Mehr Ökonomie wagen

Debatte Ende Dezember veröffentlichten wir den Text "Der Blick nach unten" von Cornelia Koppetsch. Hier antwortet nun der Dramaturg und Publizist Bernd Stegemann auf diesen Text
Das Bild der Warteschlange hilft uns, das Phänomen der Entsolidarisierung zu analysieren
Das Bild der Warteschlange hilft uns, das Phänomen der Entsolidarisierung zu analysieren

Illustration: imago/Ikon Images

Man mag dem Text „Der Blick nach unten“ von Cornelia Koppetsch (der Freitag 51/2018) gerne folgen, denn er bringt mit einigen Unterscheidungen etwas mehr Licht in die Gegenwart. So ist die Entgegensetzung von Neid und Ressentiment hilfreich, da sie erklären hilft, wie Neid als individuelle Scham die Ungleichheit konserviert, während Ressentiment als kollektivierbares Gefühl zur Triebkraft politischer Revolten taugt. Auch ist es erhellend, linken Protest als Kampf um Aufstiegschancen zu erklären, während rechte Politik bestehende Privilegien verteidigen will. Doch Koppetschs Schlusswendung lässt einen dann doch ratlos zurück: Wenn die Gegenwart in immer kleinere tribale Communitys zerfällt und der Wohlfahrtsstaat sowohl durch das Ende des kalten Kriegs als auch durch globale Gleichheitsforderungen unter Druck gerät, prognostiziert sie, dass eine „konfliktfreie Assimilation von Neuankömmlingen“ unwahrscheinlich ist.

Eine solche Beschreibung und Schlussfolgerung mögen zutreffen; was an ihnen zum Widerspruch reizt, ist ihr Gestus, mit dem die Welt erklärt wird, ohne sie verändern zu wollen. Getreu ihrer eigenen Behauptung, dass „wohlmeinende Intellektuelle“ keine sozialen Bewegungen hervorrufen können, bescheiden sich Koppetschs Aussagen auf ihren deskriptiven Gehalt. Was sie damit jedoch ausblendet, ist, dass auch der wissenschaftlich neutralisierte Ton eine politische Handlung ist, wenn er sich denn öffentlich formuliert. Nimmt man ihre Krisendiagnostik ernst, die von entsolidarisierten Menschen in einer zunehmend ungleichen Welt spricht, so klingt ihr Ratschlag an die „linken Professoren“ doch etwas zu brav und provoziert ein weitergehendes, mehr eingreifendes Denken.

Schaut man mit dieser Fragestellung auf den Text von Cornelia Koppetsch, so entfaltet sich dort ein Panorama, vor deren selbst eröffneten Möglichkeiten sie zurückzuschrecken scheint. Um diese verpassten Chancen herauszulesen, muss lediglich ein aus der Mode gekommener Begriff wiederbelebt werden. Würden die Unterscheidungen von Neid und Ressentiment, von linkem und rechtem Protest nicht als sozialpsychologischer Komplex begriffen, sondern als Folgen einer Klassengesellschaft beschrieben, so könnten sie zum Startpunkt für politisches Handeln werden.

Arbeitskraft und Kapital

Der gerade von Sebastian Friedrich herausgegebene Band Neue Klassenpolitik gibt hier zahlreiche Hinweise. Klassen, so wird für die postmodernen Zeitgenossen erinnert, sind die Realität in einer Gesellschaft, in der eine kategorische Ungleichheit der Vermögen besteht, deren Widerspruch lautet: Die einen verkaufen ihre Arbeitskraft, während die anderen ihr Kapital in Gestalt anderer Menschen für sich arbeiten lassen. Alle weiteren Ungleichheiten folgen aus diesem Widerspruch und werden durch ihn verschlimmert. Dadurch unterscheidet sich der Klassenbegriff grundlegend von dem der Identität, und die Klassenpolitik von der Identitätspolitik.

