Finnlands Russlandbeziehungen in Korrektur

Trendwende. Der Drang zum Musterschüler der EU hat Finnland außenpolitische Belastungen und wirtschaftliche Rückschläge gebracht, die jetzt korrigiert werden sollen.

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Dass Selbstbestimmung und Identität eines Landes durch einen mächtigen Nachbarn potentiell bedroht sind, ist nicht nur Finnlands Problem. Argwohn, Angst und Abneigung artikulieren ebenso Mexikaner und Vietnamesen gegenüber ihren nördlichen Anrainern. Und wenn Holländer und Tschechen zuweilen auf Distanz zu Deutschland gehen, dann ist dies nicht allein historischen Erfahrungen geschuldet.

Gewiss bietet eine prosperierende Großmacht jenseits der Grenze Potentiale für die eigene wirtschaftliche Entwicklung. Kommt es zu einem regen Handel, dann dokumentieren aber die jeweiligen Prozentanteile von Export und Import unzweideutig, wer der dominante Partner ist. Dessen Interessen sind meist nicht nur ökonomischer Natur, sondern implizieren sicherheitspolitische Aspekte und offenbaren ein Streben nach kultureller und ideologischer Hegemonie. Auf diesen Ebenen konstituiert sich bei jeweils unterschiedlichen Gewichtungen ein wachsendes Abhängigkeitsverhältnis.

Gleichwohl war Finnlands Gesellschaftssystem mit seiner Orientierung an westlichen Werten während der gesamten Nachkriegszeit nie gefährdet. Zwar gab es reichlich geheimdienstliche Aktivitäten auf finnischem Boden, jedoch handelte es sich dabei vornehmlich um einen west-östlichen Schlagabtausch. Sowjetische Bemühungen um eine Einflussnahme auf die finnische Politik waren nicht nur spärlich und unbeholfen, sondern wurden durch vergleichbare westliche Anstrengungen neutralisiert. Zudem hielt sich Moskau zurück, um die Beziehung zu Finnland als Vorbild für eine friedliche Koexistenz propagandistisch nutzen zu können.

Von der Neutralität zur Westintegration

In außenpolitischen Fragen verpflichteten sich finnische Staatslenker zu einer Neutralitätspolitik, die angesichts des damaligen globalen Gewichts blockfreier Länder keinen Verzicht darstellte. Was anfangs als Unterwürfigkeit gegenüber Moskau interpretiert wurde, galt seit Ende der 60er Jahre als Beitrag zur Entspannung. 1974 wurde Helsinki mit der Ausrichtung der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) honoriert. Allmählich verschwand der negativ belegte Begriff „Finnlandisierung“ aus dem politischen Vokabular.

In den Folgejahren konnte Finnland wirtschaftlich zu den entwickelten westeuropäischen Ländern aufschließen, wobei der Osthandel einen nicht unwesentlichen Anteil hatte. Dann aber brachte der Zusammenbruch des sowjetischen Systems die Nachfrage nach finnischen Produkten zum Erliegen, wodurch sich der bereits in Gang befindliche konjunkturelle Abschwung beschleunigte. Das Bruttosozialprodukt sank um 13 Prozent, während die Arbeitslosenquote um 15 Prozentpunkte zunahm.

Die notwendig gewordene stärkere wirtschaftliche Ausrichtung nach Westen ebnete den Weg für eine politische Neuorientierung, deren wichtigstes Etappenziel die EU-Mitgliedschaft war. Die Bildung der ersten finnischen Nachkriegsregierung ohne Beteiligung von Sozialdemokraten und Linkspartei nach den Parlamentswahlen 1991 gab der Westintegration zusätzlichen Schwung.

Wie die finnischen Regierungen zuvor den mit der Sowjetunion geschlossenen Vertrag über Freundschaft, Zusammenarbeit und Beistand (YYA) strikt befolgten, so unterwarfen sie sich nach dem EU-Beitritt 1995 den Regelungen und Richtlinien aus Brüssel mit bemerkenswerter Konsequenz. Die Zugehörigkeit zum Kern der EU wurde zum primären außenpolitischen Ziel erhoben, das die Unterstützung der relevanten gesellschaftlichen Organisationen fand. Die sichtbare Position, die Olli Rehn zwischen 2004 und 2014 zuerst als EU-Erweiterungs- und später als Wirtschaftskommissar innehatte, war für die finnische Politik von großer symbolischer Bedeutung.

Revision außenpolitischer Grundsätze und Russland-Bashing

Das erste Bekenntnis zur westlichen Interessengemeinschaft unter Leugnung der Realitäten wurde Finnland im Jahr 1999 abverlangt. Als die Forensikerin Helena Ranta bei der Untersuchung des „Massakers von Račak“ zum Ergebnis gelangte, dass es sich bei den Toten nicht um Dorfbewohner handelte, wurde sie vom Außenministerium ihres Landes zum Schweigen gezwungen. Etwaige Zweifel hätten den Vorwurf massiver Menschenrechtsverletzungen an die jugoslawische Regierung gedämpft und eine Rechtfertigung der späteren Nato-Luftangriffe auf Zivilobjekte erschwert. Mit der Anerkennung der Unabhängigkeit des Kosovo brach die finnische Regierung neun Jahre später eines ihrer zentralen außenpolitischen Prinzipien, die uneingeschränkte Befolgung von UN-Beschlüssen.

