Die westlichen Motive im Nawalny-Fall

Russland-Politik Geht es bei der Unterstützung Nawalnys um die Durchsetzung westlicher Werte oder um machtpolitische Ziele?

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Wenn Aleksei Nawalny zum Lieblingsoppositionellen des Westens avanciert ist, dann kaum wegen seiner politischen Gesinnung. Sein Markenzeichen ist vielmehr die kompromisslose Gegnerschaft zur russischen Staatsführung. Im Gegensatz zu Jabloko und „Gerechtes Russland“, den russischen Pendants der liberal- und sozialdemokratischen Parteien des Westens, verweigert er sich jeder Kooperation mit den gesellschaftlichen Machtträgern.

Dass Nawalnys persönliche Ansichten sogar den fremdenfeindlichen Flügel der AfD zu einem Nasenrümpfen veranlassen würden, spielt für westliche Betrachtungen augenscheinlich keine Rolle. Seine politische Vergangenheit bleibt in den Medien unbeleuchtet, stattdessen wird er zum Herausforderer Wladimir Putins hochstilisiert. Es entsteht der Eindruck, dass das Ziel des Westens nicht eine fortschreitende Demokratisierung Russlands ist, sondern die Schwächung der Moskauer Führung, wobei jedes Mittel akzeptabel erscheint.

Angesichts der Misserfolge der „bunten Revolutionen“ während der 90er Jahre und des Fiaskos des „arabischen Frühlings“ hätte bei den politischen Strategen ein Umdenken einsetzen müssen. Dass sich eine lebendige Demokratie mit funktionierender Gewaltenteilung, Minderheitenrechten und Partizipation der Bürger nicht per Dekret installieren lässt, belegen gleichsam die Erfahrungen mit den EU-Mitgliedern der östlichen Peripherie: In Sachen Korruption, Bürokratismus und Arroganz der politischen Elite dürften sich die meisten auf einem ähnlichen Level wie Russland befinden. Die gravierendsten Menschenrechtsverstöße leisten sich wohl Estland und Lettland, wo mehr als 300000 Personen ohne Staatsbürgerschaft leben und sowohl bei der Wahrnehmung demokratischer Rechte als auch bei der Berufsausübung massiven Einschränkungen unterliegen.

Was die Staaten Mittel-Ost-Europas von ihrem großen östlichen Nachbar unterscheidet, ist die Bereitschaft zu politischer und wirtschaftlicher Unterwerfung unter die westlichen Zentren. Russland erweist sich hierfür einfach als zu groß und zu autark. Dies ist offenbar der Grund, weshalb auch solche politischen Gruppierungen mit Argwohn bedacht werden, die dem westlichen Wertekanon nahestehen.

Demokratie-Export oder Machtpolitik

Eine Demokratisierung der Verhältnisse kann - so lautet das Credo - nur unter Anleitung des Westens bzw. unter dessen Kontrolle erfolgen. Seitdem Putin im Jahr 2000 die russische Präsidentschaft übernahm, haben sich derartige Erwartungen schnell verflüchtigt. Als deutlich wurde, dass sich Russland für einen nationalen Entwicklungsweg entscheidet, geriet das Land zunehmend unter westliches Sperrfeuer. Da ein Regime-Change als aussichtslos eingeschätzt wurde, hat der Westen sich wie in Syrien, Venezuela und dem Iran für die Strategie der Destabilisierung entschieden. Diese umfasst Wirtschaftssanktionen, Isolationsbemühungen, Diffamierungskampagnen und Unterstützung jeder Opposition.

Die Beschwörer westlicher Werte befanden sich nun unerwartet an derselben Frontlinie wie die Machtstrategen der globalen Elite. Deren oberste Schicht bilden die Herrscher in Washington. Sie sprechen unverblümt aus, dass die Erhaltung und Erweiterung der US-Machtposition ihr zentrales Anliegen ist. Dessen Juniorpartner EU ist unter deutscher und französischer Führung zwar ebenso bestrebt, die Dominanz des Westens zu sichern. Dort wird es jedoch für taktisch klüger gehalten, von mehr Verantwortung zu schwadronieren und Demokratieforderungen als Feigenblatt zu benutzen.

