Gehirn aus Lego

Utopie Harald Welzer inszeniert sich als moralisches Vorbild und lässt die Frage nach dem System lieber ungestellt
Ausgabe 11/2019
Stein auf Stein, Stein auf Stein, das Weltbild wird bald fertig sein
Stein auf Stein, Stein auf Stein, das Weltbild wird bald fertig sein

Foto: Zak Hussein/Corbis/Getty Images

Harald Welzer hat es gut. Er verfügt über die Gabe der Redseligkeit, steht einer wohlfinanzierten Stiftung vor und beglückt die Öffentlichkeit alle Jahre wieder mit einem Buch, das auf kollegiale Rezensionen und kaufwillige Kunden trifft. Diese Gesellschaftsutopie für freie Menschen kommt also aus dem Zentrum des Wohlbehagens und ist darum ein ernst zu nehmendes Symptom für den Zustand unserer Gegenwart. Denn wie sehen die Probleme der Welt aus, wenn sie durch die Panoramafenster einer Potsdamer Villa betrachtet werden?

Die Antwort ist so einfach wie sinnlos: Die Welt wäre ein schöner Ort, wenn es überall so freundlich und reflektiert zuginge, wie beim Autor zu Hause. Hier ist die Heimat von 300 Seiten Allgemeinplätzen. Und dass die heile Welt auf einem veritablen Widerspruch gründet, blitzt lediglich zu Anfang des Buches einmal kurz auf, wenn festgestellt wird, dass die Menschheitsgeschichte auf einen atemberaubenden humanen Fortschritt zurückblickt und doch zugleich so viele natürliche Ressourcen verbraucht, dass sie ihr ökologisches Ende herbeiführt. Das Verhältnis zwischen der besten aller Welten und dem blöden Problem mit der Umwelt ist nach Meinung des Autors eine ärgerliche Paradoxie.

Schräger Sound

Der schräge Sound des Buches erklärt sich aus dieser falschen Beschreibung, denn der Zusammenhang von sozialem Leben und materiellen Bedingungen ist nicht paradox, sondern dialektisch. Paradox ist ein Verhältnis, wenn beide Seiten nicht gleichzeitig wahr sein können. Der berühmte Kreter, der sagt, dass alle Kreter lügen, macht seine eigene Aussage unmöglich. Beschreibt man die selbstzerstörerische Wachstumswirtschaft des Kapitalismus als paradox, so macht man ihre wesentliche Eigenschaft unsichtbar. Denn die liberale Gesellschaft und die Umweltzerstörung schließen sich nicht gegenseitig aus, sondern ihre Gewalt besteht gerade darin, dass sie sich wechselseitig hervorbringen. Verschleiert man diesen Zusammenhang hinter der schlau klingenden Paradoxie, kann man so unbedarft mit den Widersprüchen umspringen, wie es hier geschieht. Beschreibt man hingegen die Verhältnisse in ihren dialektischen Wechselwirkungen, würde deutlich, wie die Selbstverwirklichungsideologie des Liberalismus notwendig die Ressourcen von Menschen und Welt ausbeuten, und wie die kapitalistische Renditesucht diese Tendenz unendlich beschleunigt.

Von all dem will der Autor in seiner „Gesellschaftsutopie“ aber nichts wissen. Er macht aus der Dialektik eine Paradoxie und erspart sich damit jede weitere Mühe des Nachdenkens. Stattdessen schlüpft er in die bequeme Rolle des cleveren Fragestellers und lässt sich und seine LeserInnen verdutzt in das Getriebe der Welt schauen. Wenn er etwa bei einer Fabrikbesichtigung die mutige Frage nach der Herkunft der Rohstoffe stellt, findet er eben nichts heraus, was nicht schon skandalisiert wäre. Was er mit dieser einfachen Empörung aber tatsächlich betreibt, ist die Feier seines Selbstbildes als kritischer Zeitgenosse, der sich auf dem Markt der Aufmerksamkeit gewinnbringend inszeniert.

Der Autor stilisiert sich Seite um Seite zum moralischen Vorbild und gibt zugleich die beruhigende Parole aus, dass es nicht so schwer ist, ein ebenso bewundernswürdiger Mensch zu werden. Seine Methode bleibt dabei immer gleich: Am Anfang wird ein wenig Panik geschürt, um dann sofort eine einfache Lösung parat zu haben, bei der sich niemand die Hände schmutzig machen muss. So wie die Zeitschrift Landlust das Bedürfnis nach bäuerlicher Natürlichkeit befriedigt, ohne dass jemand Gummistiefel braucht, um eine Hühnerfabrik zu betreten, so lässt Harald Welzer alle an den wohligen Schauern teilhaben, die Welt einmal ganz und gar kritisch zu sehen, um sie im gleichen Atemzug durch die eigene gute Lebensweise retten zu können.

