Produktionsmitteleigentümers übergeht. Diese Fremdaneignung von Mehrwert ermöglicht eine Bereicherung der Kapitalisten bei gleichzeitiger relativer Verelendung der Arbeiterklasse. Sie sei somit der Schlüssel für die wachsende Ungleichheit.

Die Höhe der Löhne wird durch den Kostenaufwand erklärt, der minimal für die Reproduktion der Arbeitskraft notwendig ist. Der Profit des Kapitalisten ermittelt sich aus der Differenz von Verkaufserlös und Produktionskosten inklusive Abschreibungen. Zwar speist er sich aus dem Mehrwert, der dem Lohnarbeiter abgepresst wird. Dennoch lässt sich schwerlich eine kausale Beziehung zwischen der Stellung im Produktionsprozess und der Höhe der Einkommen herstellen. Tatsächlich finden sich empirische Belege für üppige Lohnzuwächse wie für spärliche Profitmargen, die zu bestimmten Zeiten und in manchen Bereichen aufgetreten sind.

Da die Arbeitskraft im Kapitalismus eine Ware ist, orientiert sich ihr Preis an der Relation von Angebot und Nachfrage. Auch wenn sich beide durch das Wirken des Wertgesetzes tendenziell angleichen, gibt es immer wieder Ausreißer, die Lohnabhängige begünstigen. Bessere Gehälter werden etwa in Wachstumsbranchen gezahlt, wenn ein Mangel an fachkundigem Personal herrscht. Ein hohes Lohnniveau hat meist für längere Zeit Bestand, sei es aus tarifrechtlichen Gründen, sei es aus Furcht vor einer Belastung der Arbeitsatmosphäre. Weil die Reproduktionskosten der Arbeitskraft eine absolute Untergrenze bilden, muss also der Durchschnittslohn merklich darüber liegen.

Die Arbeiterschaft der entwickelten kapitalistischen Länder konnte ihre materielle Lage durch gewerkschaftliches und politisches Engagement schrittweise verbessern. Bedeutende Lohnsteigerungen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg durchgesetzt, als die europäische Wirtschaftselite geschwächt und ein Zustand relativer Vollbeschäftigung erreicht war. Durch die neue Konstellation am Arbeitsmarkt sah sich die Kapitalseite in den darauffolgenden Jahrzehnten veranlasst, die Interessen der Beschäftigten stärker zu berücksichtigen.

Für ein Unternehmen empfiehlt es sich, Spitzenkräfte besser zu entlohnen, damit sie nicht zur Konkurrenz abwandern. Daneben wird durch Zugeständnisse an die Belegschaft einer ungewollten Fluktuation vorgebeugt. Ebenso ist zu berücksichtigen, dass Branchen durch ein höheres Lohnniveau unterschiedlich betroffen sind. Als Henry Ford die Gehälter seiner Beschäftigten verdoppelte und dadurch andere Arbeitgeber unter Zugzwang setzte, geschah dies mit dem Kalkül, von der neu geschaffenen Kaufkraft überproportional profitieren zu können. Die Anhebung des Wohlstandsniveaus nach dem Zweiten Weltkrieg diente wiederum dem Zweck, den Systemwettbewerb zugunsten der westlichen Gemeinschaft zu entscheiden.

Trotz Aneignung des Mehrwerts müssen Kapitalisten nicht unbedingt über hohe Geldeinkünfte verfügen. Wo Betriebe unter niedriger Produktivität und harter Konkurrenz leiden, werden nicht nur Investitionen erschwert, sondern verbleiben meist auch weniger Mittel für den persönlichen Bedarf. Darüber hinaus bestehen erhebliche Unterschiede zwischen Wirtschaftssektoren und Regionen. Ein Facharbeiter auf einer Ölplattform verdient vermutlich mehr als mancher Eigentümer eines mittelständischen Unternehmens. Und nur wenige griechische Restaurantbesitzer erreichen das Einkommensniveau schwedischer Techniker.

