Konfliktlösung ohne Minsker Protokoll

Ostukraine. Die Minsker Vereinbarungen erscheinen gegenwärtig als einziger Weg zur Lösung des Ostukraine-Konflikts. Oder sind sie nicht mittlerweile eher ein Hindernis?

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Als das Minsker Protokoll am 5.9.2014 unterzeichnet wurde, diente es den Interessen aller Beteiligten: Poroschenko wollte bei den Ende Oktober angesetzten Parlamentswahlen als „Friedenspräsident“ punkten, Putin eine Verschärfung der EU-Sanktionen verhindern, die Separatisten begriffen das Abkommen als Schritt zur staatlichen Unabhängigkeit, und die OSZE konnte sich als Vermittler profilieren.

Schon die Tatsache, dass jeder Beteiligte offenbar sein eigenes „Süppchen“ kochte, ließ nichts Gutes ahnen. So machte Kiew von Anfang an deutlich, dass ein eingefrorener Konflikt nicht akzeptiert würde. Die Separatisten hätten gegen einen solchen keine Einwände, da sie ihre Macht konsolidieren und ein quasistaatliches Gebilde schaffen könnten. Dagegen hätte Russland nach Fjodor Lukjanow, Vorsitzender des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik in Moskau, eher Nachteile zu erwarten. Zum einen müssten die abtrünnigen ukrainischen Regionen dauerhaft alimentiert werden, zum anderen dürfte dies zu ständigen Spannungen mit dem Westen führen. Auch würde der in der Ukraine verbleibende prorussisch eingestellte Bevölkerungsteil abnehmen, wodurch eine Einflussnahme auf Entscheidungen Kiews schwieriger würde. Wie die Eigenwilligkeit von Separatisten russischen Interessen schaden kann, offenbarten die letzten Parlamentswahlen in Moldawien: Ohne den Wahlboykott Transnistriens mit nahezu 20 % Bevölkerungsanteil hätten die EU-freundlichen Parteien keine Mehrheit erlangt.

Offensichtlich ging es Russland bei den Minsker Gesprächen mehr um eine Beruhigung des Konflikts und als um dessen Einfrieren. Da außerdem der Verbleib des Donbass im Staatsverband der Ukraine nie in Frage gestellt wurde, gab es durchaus Berührungspunkte mit Kiew. Hätte die Partei Poroschenkos später die Parlamentswahlen deutlich gewonnen, wie es manche Meinungsforschungsinstitute voraussagten, dann wäre eine Konfliktlösung auf Grundlage des Minsker Protokolls vermutlich in greifbare Nähe gerückt. Die Wahlerfolge der Kiewer „Hardliner“ wie auch die Pseudowahlen in den ostukrainischen „Volksrepubliken“ vermasselten alle Erfolgschancen. Jeder warf fortan der Gegenseite einen Bruch des Abkommens vor, und die westlichen Medien erwiesen sich wieder einmal als Kiews verlängertes Sprachrohr. Vor diesem Hintergrund waren die kürzlich erzielten Absprachen über einen – diesmal weitgehend eingehaltenen – Waffenstillstand und über einen Gefangenenaustausch ein kaum erwarteter Lichtblick.

Eine Beilegung des Ostukraine-Konflikts auf Grundlage des Minsker Protokolls erscheint dennoch kaum mehr möglich. Die Separatisten werfen Kiew vor, die Treffen zu boykottieren und stattdessen einen neuen Waffengang vorzubereiten. Auch in westlichen Medien wird die Kiewer Führung kritisiert. Neben einem Torpedieren der Minsker Gespräche wird ihr kontraproduktives Verhalten angesichts des Parlamentsbeschlusses über die Aufgabe des blockfreien Status vorgeworfen. Auf der anderen Seite wird die von Putin vorgestellte neue Militärdoktrin als dem Verhandlungsklima abträglich gebrandmarkt.

Die Minsker Vereinbarungen waren zweifellos ein wichtiger Schritt in Richtung Frieden, aber offenbar waren sie keine ausreichende Grundlage für eine beständige Konfliktlösung. Viele Bestimmungen waren (absichtlich?) vage gehalten, sodass sie Interpretationsspielräume boten. Doch auch eine konkrete Maßnahme wie die Fixierung der Waffenstillstandslinie stieß auf nahezu unüberwindliche Hindernisse. Während es den Separatisten noch gelang, im Zuge der Gegenoffensive um Lugansk eine größere Pufferzone zu erobern, befand sich die ukrainische Armee bei Vertragsunterzeichnung direkt vor den Toren von Donezk, wo sie u.a. den Flughafen kontrollierte. Entsprechend gab es dort die heftigsten bewaffneten Auseinandersetzungen während der letzten beiden Monate. Auch existierten entlang der Frontlinie mehrere Abschnitte, die es aus Sicht der jeweiligen Konfliktpartei „zu begradigen galt“. In seinem Interview mit Hubert Seipel vom 17.11.2014 verwies Putin zudem auf die Schwierigkeit, örtliche Milizen zum Verlassen ihre Dörfer zu bewegen, da diese die Bevölkerung nicht nationalistischen Bataillonen schutzlos aussetzen wollten.

