Die Mitte am Rand

Im Kino In "Die Mitte" begibt sich der Filmemacher Stanislaw Mucha auf die Suche nach dem ultimativen Zentrum Europas

"Braunau am Inn ist der Mittelpunkt Europas! Das hat Napoleon gesagt, als er hier her kam", meint der Mann im Gasthaus Mittelpunkt Europas. Nur leider wissen davon die japanischen Touristen, die draußen wie wild das Geburtshaus Hitlers fotografieren, überhaupt nichts. Und für Geographie interessieren sie sich ohnehin nicht. Pech für den polnischen Filmemacher Stanislaw Mucha, der auf der Suche nach dem Zentrums Europa mit seinem Team durchs Abendland irrt.

Die Mitte, so lautet der Titel seines Dokumentarfilms. Angefangen hatte alles vor einigen Jahren im Bayerischen Wald, wo Stanislaw Mucha wohnt, unweit von Neualbenreuth. Ein weiterer Ort, von dem die dortigen Bewohner behaupten, dass es sich um die Mitte Europas handele. Als Muchas Frau dann in irgendeinem Reiseführer las, dass sich die Mitte Europas in der Ukraine befände, war die Idee für den Film geboren. Allerdings wurde das Filmprojekt immer größer, denn die Recherchen ergaben, dass eine Vielzahl von Orten für sich beansprucht, im Zentrum des Abendlandes zu liegen. Allein in Deutschland sind es 41 Dörfer und Kleinstädte, viele weitere befinden sich in Polen, der Slowakei, in Litauen und der Ukraine.

In Muchas Film tauchen allerdings weder Landvermesser noch Geographen auf. Die Mitte ist alles andere als ein klassischer Dokumentarfilm. "Ich mag Dokumentarfilme überhaupt nicht; sie langweilen mich zu Tode", beschreibt der Regisseur sein Verhältnis zu Experten aller Art, die man gemeinhin heranzieht, um Dingen auf den Grund zu gehen. In Muchas Filmen (Absolut Warhola, Mit Bubi heim ins Reich) geht es immer um die Menschen, die sich zufällig an dem Ort befinden, wo der Regisseur gerade seine Kamera aufstellt.

Seine Odyssee durch Europa beginnt Mucha im Westen, genauer gesagt in Deutschland: Von Externsteine geht es über Cölbe nach Tillenberg, wo der Filmemacher auf Menschen trifft, die ihm zwischen Gartenzwerg und Gedenkstein erklären, warum sich gerade an ihrem Ort "Die Mitte" befinde. Je weiter das Team nach Osten dringt, desto skurriler wird der Film: Am Berg Krahule (Slowakei) führt ein Dorfbewohner die Suchenden durch die Kirche in Kremnické Bane, die sich natürlich "genau in der Mitte Europas" befindet. Denn als die Kirche ursprünglich an einer anderen Stelle gebaut wurde, brach sie immer wieder zusammen. Bis ein Engel erschien und den Bau ein Stück weiter in der Mitte Europas empfahl. Seither steht die Kirche perfekt. Früher floss dort sogar ein Heilwasser, aber das hat inzwischen seine Wirkung verloren.

In Purnuskés in Litauen wiederum finden die Filmemacher Statuen von Marx, Lenin und Stalin, die auf die Mitte schauen, während die Bewohner (größtenteils Polen) davon berichten, dass sie nichts zum Leben haben, aber aus allem Europa gemacht werde. Und ein Mann schildert gut gelaunt: "Hier verkaufen sie alles, sogar ihre Pferde. Dann saufen sie Wodka und erhängen sich. Eine lustige Nation sind wir - aber hungrig!" Diejenigen, die zwar in den Wald gehen, sich aber nicht aufknüpfen wollen, finden dort rund 3.500 Fernseher. Die russischen Produkte wurden hier irgendwann fein säuberlich gestapelt, nachdem sie in den litauischen Wohnzimmern von tollen West-Fernsehern abgelöst worden waren. "Fernseher für Europa" hieß die Spendenaktion. Noch weiter nördlich hat der Papst übrigens die Mitte in einem Meer von Kreuzen entdeckt.

In Rachiv (Ukraine) befindet sich angeblich seit 1887 die älteste Mitte Europas. Dort sitzt die schlohweiße Raja in ihrem Kiosk. In Österreich geboren ging sie in der Tschechoslowakei zur Schule, schlug sich in der Sowjetunion als Schneiderin durch und verkauft nun im ukrainischen Kiosk Zeitungen. Aus der Mitte Europas sei sie nie herausgekommen, sagt sie. "Nur die Besatzer haben in Rachiv gewechselt." Dann kommt ein Mann an ihren Kiosk und fragt nach der Zeitung Die Mitte Europas. Die erscheine erst am Samstag, klärt Raja den Kunden auf, aber im Echo der Karpaten stehe das gleiche drin. Ein paar Szenen weiter fasst ein Mann alle Meinungen zur historischen Mitte Europas zusammen: "Eigentlich kann man in Europa nicht auf den Punkt kommen. Mann kann sich immer um fünf Meter irren. Europa ist zu groß."

Stanislaw Mucha kümmert sich nicht einmal ansatzweise um wissenschaftlich-geographische Erkenntnisse. Und es ist auch kein Zufall, dass der Film dort endet, wo ein Schweizer auf der Suche nach der ultimativen Mitte ein Ortsbestimmungsgerät mit Global Positioning System einsetzt. Mucha geht es vielmehr um die Menschen, die zur Mitte gemacht wurden. Und die sich anschließend im Marktgeschrei um die Mitte befanden. In einer seltsamen Mischung aus Selbstbewusstsein und Ahnungslosigkeit, Gleichgültigkeit und Agonie stehen die Protagonisten vor der Kamera. Und nicht selten offenbaren sich hinter den komischen Szenen des Films - und davon gibt es viele - tragische Lebensläufe, fernab von jeglicher Selbstbestimmung. In diesem Sinne ist Stanislaw Mucha eine absurde gesellschaftliche Bestandsaufnahme zu Beginn des 21. Jahrhunderts gelungen. Sie handelt hauptsächlich von Menschen am Rande der Existenz, die, so scheint es, losgelöst von Raum und Zeit in der unendlichen Mitte Europas leben.


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