Gutverdienende Lohnempfänger sind in der Lage, einen Teil ihrer Einkommen gewinnbringend anzulegen und dadurch selbst Kapitaleigner zu werden. Eine Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand wird seit den 60er Jahren in Deutschland sogar staatlich gefördert. Dagegen sind nicht wenige Unternehmer fortwährend von Konkurs bedroht. Viele leben recht bescheiden, sei es aus Stolz, sei es aus Mangel an Verdienstalternativen. Zudem erscheint eine Teilung der Bürger in Lohnarbeiter und Kapitalisten angesichts der Vielfalt an Eigentumsstrukturen und Beschäftigungsformen wie auch der Streuung von Kapitalanlagen nicht mehr zeitgemäß.

Zweifel am Erpressungspotential der Geldelite

Nach Karl Marx schafft Geldkapital keinen Mehrwert. Dennoch betrachtet er Banken als für die Realwirtschaft unverzichtbar, da Unternehmen häufig Geldmittel benötigen, um die Kosten für die Beschaffung von Produktionsmitteln und die Auszahlung von Löhnen vorschießen zu können. Allerdings müssen die Zinsen für die Kredite mit hereingewirtschaftet werden. Die Höhe des Zinsbetrags hat somit einen Einfluss auf Investitionsentscheidungen.

Gemäß dem Sayschen Gesetz bestimmt sich der Zinssatz aus der Relation von Kreditangebot und -nachfrage. Er müsste demnach sinken, wenn Finanzmittel im Überfluss vorhanden sind. Geldbesitzer können jedoch nicht zu einer Kreditvergabe gezwungen werden. Mittels Hortung von Geld hätten sie die Möglichkeit, das Angebot zu verknappen und von Kreditnehmern höhere Zinsen zu erpressen. Die Finanzelite würde sich nicht nur zu Lasten anderer Wirtschaftsakteure bereichern, sondern könnte eine bedeutende Macht über sie erlangen.

Der Verhinderung eines solchen Szenariums dient die von Silvio Gesell begründete Freiwirtschaftslehre. Deren erklärtes Ziel ist es, Geld bei Strafe von Verlusten in den Wirtschaftskreislauf zu zwingen. So könnten Kreditbelastungen der Unternehmen minimiert und Investitionen beflügelt werden. Zugleich ließe sich die Macht des Geldadels brechen, da die Umverteilung des gesellschaftlichen Reichtums zu dessen Vorteil beendet wäre. Durch die Umsetzung von Freigeldkonzepten, die auf dem Prinzip der Alterung von Geld beruhen, würde sich folglich die Kluft zwischen Arm und Reich verringern.

Zwar wurde die Freiwirtschaftslehre nirgendwo auf staatlicher Ebene praktiziert, jedoch dürften Niedrigzinspolitik und Quantitative Easing der Notenbanken gleichermaßen eine Hortung von Geld unattraktiv machen. Nun wird mancherorts der Finanzbranche vorgeworfen, sie würde die niedrigen Notenbankzinsen nicht an Unternehmen und Verbraucher weiterreichen. Doch haben Banken ein verständliches Interesse an einer Minimierung von Risiken. Daher gab es auch früher keine billigen Kredite für waghalsige Geschäfte und bei schlechten Bonitäten, obwohl zu jenen Zeiten deutlich höhere Wachstumserwartungen bestanden.

Eine Zurückhaltung von Geld zum Zweck der Erpressung höherer Zinsen würde indes den Spekulanten selbst schaden. Deshalb wäre bei einem Bekanntwerden neuer lukrativer Investitionsobjekte zu erwarten, dass eine „Boykottfront“ der Geldbesitzer schnell bröckeln würde. Ebenso wenig erscheint die differenziertere Betrachtung von John Maynard Keynes plausibel, dass sich die Liquiditätspräferenz bei sinkenden Kapitalerträgen erhöhen würde. Während angelegte Vermögen eine regelmäßige Rendite erwirtschaften oder wegen Knappheit einen Wertzuwachs erzielen, verliert gehortetes Geld durch Inflation. Darüber hinaus ist die Gefahr von Währungsschnitten keineswegs gebannt.

Demgegenüber ist das Verlustrisiko bei Aktien und Anleihen großer Kapitalgesellschaften gegenwärtig als gering anzusehen. Nicht einmal das Argument einer Suche nach profitablen Anlagen im spekulativen Bereich überzeugt. Da es sich hierbei letztlich um Nullsummenspiele handelt, werden im gleichen Umfang Gewinne und Verluste realisiert.