Eine realistische, d.h. von allen Seiten akzeptierte Lösung könnte die Folgende sein:

1) Gegenstand der Vereinbarung sie die Oblaste Donezk und Lugansk in ihrer Gesamtheit.

2) Beide Oblaste werden als autonome Gebiete innerhalb der Ukraine deklariert. Hierbei kann der Status der Krim von 1991 bis 2014 als Vorbild dienen.

3) Auf dem Territorium der Oblaste dürfen sich als einzige militärische Verbände OSZE-Truppen aufhalten. Bei deren Zusammensetzung sind Staaten zu bevorzugen, die sich durch weitgehende Neutralität ausgezeichnet haben, wie etwa die Schweiz oder Weißrussland. Die ukrainische Armee einschließlich Nationalgarde und freiwilliger Verbände zieht sich auf das übrige Staatsgebiet der Ukraine zurück, die Milizen der „Volksrepubliken“ werden entwaffnet, die Waffen sicher deponiert.

4) In den Oblasten Donezk und Lugansk herrscht ukrainisches Recht. Parteien werden zugelassen, und nach einer angemessenen Zeit der Vorbereitung werden Wahlen für Regionalparlamente durchgeführt.

Warum sollte die Kiewer Regierung diesen Vorschlag akzeptieren? Die Ukraine bliebe in den bisherigen Staatsgrenzen erhalten. Damit wäre eine wichtige Auflage für die Milliardenkredite des IWF erfüllt. Auch würden verwaltungstechnische Probleme durch neue Grenzziehungen vermieden werden. Da eine militärische Eroberung des Donbass nicht mehr aktuell wäre, würden Finanzmittel für andere Zwecke frei werden. Auf der anderen Seite müsste in Kauf genommen werden, dass das Feindbild Russland an Akzeptanz einbüße und dass die russlandfreundliche Opposition im Osten und Süden des Landes zusätzliches Gewicht erhielten.

Verlierer wären die Separatistenführer insofern, als sie ihren „Neurussland“-Traum begraben müssten. Allerdings würde sich das Herrschaftsgebiet vergrößern, und sie hätten gute Chancen auf einen Sitz in den Regionalparlamenten, in denen die prorussischen Kräfte höchstwahrscheinlich die Mehrheit bekämen. Die Alternative wäre ein möglicher neuer Waffengang, in dem sich die Lage der „Volksrepubliken“ eher verschlechtern dürfte, sollte Russland auch weiterhin auf eine direkte Intervention verzichten.

Russland könnte bei dem Lösungsvorschlag nur gewinnen. Der Konflikt wäre eingedämmt, ein potentieller Einfluss auf die Entscheidungen der ukrainischen Führung würde im Rahmen des momentan Möglichen erhalten bleiben, die wirtschaftliche Kooperation mit ukrainischen Betrieben wäre für die nahe Zukunft gesichert. Weder EU-Mitgliedschaft noch Nato-Beitritt würden für eine zeitlich überschaubare Periode aktuell werden, nicht einmal über den EU-Kooperationsvertrag ist das letzte Wort gesprochen. So kann Moskau - wie schon damals zur Zeit der Präsidentschaft Juschtschenkos – mit gutem Grund auf eine spätere politische Neuorientierung der Ukraine hoffen.

Da die Kiewer Machthaber unter einem enormen politischen und wirtschaftlichen Druck agieren, ist kaum zu erwarten, dass sie gegenwärtig konstruktive Initiativen ergreifen. Noch weniger werden die Separatisten diesen Lösungsvorschlag unterbreiten, sodass als einziger Akteur Russland in Frage käme. Oder möglicherweise auch der Westen?

Nach dem Genfer Abkommen vom 17.4.2014 gab es von westlicher Seite keine konkreten Vorschläge zur Beilegung der Ukraine-Krise, wenn man von der Aufforderung an Russland absieht, es möge die Unterstützung der Separatisten einstellen. Überhaupt passt das Bild eines innerukrainischen Konflikts nicht in die westliche Optik, geeigneter erscheint die von der Ukraine vermittelte Sicht eines Imperiums, das seinen kleinen Nachbarn beraubt (Krim), destabilisiert (Ostukraine) und wirtschaftlich bedroht (Gaslieferungen, Handel).

Obwohl der Westen ukrainische Anschuldigungen gegen Russland gerne aufgreift, geht es dabei kaum um das Wohl der Ukraine selbst. Dann wären nämlich kräftige Finanzspritzen für den neuen Verbündeten die erste Maßnahme gewesen. Vielmehr nutzen westliche Politiker die Gelegenheit, um Russland anzuschwärzen, zu isolieren und zu schwächen. Dass sich Steinmeier zu seinen jüngsten kritischen Äußerungen veranlasst sieht, signalisiert, dass bei einem Gros der politischen Entscheidungsträgern des Westens weiterhin keine Bereitschaft besteht, auf Russland-Bashing zu verzichten und sich stattdessen aktiv für eine Lösung des Ostukraine-Konflikts einzusetzen. Ja, es kann nicht einmal als gesichert angenommen werden, dass ein von Russland unterbreiteter, konstruktiver Vorschlag wie dieser von den Regierenden im Westen mit Wohlwollen quittiert würde.

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