Wie in anderen westlichen Ländern hat Russland-Bashing bereits lange vor dem Ukraine-Konflikt Eingang in die finnischen Medien gefunden. Als im Jahr 2009 der Eurovision Song Contest in Moskau ausgerichtet wurde, berichteten die Hauptnachrichten breit über den Protestmarsch einiger Aktivisten für Homosexuellenrechte, der von der russischen Polizei gewaltsam aufgelöst wurde. Die an demselben Tag veranstalteten Demonstrationen Hunderttausender in mehreren westeuropäischen Großstädten, die sich gegen die Abwälzung der Krisenlasten auf die werktätige Bevölkerung richteten, fanden hingegen keine Erwähnung.

Desgleichen wurde die Winterolympiade Anfang 2014 in Sotschi von denselben Negativschlagzeilen begleitet wie anderswo in Europa. Das vielfach vorgebrachte Argument, angesichts begrenzter eigener Recherchemöglichkeiten auf westliche Nachrichtenquellen zurückgreifen zu müssen, ist in diesen Fällen wenig glaubwürdig, da sich Korrespondenten am Ort befanden.

Im Gegensatz zu den Medien verhielten sich Regierungsvertreter zurückhaltender, insbesondere bei anstehenden Gesprächen und Verhandlungen mit der russischen Seite. Im Ukraine-Konflikt sah man sich jedoch gezwungen, die Position der EU zu übernehmen und den Affront gegen Russland mitzutragen. Da in der finnischen Gesellschaft Positionen, die dem Konsens zuwiderlaufenden, allgemein als Störfaktor begriffen werden, gab es weder aus politischen noch aus kulturellen oder wissenschaftlichen Kreisen kritische Gegenstimmen. Nicht einmal moderate und spezifische Einwände, wie sie etwa in Deutschland der Finanzexperte Dirk Müller, der General a.D. Harald Kujat oder der Strafrechtler Reinhard Merkel artikulierten, wären in Finnland akzeptiert worden.

Die Beurteilung des Ukraine-Konflikts unterscheidet sich kaum von den Betrachtungen in Deutschland. Er beginnt laut offizieller Lesart mit der „Annexion“ der Krim. Dass diese ohne den gewaltsamen Machtwechsel in Kiew nicht stattgefunden hätte, wird ebenso übergangen wie dessen Begleitumstände. Aus der Ostkuraine berichtete die finnische Fernsehkorrespondentin Marja Manninen zu Beginn des bewaffneten Konflikts recht ausgewogen, u.a. verwies sie auf die Unterstützung der Separatisten durch die Bevölkerung. Dies änderte sich bald mit der von Kiew kreierten und von westlichen Medien übernommenen Version eines russischen Stellvertreterkriegs auf ukrainischem Boden. Später wurde Frau Manninen abberufen, offenbar waren ihre Reportagen nicht mainstream-kompatibel.

Schmerzliche Einbußen durch Wirtschaftssanktionen

Die im Zuge des Ukraine-Konflikts verhängten Sanktionen und Gegensanktionen haben die finnische Volkswirtschaft nachhaltig belastet. 2014 sank der Export nach Russland um 13 Prozent, im darauffolgenden Jahr um weitere 32 Prozent. Allein der Milchwirtschaft entstehen jährliche Verluste von nahezu 300 Millionen Euro, wobei grenznahe Gebiete mit einem hohen Arbeitslosenanteil besonders betroffen sind. Noch größer sind die Einbußen beim Anlagebau, in der Werftindustrie und im Konsumgütersegment, zumal sich für die meisten Produkte kaum neue Märkte finden. Der Einbruch im Osthandel ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Finnland seit mehreren Jahren zu den EU-Staaten mit den geringsten wirtschaftlichen Zuwachsraten gehört.

Für einen beträchtlichen Teil des Exports finnischer Erzeugnisse nach Russland sind nicht Preis und Qualität maßgeblich, sondern vertrauensvolle Kundenbeziehungen, die über einen langen Zeitraum aufgebaut wurden. Diese sind durch die Restriktionen empfindlich gestört worden. Zudem müssen potentielle Importeure befürchten, dass weiter an der Sanktionsschraube gedreht wird, wohl wissend dass sich Finnland diesen willfährig anschließen würde. Wenn sich die russische Volkswirtschaft - wie aktuell bereits erkennbar - erholt und mittelfristig einen höheren Importbedarf anmeldet, stehen finnische Anbieter auf schlechtem Posten.