Kein Geldentzug durch Zinsgewinne

Ausgehend von den Grundüberlegungen der Freiwirtschaftslehre hat sich unter Ökonomen eine Sichtweise etabliert, die Zinsforderungen der Banken für den zunehmenden Verschuldungsgrad einer Volkswirtschaft verantwortlich macht. So wird konstatiert, dass der Gesamtwert der gekauften Waren und Dienstleistungen gerade der Geldmenge multipliziert mit deren Umlaufgeschwindigkeit entspricht. Folglich besitzt die Kreditvergabe als Mittel der Geldschöpfung eine zentrale Funktion. Weil es als wünschenswert gilt, dass sich die Geldmenge im Gleichschritt mit der Wirtschaftsleistung vermehrt, sollte die Gesamtverschuldung in entsprechendem Umfang zunehmen.

Die Zinsforderungen würden nun aber einen Strich durch diese Rechnung machen. Da die Zinsbeträge der umlaufenden Geldmenge entnommen werden müssten, würde diese sich zwangsläufig vermindern. Dies hätte dann negative Auswirkungen auf das volkswirtschaftliche Gesamtprodukt. Zur Kompensation müsste neues Giralgeld geschaffen werden, was jedoch nur durch Kreditvergabe möglich sei. Wegen des Zinseszinsmechanismus würde sich die Schuldensumme fortlaufend erhöhen. Die wachsenden Zinserlöse würden in das Eigentum der Geldbesitzer übergehen, wohingegen die Allgemeinheit durch steigende Verbindlichkeiten belastet wäre. Dadurch würde sich die Kluft zwischen Arm und Reich vertiefen.

Wird der für Zinsen aufzubringende Geldbetrag aber tatsächlich der Wirtschaft entzogen? Neben Zinseinnahmen verfügen Banken über Einkünfte aus Gebühren und Leistungsvergütungen. Die Ausgaben beim Bankgeschäft betreffen Mieten, Abschreibungen, Büro- und anderes Material, externe Dienstleistungen, Löhne, Dividenden und Steuern. Ferner müssen an Sparkonteninhaber Zinsen gezahlt und Ausfälle durch zahlungsunfähige Kreditnehmer geschultert werden. Hierdurch gelangt aber das Gros der Zinsbeträge mit zeitlicher Verzögerung in den Wirtschaftskreislauf zurück, während ein Teil der Zinsforderungen im Zuge von Verlustabschreibungen verschwindet.

Die Zweckmäßigkeit von Zinsen lässt sich kaum bestreiten. Privathaushalte erhalten als Gegenleistung für Zinszahlungen den Vorteil, ihren Konsum zeitlich vorzuverlegen. Dabei erscheint es angemessen, dass Vergabe und Bedingungen eines Kredits von der Bonität abhängig gemacht werden. Der Bank fällt bei Strafe eigener Verluste diese Aufgabe zu. Was bei Privathaushalten der Konsum ist, sind für Staaten und Kommunen gesellschaftlich relevante Leistungen und für Unternehmen die Möglichkeit, Gewinne zu erwirtschaften. So leistet das Zinssystem einen wichtigen Beitrag zur optimalen Allokation von Finanzmitteln.

Die Tätigkeit von Banken ist mit der von Versicherungen oder Wettbüros vergleichbar. Zinsen sind somit nichts anderes als Entgelte für Finanzdienstleistungen unter Berücksichtigung abzudeckender Risiken. Zwar bereichern sich die Aktionäre der Banken sowie die Inhaber von Anleihen und Spareinlagen zu Lasten der Kreditnehmer. Jedoch besteht hinsichtlich der Auswirkungen auf die Einkommens- und Vermögensunterschiede kein prinzipieller Unterschied zu Kapitalerträgen in anderen Bereichen. Weder die meisten Banken noch die Besitzer von Anleihen bekleiden herausragende Positionen in der globalen Machtpyramide.

Steigende Einkommen durch Vermögenszuwachs

Unbestreitbar verfügen Kapitalisten wie auch Geldbesitzer über eine Einnahmequelle, zu der normale Lohnarbeiter keinen Zugang haben. Gleichwohl gibt es andere Wege, um überdurchschnittliche Einkommen zu generieren. Mit höherer Qualifikation steigen allgemein die Löhne. Bei besonderem Talent und Wissen winken Spitzengehälter. Als vorteilhaft erweisen sich ferner soziale Kompetenz, Referenzen, Kontakte zu einflussreichen Personen und besonderes Engagement. Die Höhe der Geldbezüge wird zudem durch diskriminierende Faktoren beeinflusst wie Alter, Geschlecht, Staatsbürgerschaft und Kulturhintergrund.

