UN-Giftgasvorwürfe an die syrische Regierung

Report der UN-Kommission. Es wirkt wie gezieltes Timing, wenn UN-Vertreter die syrische Armee unmittelbar nach der Befreiung von Deir ez-Zor für Giftgas-Attacken verantwortlich machen.

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Gerade konnte die syrische Armee einen bedeutenden militärischen Coup durch das Durchbrechen der Belagerung von Deir ez-Zor verbuchen. Dadurch erlangte sie einen kaum mehr einholbaren Vorsprung bei der Befreiung des Ostteils Syriens gegenüber den von den USA unterstützten Verbänden der YPG/SFD. Dort befinden sich nicht nur wirtschaftlich relevante Ölvorkommen, sondern es öffnet sich auch eine direkte Landverbindung zu Irak und Iran.

Dieser Erfolg wird der Assad-Regierung nun durch die Publizierung des Berichts der UN-Untersuchungskommission für Syrien vergällt. Diese wurde im August 2011 vom UN-Menschenrechtsrat eingesetzt und besteht aus dem Brasilianer Paolo Pinheiro, der US-Amerikanerin Karen Abu-Zayd und der Schweizerin Carla Del Ponte. Letztere gab allerdings vor einem Monat ihren Rücktritt bekannt. Inwieweit sie an der Erstellung des aktuellen Berichts beteiligt war, geht aus der offiziellen WEB-Seite der Kommission nicht hervor, ja sie wird dort weiterhin als Mitglied geführt.

Im Kommissionsbericht wird die syrische Armee nicht nur für den Einsatz chemischer Kampfstoffe bei Chan Schaichun und - fünf Tage vorher - bei Al Latamneh verantwortlich gemacht, sondern ihr werden auch 20 der 25 in den letzten Jahren erfolgten Giftgas-Angriffe angelastet. Eine derartige Schuldzuweisung wurde von UN-Offiziellen bislang nicht vorgenommen. Vielmehr waren es die syrischen Rebellen, die von Del Ponte - bereits im Mai 2013 - explizit angeklagt wurden, chemische Waffen eingesetzt zu haben. Der Verdacht, dass ihr Rückzug aus der Kommission einer schärferen Gangart den Weg geebnet hat, ist trotz der tadellosen Reputation der verbleibenden Mitglieder nicht von der Hand zu weisen.

Neue Belege für den Einsatz chemischer Kampfstoffe

Für den Giftgaseinsatz bei Chan Schaichun, der im letzten Frühjahr kräftig durch die Medien kolportiert wurde und Donald Trump zu einem Militärschlag auf den syrischen Militärflugplatz asch-Scha’irat veranlasste, wurden Belege präsentiert, die auf die syrische Armee verweisen.

Einen bedeutenden Raum nimmt der Report der Fact-Finding Mission (FFM) der Organisation für ein Verbot der Chemiewaffen (OPCW) ein. Er enthält Zeugenaussagen, Bild- und Videomaterial sowie Boden- und Gewebeproben. Allerdings waren die Vertreter der FFM nicht am Ort des Geschehens, aus Sicherheitsgründen, wie es damals hieß. Zweifel an der Authentizität der vorgeblichen Beweismittel sind daher angebracht, zumal sie von Akteuren zusammengetragen und überreicht wurden, die sich offenbar im Rebellengebiet sicher fühlen konnten.

Als neuer Beleg werden die durch Fotos identifizierten Reste einer Bombe angeführt, mit der vermeintlich das Sarin transportiert wurde. Laut dem Bericht der Kommission handelt es sich dabei zweifelsfrei um eine chemische Bombe, die in der ehemaligen Sowjetunion hergestellt wurde. Doch auch dieser "Beweis" hat seine Tücken, da die syrischen Rebellen bekanntermaßen einen erheblichen Teil ihrer Waffen aus dem Mittel-Ost-europäischem Raum bezogen haben. Kanäle für die Beschaffung einer chemischen Bombe waren augenscheinlich vorhanden.