Schreckgespenster und Ressentiments

Die Bemühungen der auf Verständigung orientierten Politiker, unter denen der finnische Präsident Sauli Niinistö herausragt, wurden regelmäßig durch russlandfeindliche Medienkampagnen sabotiert. Wer die Version einer machtlüsternen Putin-Clique, die sich mit der Übernahme der Krim nicht begnüge und für die Ostsee-Anrainer eine Bedrohung darstelle, nicht ernst nahm, wurde als naiv und entscheidungsschwach gebrandmarkt.

Ein Schreckensszenario bietet der 2015 erschienene Roman „Jäätävä helvetti“ (Eisige Hölle) von Ilkka Remes, einem der meistgelesenen Buchautoren Finnlands, dessen Werke auch ins Deutsche übersetzt sind. Er lässt Russland einen Hybridkrieg führen, bei dem Tausende durch die Lahmlegung des Stromnetzes elendig erfrieren. Trotz klarer Beweislage und westlicher Hilfsangebote erweist sich die finnische Regierung als feige und beugt sich russischen Forderungen nach Stützpunktrechten auf Ahvenanmaa und bei Hanko. Der Autor suggeriert, dass die „Besetzung“ der Ostukraine eine russische Expansionsstrategie offenbart hätte, die nun ihre Fortsetzung finde.

Neben den Beinahe-Zusammenstößen von Militärflugzeugen über der Ostsee dienten insbesondere die U-Boot-Sichtungen als Beleg, dass die skandinavischen Länder ins russische Fadenkreuz geraten seien. Als das schwedische Verteidigungsministerium nach mehr als einem Jahr eingestand, dass es sich vielmehr um ein deutsches und um ein schwedisches Objekt gehandelt habe, wurde dies in finnischen Medien nur am Rande erwähnt oder ganz verschwiegen. Inzwischen hatte sich die russophobe Berichterstattung längst neuen Themen zugewandt.

Vielfach werden kulturrassistische Ressentiments aktiviert, deren Wurzeln auf die Zarenherrschaft während des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Aufgrund der geografischen Lage vollzog sich die Aufklärung in Finnland früher und nachhaltiger als im russischen Kernland. Noch heute ist die Überzeugung weit verbreitet, dass Demokratiedefizite, eingeschränkte persönliche Freiheiten und Korruption in der russischen Mentalität begründet seien. Da in den Staaten Mittel-Osteuropas vergleichbare Phänomene existieren, handelt es sich augenscheinlich eher um das Resultat langzeitiger systembedingter Fesseln.

Anzeichen für einen Trendwechsel

Trotz Medienpropaganda fühlt sich der Durchschnittsfinne kaum durch Russland bedroht. Weiterhin spricht sich eine deutliche Bevölkerungsmehrheit gegen eine Nato-Mitgliedschaft aus. Auch die Drohkulisse der hybriden Kriegsführung beeindruckt wenig, zumal gegenwärtig andere Gefahren wie der islamisch geprägte Terrorismus und die Unberechenbarkeit der neuen US-Regierung akuter erscheinen.

Der allmählich einsetzende Stimmungsumschwung bietet der politischen Elite Finnlands die Gelegenheit, auf Verständigungssignale aus Moskau positiv zu reagieren. Sergei Lawrow nahm dies bei seinem kürzlichen Besuch in Helsinki würdigend zur Kenntnis. Beide Seiten quittierten mit Befriedigung die schrittweise Normalisierung der Wirtschaftsbeziehungen.

Auch gibt es bei den Medien Anzeichen für einen Trendwechsel. Noch vor einem halben Jahr rüffelte das Boulevardblatt „Iltalehti“ den finnischen Präsidenten, seine Äußerungen hätten bei den Nato-Mitgliedern der EU Unverständnis hervorgerufen. Es wurde auf seine Anregung Bezug genommen, Militärmaschinen mit Transpondern auszustatten. Während sich Wladimir Putin dazu positiv äußerte, gab es aus Nato-Kreisen bislang nur verhaltene Stellungnahmen. Letzte Woche haben nun mehrere Tageszeitungen der Kritik des Kriegshistorikers Sampo Ahto Raum gewidmet. Er beschuldigt die finnische Politik mit herben Worten, sich von US-Interessen einspannen zu lassen. Da er vor 1990 der finnischen Ostpolitik Duckmäusertum vorwarf, kann ihm schwerlich Russlandfreundlichkeit unterstellt werden.

Ob und wie weit sich die Beziehungen zwischen Finnland und Russland normalisieren können, wird nicht in Helsinki, sondern in Brüssel, Berlin und Washington entschieden. Auch wenn sich die finnische Regierung nicht von Schelten baltischer Hardliner beeindrucken lässt, wird sie kaum gegen EU-Beschlüsse opponieren. Die Sanktionen werden weiter befolgt, wenn auch widerwillig und mit der Hoffnung auf ein baldiges Ende. Da sich finnische Firmen gegenwärtig im Gefolge ihrer Politiker in Startlöchern postieren, um verlorenes Terrain zurückzugewinnen, betrachten sie die Lage offenbar mit Optimismus.

(Erstveröffentlichung auf Telepolis, 17.5.2017)

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