Offenbar ist für die Erklärung der wachsenden Schere zwischen Arm und Reich weniger relevant, worauf Einkommen im Einzelnen beruhen, als vielmehr deren Umfang. Im Folgenden werden drei Mechanismen thematisiert, die Bezieher hoher Geldeinkünfte zwingend begünstigen und dabei eine Eigendynamik entfalten. Die Kluft zu einkommensschwachen Haushalten vertieft sich sowohl relativ mittels größerer prozentualer Zuwächse als auch absolut durch Umverteilung.

Der erste Mechanismus erklärt sich aus der Verwendung von Finanzmitteln durch Privathaushalte. Bei diesen handelt es sich um regelmäßige Einkünfte wie auch um Vermögen aus Rücklagen und einmaligen Zuwendungen etwa durch Erbschaften oder Glückspielgewinne. Ihre Größe hat einen wesentlichen Einfluss darauf, zu welchen Anteilen Geld einerseits für konsumtive Zwecke ausgegeben und andererseits gespart wird.

Trotz erheblicher Unterschiede zwischen Ländern und Kulturräumen kann generell angenommen werden, dass die Spartätigkeit zumindest innerhalb einer Volkswirtschaft mit der Höhe der Geldeinkünfte zunimmt. Gespart wird für künftige Anschaffungen, aber auch ohne konkreten Verwendungszweck. So bleiben zwangsläufig Finanzmittel übrig, wenn ein Privathaushalt seine Konsumbedürfnisse maximal befriedigen kann. Diese werden für gewöhnlich gewinnbringend angelegt.

Dadurch entsteht nun ein Potential für zusätzliche Einkommen in Gestalt von Kapitalerträgen. Je höher sich jemand in der Einkommenspyramide befindet, desto größere Vermögen kann er anhäufen und sich durch Anlagetätigkeit dauerhaft bereichern. Aufgrund dieser zusätzlichen Geldquelle vertieft sich die relative Kluft zwischen Arm und Reich auch dann, wenn alle bisherigen Einkommen prozentual gleich wachsen.

Vergleichbare Möglichkeiten, nicht verbrauchte Geldeinkünfte gewinnbringend anzulegen, bieten sich Gemeinschaften jeder Art und insbesondere öffentlichen Haushalten. Verfügen Staaten oder Kommunen über reichliche Steuereinnahmen und Kapitalerträge, dann verbleiben meistens Mittel für zusätzliche Investitionen in Infrastruktur, Bildung und Forschung. So können sie ihren Vorsprung sichern und ausbauen, woraufhin das Gefälle zu schwächeren Regionen weiter wächst.

Bereicherung durch Veränderung der Marktlage

Ein weiterer Mechanismus beruht auf den unterschiedlichen Wettbewerbskonstellationen, unter denen Wirtschaftssubjekte agieren. Verständlicherweise ist jeder Marktteilnehmer daran interessiert, beim Verkauf auf möglichst wenig Konkurrenz zu stoßen, während ihm auf der Einkaufsseite ein harter Wettbewerb der Anbieter entgegenkommt. Je umfangreicher die Machtinstrumente eines Akteurs sind und je effektiver er sie einsetzen kann, desto erfolgreicher wird er die Wettbewerbsbedingungen zu seinem Vorteil verändern können.

Wirtschaftssubjekte, die eine günstige Marktposition anstreben, sind Individuen, Gemeinschaften, Unternehmen und staatliche Akteure. Als dienlich erweisen sich ein dickes finanzielles Polster und eine exklusive Stellung, etwa aufgrund besonderer Fähigkeiten und Kenntnisse. Von Vorteil sind ebenso eine Verfügungsgewalt über geologische und biologische Ressourcen, eine gute geografische Lage und ein großer Markt. Schließlich hilft ein „Gespür“ für künftige technologische Durchbrüche wie auch bei der Auswahl der richtigen Partner.