Die Vermengung von westlichen Werten und Machtinteressen macht es im Einzelfall schwierig, die persönlichen Motive eines EU-Politikers zu ermitteln. Nun wird aber mit Nawalny ein Repräsentant der russischen Opposition hochgelobt, der in jedem westlichen Staat als Rechtspopulist mit rassistischem Einschlag betrachtet und außerhalb des demokratischen Spektrums gedrängt würde. Der Vorwurf ist naheliegend, dass hier der Teufel mit Beelzebub ausgetrieben werden soll. Ein solcher politischer Ansatz erscheint nicht nur als blauäugig, sondern stellt auch die Glaubwürdigkeit westlicher Menschenrechtsbekundungen in Frage. Geht es den EU-Verantwortlichen vielleicht doch vorrangig um Machterhalt?

Wie sich im Nawalny-Fall offenbart, hat Deutschland im Rahmen der westlichen Konfrontationspolitik gegen Russland eine besondere Rolle übernommen. Doch nicht nur diese Aufgabenzuteilung ist neu, sondern auch der schärfere Ton im Umgang mit dem großen Nachbarn im Osten. In Vertrauen auf die Gefolgschaft der Medien werden Fakten willkürlich ausgewählt und interpretiert, obskure Informationsquellen genutzt und die Unschuldsvermutung, ein Kern des westlichen Rechtsverständnisses, ad acta gelegt. Indem die deutsche Regierung die Kooperationsangebote Moskaus zur Aufklärung der vermeintlichen Vergiftung Nawalnys ausschlägt, gibt sie zu verstehen, dass Russland als Paria-Staat zu behandeln sei.

Der Nawalny-Coup und die russische Reaktion

Während russische Versöhnungsofferten mit heftigen Anschuldigungen quittiert werden, wird eine schillernde Figur wie Nawalny zum Oppositionsführer verklärt und auf vielfältige Weise hofiert. Zudem erhielt er von deutscher Seite Schützenhilfe für die Filmproduktion zu „Putins Palast“. Dass es sich hierbei um ein reines Propagandawerk handelt, zeigt die Reaktion von Medienvertretern und Politikern. Einerseits wird vermieden, die im Film gemachten Aussagen in den Stand von Fakten zu erheben, andererseits drückt man sich davor, das Werk als das zu kennzeichnen, was es ist: Ein Verleumdungstraktat, das eine zehn Jahre alte Geschichte wiederbelebt und mit Computergrafik aufpeppt.

Die bedingungslose Unterstützung Nawalnys wurde fortgesetzt, als er nach Russland zurückkehrte. Die zu erwartende Verhaftung wurde von einer Medienkampagne begleitet, ergänzt durch harsche Statements westlicher Politiker. Die sich anschließenden mäßig besuchten Demonstrationen wurden zu Massenprotesten aufgebauscht, wobei dem Publikum genüsslich Szenen mit hart durchgreifenden Polizeikräften präsentiert wurden. Das Ganze erschien wie der Ablauf eines Drehbuchs, das dem Zweck dient, die russische Führung zu desavouieren.

Außenminister Sergei Lawrow ließ sich nicht beeindrucken und erklärte, dass sein Land das Prinzip der Nichteinmischung weiterhin befolgt und sich nicht zu vergleichbaren Provokationen hinreißen lässt. Mit dem Vorwurf, die EU verspiele mit ihrem Verhalten die Rolle als zuverlässiger Partner, signalisierte er zugleich, dass Russland sich nicht mehr nachsichtig verhalten oder als Bittsteller auftreten wird. Die Ausweisung dreier EU-Diplomaten wegen Teilnahme an den illegalen Protestaktionen war ein erster Schritt. Ebenfalls offenbarte das Nawalny-Urteil, dass die russische Führung nicht weiter bereit ist, in die Entscheidungsfindung der Gerichte einzugreifen, um westliche Befindlichkeiten zu befriedigen.

Bei einer fortgesetzten Konfrontation besteht die Gefahr, dass sich Moskau genötigt sieht, die aktuell bestehenden demokratischen Spielräume einzuschränken. In diesem Fall würde sich die russlandfeindliche Politik des Westens als kontraproduktiv erweisen, sollte jemals ernsthaft das Ziel bestanden haben, den Demokratisierungsprozess zu fördern.

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