Erwägt Russland einen Bruch mit dem Westen?

Russland. Kaum dürfte die russische Regierung erwartet haben, dass ihre sicherheitspolitische Initiative im Westen auf positiven Widerhall stößt. Was waren dann aber ihre Motive?

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Die von Russland seit Dezember letzten Jahres verlangten Sicherheitsgarantien und die an USA und NATO gerichteten Vertragsentwürfe mit Bitte auf eine baldige Antwort haben zu hektischen diplomatischen Aktivitäten geführt. Immer erkennbarer wird, dass der Westen nicht bereit ist, in einen ernsthaften Dialog über die russischen Bedenken und Vorschläge einzutreten. Ein Beleg ist das Bemühen von Politikern und Medien, an deren Stelle eine vermeintlich bevorstehende Invasion der Ukraine durch Russland in den Fokus zu rücken. Die auf Entspannung gerichtete russische Initiative soll damit ins Gegenteil verkehrt werden.

Gleichsam wird über Druckmittel spekuliert, die Russland einsetzen könnte. Doch weder Hyperschallraketen noch Stützpunkte in befreundeten lateinamerikanischen Staaten dürften den Zweck einer glaubwürdigen Abschreckung erfüllen, um dem Vordringen der NATO Einhalt zu gebieten. Offenbar sind der russischen Seite nur dann Verhandlungserfolge vergönnt, wenn der Westen guten Willen zeigt.

USA statt EU als Ansprechpartner

Da es bei der russischen Initiative um europäische Sicherheitsinteressen geht, stellt sich die Frage, weshalb nicht die Regierungen der EU-Staaten als Adressaten gewählt wurden. Vor einem Jahrzehnt wäre dies vermutlich noch der Fall gewesen. Insbesondere zu Deutschland und Frankreich hatte sich ein tiefes Vertrauensverhältnis entwickelt.

Im Zuge des gewaltsamen Regierungswechsels in der Ukraine vor acht Jahren musste die russische Führung jedoch eine herbe Enttäuschung erleben. Auch wenn sich die Hauptarchitekten des Putsches jenseits des Atlantiks befanden, erschien die unverhüllte Freude führender EU-Politiker über die Ereignisse wie ein Verrat. Die Diffamierungskampagne anlässlich der vermuteten Vergiftung Alexei Nawalnys und die Weigerung einer gemeinsamen Klärung der Umstände markierten schließlich das Ende der besonderen Beziehung zwischen Moskau und Berlin/Paris.

Verständlicherweise erwartet die Regierung Russlands angesichts der jüngsten Erfahrungen nicht, dass Deutschland und Frankreich als Fürsprecher russischer Sicherheitsinteressen auftreten. Dennoch wäre es aus taktischen Erwägungen zielführender, zuerst dort um einen positiven Widerhall und Mitstreiter zu werben, wo eine größere Bereitschaft zum Entgegenkommen besteht. Hierzu gehören zweifellos - auch wegen der eigenen Betroffenheit - die großen Nationen der „alten“ EU. Mit wohlwollenden Statements aus Berlin und Paris gewappnet wäre der Gang nach Washington sicherlich erfolgversprechender.

Trotzdem wandte sich die russische Führung mit ihren Sicherheitsforderungen direkt an die US-Administration und ließ die europäischen Politiker außen vor. Nach manchen Interpretationen wollte sie ihre Verärgerung darüber ausdrücken, dass diese sich in Konfliktlagen nahezu bedingungslos US-Vorgaben unterwerfen, anstatt eine eigene interessengeleitete Politik zu betreiben. Offiziell hieß es aus Moskau, dass man genug unverbindliche Erklärungen und wohlklingende Bekundungen vernommen habe und nun schriftliche Garantien erwarte.

Da Wladimir Putin und seine Regierungsmannschaft in der Vergangenheit wiederholt mit taktischem Geschick glänzten, kann ausgeschlossen werden, dass sie sich bei der Entscheidung einer direkten Kontaktaufnahme zu den USA von Enttäuschungen oder Geltungsdrang leiten ließen oder Naivität offenbarten. Vielmehr gingen sie bewusst ein höheres Risiko ein, dass ihre sicherheitspolitischen Forderungen zurückgewiesen werden. Dies verlangt eine Erklärung.