Befindet sich ein Wirtschaftsakteur bereits in einer günstigen Wettbewerbssituation, so ist er meist imstande, diese weiter auszubauen. Einmal bestehende Konstellationen neigen offenbar dazu, sich zu reproduzieren und zu verstärken. Dennoch ereignen sich angesichts der Vielzahl von Einflussfaktoren und deren schwieriger Kalkulierbarkeit zuweilen unerwartete Verschiebungen.

Vorteilhafte Wettbewerbsbedingungen werden in der Wirtschaft mit dem Begriff Marktmacht umschrieben. Diese bekommen sowohl Käufer als auch Lieferanten zu spüren. Als Käufer sind etwa Konsumenten betroffen, die hohe Preise zahlen müssen, weil große Einzelhandelsketten den Markt beherrschen. Unternehmen werden häufig unverhältnismäßig geschröpft, wenn sie beim Erwerb von Produktionsgütern und Ausgangsstoffen auf einige wenige Anbieter angewiesen sind.

Aus Lieferantensicht besteht eine ungünstige Wettbewerbslage, wenn harte Konkurrenz zu Preisnachlässen zwingt. Indem es der Wirtschaftselite gelungen ist, ein riesiges globales Arbeitskräftepotential zu erschließen, sind abhängig Beschäftigte unter verstärkten Druck geraten. Die nachteiligen Wettbewerbsbedingungen auf dem Arbeitsmarkt manifestieren sich in der Bereitschaft, Lohneinbußen hinzunehmen, höhere Leistungen zu erbringen und schlechtere Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.

Immer mehr Branchen werden durch oligopolistische Strukturen bestimmt. Während Extraprofite in der Marxschen Werttheorie nur zeitlich begrenzt existieren, sind sie bei Kapitalgesellschaften mit beträchtlicher Marktmacht zur Dauererscheinung geworden. Soweit diese global agieren, können sie Staaten unter Druck setzen, zumal das Angebot an Produktionsstandorten die Nachfrage bei weitem übertrifft. Um Investoren zu gewinnen, sehen sich Regierungen gezwungen, Vorleistungen und Steuerermäßigungen zu gewähren. Werden Großunternehmen als volkswirtschaftlich relevant betrachtet, dann sind politische Entscheidungsträger oft bereit, Grundprinzipien wie die Gewährleistung fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Wirtschaftsakteure aufzugeben.

Umverteilung durch Kostenminimierung

Der dritte bedeutsame Mechanismus, der wachsende Einkommensunterschiede bewirkt, ist in der Investitionstätigkeit von Unternehmen begründet. Steigen die in Kapitalanlagen strebenden Einkommen schneller als die Nachfrage nach Konsumgütern, dann wird es immer schwieriger, für die verfügbaren Geldmittel lukrative Einsatzmöglichkeiten im produktiven Bereich zu finden. Zwar müssen weiterhin Ersatzinvestitionen getätigt werden. Kapitalanlagen zum Zweck einer Erhöhung des Produktionswertes sind indessen immer weniger rentabel, weil es an Kaufkraft mangelt. Auch stoßen Versuche, der Konkurrenz Marktanteile abzujagen oder das Verbraucherverhalten zu eigenen Gunsten zu beeinflussen, bald auf Schranken.

Um dennoch über einen produktiven Kapitaleinsatz höhere Gewinne erzielen zu können, verbleibt die Alternative von Kosteneinsparungen. Diese Möglichkeit bestand bereits, bevor wachsende Einkommensunterschiede eine Nachfrageschwäche verursachten. Der Kostenaspekt blieb jedoch im Hintergrund, solange sich genügend lukrative Investitionstätigkeiten durch Produktionsausweitung und Produktveredelung anboten. Zudem waren zu jener Zeit Finanzmittel nur beschränkt verfügbar, während gegenwärtig Anlagenotstand herrscht.

Einsparungen können sowohl durch eine effektivere Nutzung von Produktionskapazitäten und eine Rationalisierung von Arbeitsabläufen als auch durch einen Einsatz neuer Technologien erzielt werden. Darüber hinaus wird eine Kostenminimierung bei Ausgangsmaterialien und Löhnen angestrebt. Sparpotentiale lassen sich insbesondere über ein Einwirken auf die externen Wettbewerbsbedingungen erschließen. Geschieht dies im Verbund mit politischen Akteuren, dann erhöhen sich die Erfolgschancen. Erreichbar wären optimalere Standortbedingungen, neue Möglichkeiten des Outsourcing von Fertigungsschritten und Dienstleistungen, bessere Konditionen beim Einkauf sowie geringere Lohnkosten.