Dagegen werden von der Kommission stichhaltige Argumente gegen die Vermutung der russischen Seite vorgebracht, die giftigen Substanzen seien durch Bombeneinschläge in ein Waffenlager der Rebellen freigesetzt worden. Auf andere kritische Einwürfe, wie sie etwa von Seymour Hersh und Theodore Postol erhoben wurden, wird im Text nicht eingegangen.

Angesichts der Vielzahl von Fake-News, die bislang aus den Rebellengebieten eingetroffen sind, hätte von der UN-Untersuchungskommission ein kritischerer Umgang mit Augenzeugenberichten erwartet werden dürfen. Auch sollte auf Vermutungen und Unterstellungen verzichtet werden, wie sie etwa dem folgenden Satz des Reports zu entnehmen sind:

Given that Syrian and Russian forces were conducting an aerial campaign in the area, the absence of indications that Russian forces have ever used chemical weapons in the Syrian Arab Republic, and the repeated use of chemical weapons by the Syrian air force, there are reasonable grounds to conclude that the Syrian air force used chemical weapons in Al-Latamneh on 30 March.

Mögliche Motive auf beiden Seiten

Faktisch steht Aussage gegen Aussage. Dabei sollte ebenfalls den Verlautbarungen der syrischen Regierung mit Argwohn begegnet werden. Um dennoch Hinweise für eine Schuldzuweisung zu erhalten, wird allgemein die Frage des "cui bono" gestellt. Von westlicher Seite werden neben dem Zerrbild vom "brutalen Schlächter" Basar al Assad, der aus reiner Böswilligkeit zu immer neuen Schandtaten schreite, durchaus rationale Beweggründe angeführt.

So wird etwa argumentiert, dass die syrische Regierung - gegen den Willen ihrer russischen Partner - auf eine militärische Entscheidung setze und daher Bemühungen um eine innersyrische Verständigung der Konfliktparteien hintertreibe. Aus militärstrategischer Sicht wird auf die durchschlagende Wirkung und die Möglichkeit eines lokal begrenzten Einsatzes von Giftgas verwiesen, da allein Luftangriffe nicht in der Lage seien, die Rebellen zu vertreiben. Zudem sei die syrische Armee ausgebildet und ausgerüstet, auch an Orten zu operieren, wo Chemiewaffen eingesetzt würden.

Der Nahost-Experte Michael Lüders sieht dagegen in dem Timing der Giftgas-Attacken einen wichtigen Hinweis darauf, dass die Rebellen hinter den Aktionen stehen. Ging es im Jahr 2013 um die von Barack Obama gezogene "rote Linie" für ein direktes militärisches Eingreifen der USA, so soll gegenwärtig von der kaum mehr zu kaschierenden Kooperation des Westens mit dschihadistischen Kräften abgelenkt werden. Die syrische Armee hätte angesichts ihrer militärischen Überlegenheit keinen Bedarf am Einsatz chemischer Kampfstoffe, während diese den Rebellen im Rahmen einer False-Flag-Aktion durchaus dienlich seien.

Ebenso sei der Westen daran interessiert, die Assad-Regierung zu diffamieren, sodass jede Gelegenheit dazu bereitwillig genutzt werde. Zwar musste das Projekt eines gewaltsamen Regime-Change aufgegeben werden. Indem die Reputation der syrischen Machtelite aber untergraben wird, könnte sie zum Rücktritt gezwungen und durch "moderate", dem Westen freundlicher gesonnene Politiker ersetzt werden.

Dies dürfte allerdings ein Stück Arbeit sein. Dass Basar al-Assad fest im Sattel zu sitzen scheint, hat eine von der Nato bereits im Jahr 2013 in Auftrag gegebene Studie ermittelt. Demnach standen 70 Prozent der Syrer hinter ihrem Präsidenten, bei nur 10 Prozent Zuspruch für die bewaffnete Opposition. Angesichts der islamisch-fundamentalistischen Herrschaftspraktiken in den Rebellengebieten wird sich die Stimmung in den letzten Jahren vermutlich weiter zugunsten der Regierung verschoben haben.

Dieser Artikel ist zuerst auf dem Heise-Portal „Telepolis“ erschienen.

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