Keine Illusionen auf russischer Seite

Kaum dürfte die russische Führung Illusionen gehegt haben, ihre Initiative würde im Westen auf eine positive Reaktion stoßen. Dies wird durch die Lageeinschätzung in der neuen Sicherheitsstrategie untermauert, die im Sommer letzten Jahres in Kraft trat. Der Westen wird darin als feindselig beschrieben. Er möchte seine Dominanz mit den verfügbaren Mitteln verteidigen und scheut nicht einmal vor Völkerrechtsbrüchen zurück, wie dies aktuell durch die Stationierung von Militär in Syrien und dem Irak gegen den Willen der international anerkannten Regierungen geschieht. Da Russland sich dem Westen nicht unterordnet, würde es schikaniert und diffamiert werden.

Indes wird die Überzeugung geäußert, dass das Land ausreichend militärisch gewappnet ist. Größere Bedrohungen werden hingegen im Wirtschafts- und Finanzsektor lokalisiert. Um diese abzuwehren, werden weitgehende Autarkie und eine intensivere Kooperation mit nichtwestlichen Staaten angestrebt. Als wichtigste Partner benennt das Dokument China und Indien. Ebenso große Aufmerksamkeit wird intern aufbrechenden Konflikten eingeräumt. Diesen soll mit einer Hebung der Lebensqualität, einem konsequenten Kampf gegen Korruption, größerer Bürgernähe und einer Stärkung von Gemeinsinn und Verantwortungsgefühl vorgebeugt werden. Westlich-liberale sollen durch traditionelle russische Werte ersetzt werden.

Da im gesamten 44-seitigen Dokument keine Hinweise auf die Notwendigkeit einer gesamteuropäischen Sicherheitsarchitektur zu finden sind, verbleiben für die russische Initiative aus dem letzten Dezember nur zwei Erklärungen. Entweder es hat dramatische Veränderungen der politischen Lage gegeben. Dies kann ausgeschlossen werden. Oder die russische Führung hielt den Zeitpunkt für geeignet, die fundamentale Entscheidung über die künftige Richtung nicht mehr länger aufzuschieben.

Es geht dabei zentral um die Frage, ob es weiterhin die Mühe wert ist, auf eine Kooperation mit dem Westen zu setzen. Durch den direkten Kontakt zur US-Administration hoffte die Moskauer Führung, eine schnelle und klare Antwort zu bekommen. Die europäischen Staatslenker hätten hingegen widersprüchliche Signale ausgesendet und sich einer Hinhaltetaktik bedient, bevor sie schließlich auf den Washingtoner Standpunkt eingeschwenkt wären.

Die Sicherheitsthematik wurde gewählt, damit Russland zugleich im Westen um Sympathien werben konnte. Eine Umsetzung des russischen Plans würde nicht nur die militärischen Fronten beruhigen, sondern hätte zweifellos eine friedensstabilisierende Wirkung. In einem späteren Schritt könnte sogar ein Kompromiss zum Status der Krim gefunden werden, etwa die Unterscheidung zwischen de facto (Russland) und de jure (Ukraine), was Egon Bahr vorgeschlagen hatte. Eine schrittweise Rückkehr zu vertrauensvollen zwischenstaatlichen Beziehungen wäre möglich. Die wirtschaftliche, kulturelle und wissenschaftliche Kooperation könnte ausgebaut werden, wovon der gesamte europäische Kontinent profitieren würde.

Dass der Westen sich querstellen würde, hat die russische Führung im Voraus geahnt. Dabei geht es letztlich nicht um die Frage, ob die Sicherheit Russlands bedroht ist. Angesichts seiner Atomwaffen-Zweitschlagkraft kann sich das Land auch dann in Sicherheit wiegen, wenn die USA den Vorsprung bei Hyperschallwaffen eingeholt haben und bei der Militarisierung des Weltraums Fortschritte machen. Eine Integration der Ukraine in NATO-Strukturen würde zwar angesichts der kürzeren Vorwarnzeit neue Gefahren bei versehentlichen Vorkommnissen und Fehlinterpretationen heraufbeschwören. Der Westen trägt jedoch dasselbe Risiko, sodass auf beiden Seiten ein Interesse an notwendigen Vorkehrungen besteht.