Während Kosteneinsparungen die Gewinne der Aktionäre erhöhen, sinken die Lohneinkünfte der Belegschaften wie auch die Einnahmen der Zulieferer. Unter ihnen befinden sich zwar ebenso Kapitaleigner. Da diese aber meist dem mittelständischen Bereich oder der globalen Peripherie angehören, sind sie kaum am oberen Ende der Einkommenspyramide zu finden.

Mit der Veränderung der Anteile am Verkaufserlös, die den Beteiligten jeweils zukommen, wachsen die Einkommensunterschiede. Der Umverteilungseffekt wäre geringer, wenn ein Hersteller die Produkte billiger anbieten müsste. Dann würde nämlich die Konsumentenseite zu Lasten der Aktionäre profitieren. Je größer jedoch die Marktmacht einer Kapitalgesellschaft ist, desto wahrscheinlicher wird sie die anvisierten Preise realisieren können.

Barrieren durch Fixierung auf Systemkritik

Das Wachstum der Einkommensunterschiede vollzieht sich im Rahmen kapitalistischer Herrschaftsstrukturen. Daraus wird nun von mancher Seite geschlussfolgert, dass systemüberwindende Schritte unvermeidlich seien. Werden aber die Bedingungen betrachtet, unter denen die maßgeblichen Mechanismen ihre Wirkung entfalten, dann wird deutlich, dass sie keinem bestimmten Wirtschaftssystem unterliegen.

Ein Erwerb von Vermögen, mit dem zusätzliche Einkommen generiert werden, setzt die Möglichkeit eines - individuellen oder gemeinschaftlichen - Besitzes von Anlageobjekten voraus. Eine günstige Wettbewerbskonstellation ist nur vorteilhaft, wenn die Preisgestaltung auf Märkten nicht durch Restriktionen behindert wird. Und damit sich Investitionen auf Bereiche der Kostenminimierung verlagern, bedarf es nicht nur einer stockenden Nachfrage und eines Kapitalüberflusses, sondern Unternehmen müssen gleichermaßen über ihre Investitionen frei entscheiden dürfen.

Bei den Konditionen Eigentum an Anlagevermögen, freie Preisgestaltung und Investitionsfreiheit handelt es sich offenbar um Säulen aller bisherigen Ökonomien, beginnend mit den ersten Hochkulturen des Orients. Historische Bestrebungen, diese Grundlagen des Wirtschaftens partiell außer Kraft zu setzen, waren nur begrenzt erfolgreich und sind allesamt gescheitert. Dies betrifft feudalistische Verhältnisse wie auch staatsgelenkte Systeme von den alten chinesischen Reichen bis zum „realen Sozialismus“ der Neuzeit. Vielfach wurde eine wirtschaftliche Stagnation nur dank der Existenz paralleler Strukturen wie etwa der Handwerkszünfte oder des Merkantilismus verhindert.

Wachsende Einkommensunterschiede gründen sich also weder auf das Kapitalverhältnis noch auf eine vermeintliche Dominanz der Finanzelite. Nun gibt es alternative Wirtschaftsmodelle, die es dennoch für notwendig halten, Lohnarbeit durch genossenschaftliche und gemeinnützige Organisationsformen zu ersetzen oder Geldströme mittels einer Monitativen zu kontrollieren. Soweit sie Machtverschiebungen zugunsten schwächerer Wirtschaftakteure implizieren, würde ihre Realisierung den Trend zunehmender Ungleichheit tatsächlich abschwächen. Um ihn aber stoppen und umkehren zu können, bedarf es zusätzlicher Maßnahmen, die den genannten Mechanismen entgegentreten.