Zwei Sätze aus dem Buch bringen die Verquerheit dieser markttauglichen Raffinesse auf den Punkt. Der eine steht am Ende: „Es ist alles schon da, nur falsch zusammengesetzt.“ Und der andere ist ein Ausruf des Autors, „Ich schweife ab.“ Dies ist leider der Satz, der auf jeder Seite des Buches stehen müsste, denn der Text mäandert von Beobachtung zu Anekdote und von Zitat zu Selbstzitat. Der Autor scheint beim Blick auf die Welt so von seinem eigenen Gedankenstrom fasziniert zu sein, dass er die Sprunghaftigkeit seiner Einfälle gleich zur rettenden Metapher für die Welt erklärt. Hätte ein Rezensent sich zu der Formulierung verstiegen, dass Harald Welzer die „falsch zusammengesetzte“ Welt wie Legoland beschreibt, hätte man ihn wohl der Übertreibung beschuldigt. Dass in dem langen Mittelteil genau diese infantile Lego-Metapher verwendet wird, um den fehlenden Zusammenhang der Einfälle zu kaschieren, ist dann doch verblüffend.

Spätestens an dieser Stelle beschleicht einen der Verdacht, dass es sich bei dem ganzen Buch um ein situationistisches Kunstwerk handeln müsse, in dem die Sehnsucht privilegierter Städtebewohner nach einer Utopie karikiert wird. Der kitschige Ernst, mit dem die Legogedanken ausgeführt werden, ermüdet jedoch so sehr, dass man das Buch, sollte es zu Unterhaltungszwecken geschrieben worden sein, schnell zuklappen würde.

Bliebe es bei dem betulichen Sammelsurium der Weltrettung aus dem Geiste des Legokastens, wäre dem Autor sein Geschäftsmodell zu verzeihen. Doch leider gibt es nicht wenige Momente, in denen sich die privilegierte Haltung zum moralischen Populismus aufschwingt, um sich triumphierend im Reich der Guten zu verschanzen. Dann werden die Politiker zu den „gewieftesten Agenten gesellschaftlicher Lebenslügen“ und die Kritik der Flüchtlingspolitik wird zur „Gegenmenschlichkeit“, die allein die Komfortbedürfnisse verteidigt. Andererseits wird kein Gedanke an konkrete Abhilfe verschwendet, wie etwa die soziale Kluft zwischen Arm und Reich geschlossen werden könnte. Mit profanen Dingen wie einer Reichensteuer will sich der Autor nicht beschäftigen, lieber beschreibt er auf vielen Seiten, dass Grenzen erst seit dem Neolithikum gezogen werden und der Pass eine recht junge Erfindung ist. So reihen sich willkürliche Details aneinander, die alle dem gleichen Zweck dienen: Das Übel in der Welt soll wie eine lästige Schusseligkeit erscheinen.

Gutelaune-Bär der Kritik

Wie gerne würde ich ein Buch lesen, das die träge Verzweiflung unserer Zeit auflöst, indem es die Widersprüche konkret benennt. Das Welzer-Buch hat leider die entgegengesetzte Wirkung. Es verniedlicht die Probleme. Hier gibt der Gutelaune-Bär den Ton an: „Wir gehen einfach mal davon aus, dass man das meiste wiedergutmachen kann“. So wird Kritikbedürfnis befriedigt, indem es dem eigenen Wohlbefinden dient, und über das Böse wird vor allem moralisch gesiegt, da es immer die Anderen sind, die Böses tun.

Der ideologische Kern der welzerschen Utopie-Simulation liegt in seinen Beschreibungen der Widersprüche, die da, wo sie konkret als Konflikte von Kapital und Menschen benannt werden müssten, in einer geheimnisvollen Paradoxie verschwinden. Durch diesen Zaubertrick verströmen die Lösungsvorschläge die beruhigende Botschaft, dass die eigene Lust an Bastelarbeiten schon die halbe Weltrettung bedeutet. Optimismus wird hier zur Kuscheldecke und Utopie zur Lüge eines politischen Denkens, das sich als über allen Widersprüchen schwebend feiert. So sieht eine Utopie für Menschen aus, die schon alles haben und nun noch ein wenig ihr moralisch-ökologisches Gewissen optimieren möchten. Eine solche Utopie ist leider unsere Gegenwart. Bei Alles könnte anders sein handelt es sich um das neue Genre der Gesellschaftsutopie, die die herrschenden Verhältnisse zementiert.

Info

Alles könnte anders sein: Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen Harald Welzer S. Fischer 2019, 320 S., 22 €

Bernd Stegemann (geb. 1967 in Münster) ist Dramaturg und Autor. Und er ist Mitinitator der #Aufstehen-Bewegung.

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