Die Reaktionen des Westens

Mit seiner Initiative hat Moskau den westlichen Staaten eine letzte Chance geboten, auf seinem bereits in Richtung Asien beschrittenen Weg Halt zu machen und vielleicht sogar umzukehren. Das geforderte europäische Sicherheitssystem knüpft dabei an Vorstellungen an, wie sie während der Wende Anfang der 90er artikuliert wurden. Damals widersetzten sich die USA, weil Sicherheitsgarantien im Rahmen der OSZE die NATO obsolet gemacht hätten. Das europäische Gewicht hätte gegenüber dem US-amerikanischen erheblich zugenommen.

Je länger die Staaten des Westens ihre distanzierte Haltung zu Russland beibehalten, desto mehr wird es seine Kooperation mit China und anderen freundlich gesonnenen Staaten vertiefen. Bald wird der Zeitpunkt erreicht sein, an dem die russische Seite nicht mehr zu einer Umkehr bereit ist. Die von Moskau vorgeschlagene Frist von zwei Jahren gilt nur für den Fall, dass sich der Westen zu ernsthaften Verhandlungen aufrafft.

Tatsächlich gab es mehrfach zaghafte Versuche, russischen Interessen entgegenzukommen. Donald Trumps anfängliche Bereitschaft zur Versöhnung war von der Intention geleitet, den Hauptkontrahenten China global zu isolieren. Zwar gebärt sich die gegenwärtige US-Administration ebenso China-feindlich, sie hält jedoch gleichzeitig am Feindbild Russland fest. Dagegen agieren die Europäer aufgeschreckt, nachdem sie die Demütigung überwunden haben, die ihnen die russische Missachtung zugefügt hat. Aktuell sehen sich Frankreich und Deutschland veranlasst, ihre Bemühungen zur Lösung der Ostukraine-Krise zu intensivieren. Jedoch ist nur dann mit einem Erfolg zu rechnen, wenn Kiew mitzieht und sich zu seinen Verpflichtungen aus Minsk II bekennt.

Mit der russischen Sicherheitsinitiative hat sich der Zwist zwischen Tauben und Falken innerhalb der politischen Führungskreise des Westens verschärft. Dabei drängen nicht nur - wie bislang - kooperationswillige Kräfte aus Wirtschaft und Gesellschaft auf Konfliktminderung, sondern auch gestandene Realpolitiker und führende Militärs. Einige halten die Forderungen Russlands für berechtigt, da auf den OSZE-Gipfeln von Istanbul 1999 und Astana 2010 die Unteilbarkeit von Sicherheit vertraglich abgesegnet wurde. Andere wollen eine unkontrollierbare Eskalation vermeiden, die in einen militärischen Zusammenstoß übergehen und die NATO mit hineinziehen könnte. Da sich die potenziellen Gefahrenregionen in russischer Nachbarschaft befinden, hätte der Westen aufgrund der Geografie die schlechteren Karten.

Das Ende russischer Rücksichtnahme

Eine ablehnende Haltung des Westens zu den russischen Vorschlägen dürfte der Moskauer Führung als Anlass dienen, eigene Sicherheitsinteressen fortan konsequenter zu verfolgen. Was mit der Übernahme der Krim im Jahr 2014 bereits umgesetzt wurde, ließe sich anderswo wiederholen. Wie bisher würde Russland darauf bedacht sein, dass seine Schritte als Reaktion auf ungerechtfertigte Aktivitäten der Gegenseite erscheinen und dadurch eine Legitimation erhalten.

Dies gilt aktuell für die Gewährung der russischen Staatsbürgerschaft an bislang etwa 800.000 Bürger der Ostukraine. Vorausgegangen war die Weigerung Kiews, abgelaufene Pässe zu verlängern und neue auszustellen. Russland verschaffte sich hierdurch eine Grundlage, bei einem ukrainischen Eroberungsfeldzug gegen die abtrünnige Region im Osten des Landes militärisch einzugreifen. Dazu dürfte es aber erst kommen, nachdem ukrainische Einheiten die in Minsk II vereinbarte Demarkationslinie unter den Augen von OSZE-Beobachtern überschritten haben. Ein Problem würde sich dann ergeben, wenn die OSZE ihre Posten räumt, was die USA für ihre Vertreter bereits angekündigt haben.