Die meisten Alternativentwürfe erheben den Anspruch, die Marktwirtschaft von verzerrenden Einflüssen des Neoliberalismus zu „säubern“. Im Gegensatz zu planwirtschaftlichen Vorstellungen wollen sie nicht das Eigentum an Anlagevermögen, die freie Preisgestaltung oder die Investitionsfreiheit einzuschränken. Ohne auf die Funktionalität der Konzepte im Einzelnen einzugehen, ist zu konstatieren, dass sich in ihnen ein hohes Maß an Realitätsferne offenbart. Dies artikuliert sich unter anderem darin, dass Probleme des Übergangs wie auch Widerstände, die angesichts der bestehenden Interessen- und Machtkonstellation zu erwarten sind, kaum thematisiert werden.

Neokeynesianische Modelle erweisen sich als praktikabler. Sie stützen einkommensschwache Haushalte über Beschäftigungsprogramme, die durch öffentliche Verschuldung finanziert werden. Zugleich wachsen die Vermögen der Kapitalseite mittels öffentlicher Aufträge und durch Geldanlagen in Staatsanleihen. Aus dieser Alimentation der Wirtschaftsakteure resultiert unweigerlich eine angespannte Finanzlage von Staaten und Kommunen. Endet der Geldfluss, dann schwinden die konjunkturellen Effekte meist recht bald. Dies - und nicht der mangelnde Wille der Politiker – ist der Hauptgrund dafür, dass Staatsschulden nirgendwo signifikant abgebaut worden sind.

Rückbesinnung auf staatliche Steuerungsmaßnahmen

Eine Strategie zur Verminderung der Schere zwischen Arm und Reich kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie den Mechanismen entgegenwirkt, die sie verursachen. Bei dieser Aufgabe reicht augenscheinlich eine Einflussnahme über Gesetze, Verordnungen und Lenkungsinstrumente. Es bedarf keiner tiefgreifenden strukturellen Veränderungen, wie sie von manchen Kritikern des Neoliberalismus verlangt werden.

Mittel zur Eindämmung wachsender Einkommensunterschiede wurden vielerorts und über längere Zeiträume erprobt und perfektioniert. Manche werden noch heute angewandt, besonders in Staaten mit einem relativ entwickelten Sozialsystem. Im Gegensatz zu neokeynesianischen Konzepten sollte allerdings eine übermäßige Verschuldung der öffentlichen Hand vermieden werden, damit der politische Handlungsspielraum gewahrt bleibt. Um welche praktikablen und zugleich nachhaltigen Instrumente handelt es sich?

Einkommensquellen in Gestalt von Kapitalanlagen, die auf nicht konsumierten Geldeinkünften beruhen, können durch eine Besteuerung der Vermögen gestutzt werden. Über eine Steuerprogression lassen sich große Einkommensunterschiede nivellieren. Kartellgesetze und Verbraucherschutz dienen dem Zweck, faire Wettbewerbsbedingungen zu gewährleisten und ein Ausnutzen von Monopolstellungen zu verhindern. Dabei bedarf es internationaler Regelungen, um global agierenden Wirtschaftsakteuren Schranken zu setzen. Mittels öffentlicher Aufträge und spezieller Förderung können Investitionen in Bereiche gelenkt werden, wo sie anstelle von Einsparungen einer Erhöhung des Produktionswerts dienen.

Die politische Umsetzung dieser Maßnahmen wird nun durch veränderte Machtkonstellationen erschwert. Diese manifestieren sich vor allem im wachsenden Druck transnationaler Konzerne. Daraufhin hat sich die Interessenlage der Staaten selbst gewandelt. So erweist sich eine Begünstigung der eigenen Wirtschaftselite, oftmals auch auf Kosten anderer heimischer Wirtschaftsakteure, als volkswirtschaftlich vorteilhaft. Zudem sind die Regierungen bedeutender Finanzplätze eher daran interessiert, dass die Belastungen für große Kapitalgesellschaften und vermögende Haushalte reduziert werden, um noch mehr Geldmittel anlocken zu können.

So lassen sich einerseits Mechanismen, die wachsende Einkommensunterschiede hervorrufen, nur durch politische Eingriffe entschärfen. Andererseits wird die Interessenlage der Staaten durch dieselben Mechanismen dahingehend beeinflusst, dass Regierungen gerade gegenteilig handeln. Hier sollten reformbereite Volkswirtschaftler als anerkannte Experten ihren Einfluss durch eine klare Positionierung geltend machen. Dies verlangt, dass sie in ihren Expertisen die Hauptursachen für die wachsende Schere zwischen Arm und Reich gebührend berücksichtigen.

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