Eine Invasion mit eigenen Truppen wie im Fall Georgiens 2008 wäre kaum nötig, da bereits durch Beschuss mit Präzisionsraketen beträchtlicher Schaden etwa auf Nachschublinien und in Waffendepots angerichtet werden kann. Sollte die Ukraine die russischen Angriffe erwidern, könnte die Antwort in vernichtenden Schlägen bis tief ins ukrainische Hinterland bestehen. Ebenso dürfte Russland militärisch aktiv werden, wenn die Kiewer Führung Aufstände der Zivilbevölkerung in den russischsprachigen Regionen niederzuschlagen beabsichtigt. Solche Aktivitäten würden sich auf einem Niveau bewegen, das nach Aussage des US-amerikanischen Präsident Joe Biden unterhalb der Schwelle liegt, die scharfe Sanktionen nach sich ziehen würde.

Zum Vergleich sei darauf hingewiesen, dass Israel regelmäßig Stellungen der Hisbollah in Syrien mit Raketen attackiert, obwohl niemand unmittelbar bedroht wird. Da der Westen in diesem Fall beide Augen zudrückt, kann er vergleichbare Schläge der russischen Armee kaum glaubwürdig anprangern.

Sanktionsgefahren und Alternativen

Die Sanktionsfrage dürfte aus russischer Sicht den kritischsten Aspekt bilden. Wirtschaftliche Schwierigkeiten wären nicht zu vermeiden, wenn etwa die Lieferung von Autoersatzteilen und elektronischen Komponenten eingestellt würde. Ebenso hätte ein bedeutender Rückgang der Exporterlöse einschneidende Folgen. Dagegen wird die häufig thematisierte Nichtinbetriebnahme von Nord Stream 2 von Wirtschaftsexperten eher als symbolischer Akt angesehen. Auch dürfte Russland eine SWIFT-Abkopplung umschiffen können.

Gleichwohl wäre der Schaden für einen Großteil der westeuropäischen Volkswirtschaften erheblich. Von Sanktionen gegen Russland wären besonders jene Länder betroffen, deren Unternehmen hochgradig auf dessen Markt engagiert sind. In russischen Regierungskreisen scheint daher die Einschätzung vorzuherrschen, dass nur bescheidene Maßnahmen zu erwarten sind, zumal es innerhalb der politischen Eliten des Westens einen deutlichen Dissens gibt.

Drohen härtere Sanktionen, dann müssen die eigenen Bürger frühzeitig auf persönliche Opfer vorbereitet werden. Die an den Westen gerichteten Sicherheitsforderungen dienen somit auch innenpolitischen Zwecken. Deren Ablehnung durch die westlichen Regierungen dürfte von russischen Politikern und Medien genutzt werden, um patriotische Gefühle zu wecken.

Je stärker die russische Kooperation mit den Staaten Asiens, Afrikas und Lateinamerikas voranschreitet, desto geringer ist der Schaden durch westliche Sanktionen. Als Folge werden sich russische Entscheidungsträger immer weniger genötigt sehen, auf Befindlichkeiten des Westens etwa in Wertefragen Rücksicht zu nehmen. Bedienen sich die Vertreter Russlands bislang diplomatischer Umgangsformen und versöhnlicher Töne, so werden Polemik und verbale Attacken gegen westliche Politikakteure zunehmen.

Zusammen mit China, dem Iran und den innerasiatischen Republiken würde Russland einen Wirtschaftsraum bilden, der die NATO- und EU-Staaten nicht nur bevölkerungs- und flächenmäßig übertrifft, sondern auch über eine höhere Dynamik und einen größeren Ressourcenreichtum verfügt. Wenn jene Länder ihre Kooperation in den letzten Jahren forciert haben, dann ist dies vor allem der Gegnerschaft zum Westen geschuldet. Doch trotz milliardenschwerer Wirtschaftsabkommen bestehen zwischen ihnen weiterhin Interessendivergenzen, von den unterschiedlichen politischen und Wertesystemen ganz zu schweigen.

Nicht nur die engen wirtschaftlichen Kontakte, sondern auch das gemeinsame historisch-kulturelle Erbe hielten die russische Führung bislang davon ab, einen endgültigen Bruch mit den westlichen Staaten zu erwägen. Ohne deren essentielles Entgegenkommen dürfte Moskau sich dennoch entschließen, die Beziehungen für einen unbestimmten Zeitraum auf Eis zu legen.

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