Klassenpolitik betrifft alles, wodurch die Klassenverhältnisse politisiert werden können, also wenn die Ausbeutung sichtbar gemacht wird und die Klassenschranken, die sich zum Beispiel in Sprache, Bildung und Moralregeln manifestieren, zum Vorschein kommen. Identitätspolitik verfolgt hingegen eine paradoxe Strategie. Hier wird die Diskriminierungserfahrung zum Ausgangspunkt genommen, um die eigene Identität positiv zu bestärken. Die Folge ist eine gesteigerte Identifikation mit der diskriminierten Identität. Die einfache Formel, mit der diese Ungleichheit an die Öffentlichkeit tritt, ist die herausfordernde Betonung der eigenen Identität: Ich, als Frau. Ich, als Türke. Ich, als Deutscher etc. Paradox ist diese Methode, weil sie einen Unterschied betont, der für den Adressaten, der meistens das diffuse Subjekt der Mehrheitsgesellschaft ist, keinen Unterschied bedeuten darf. Denn würde die Mehrheitsgesellschaft sagen: Du, als Frau, als Türke, als Deutscher etc. wäre der Aufschrei riesig, und das zu Recht.

Aus dieser paradoxen Form folgt, dass sich Identitätspolitik für emanzipatorische Politik ebenso nutzen lässt wie für nationalistische und reaktionäre Politik. Jede Kränkung kann so zu einer Waffe umgewandelt werden, und dabei macht es keinen Unterschied, ob die Kränkung aus einem beleidigten Nationalstolz oder einer sexistischen Diskriminierung folgt. Klassenpolitik liegt quer zu dieser Methode, da ihre Unterscheidung an den Gegensatz von Ausbeutern und Ausgebeuteten gebunden ist. Die prekäre Lage der unteren Klasse ist die Folge einer ökonomischen Herrschaft und sie würde verschwinden, wenn die Gewalt dieser Herrschaft gebrochen wäre.

Die materielle Basis der Emanzipation

Eine neue Klassenpolitik hilft also auch im Kampf gegen die Diskriminierungen aufgrund anderer Identitätsmerkmale, indem sie bewusst macht, dass Emanzipation immer eine materielle Basis hat. Wäre dieser Gedanke Teil des Kampfes um Gleichheit, dann würde der progressive Neoliberalismus nicht mehr so billig mit seinen kostengünstigen Gleichstellungsprogrammen davon kommen. Bis dahin ist Anerkennungspolitik für ihn eine praktische Sache, da sie wenig Geld kostet und vor allem den Markt der Konsumenten und Arbeitskräfte ausweitet.

Wird die Klasse als Identität begriffen, wie es Koppetsch nahelegt, dann schrumpft sie zu einer weiteren Community unter vielen und kann sich auf dem Markt der Aufmerksamkeit um die knappe Ressource Empörung balgen. Die Reduktion der Klasse zur Identität arbeitet also an ihrer Domestizierung und dass sie sich heute fasst nur noch im Modus der identitätspolitischen Empörung Gehör verschaffen kann, zeigt, wie erfolgreich der progressive Neoliberalismus ist. Die soziologische Gleichstellung dieser entgegensetzten Konzepte weist leider in die gleiche Richtung.

Unter einer solchen Perspektive erscheinen dann zumindest zwei weitere Aspekte bei Cornelia Koppetsch fragwürdig. Wenn der Kampf für den Erhalt der Privilegien rechts sein soll, könnte man einwenden, dass Privilegien in einer Klassengesellschaft zweierlei bedeuten können. Es gibt das Privileg des Kapitalisten, das jedoch nicht so genannt wird, sondern Rendite heißt. Und es gibt die kleinen Privilegien der Ausgebeuteten, die durch harten Arbeitskampf ein wenig von dem Mehrwert zurückholen, den sie zuvor selbst erarbeitet haben. Ein solches, hart erkämpftes Stückchen Gerechtigkeit Privileg zu nennen, übernimmt die falsche Logik der Rendite, die den Mehrwert als heiliges Eigentum des Kapitalisten betrachtet. Dass der Arbeiter samstags die Beine hoch legen darf, ist aus einer solchen Perspektive ein Luxus, den ihm der Kapitalist nur ungern zugesteht. Wer diesen „Luxus“ dann als Privileg bezeichnet, dessen Verteidigung zu rechter Politik führt, arbeitet also an der Legitimationslegende des Kapitals. Würde man den Gedanken klassenpolitisch formulieren, käme man nicht so glatt bei der links-rechts Unterscheidung heraus. Denn dann wäre der Kampf für die Errungenschaften des Sozialstaates zuerst einmal ein Kampf für den Erhalt des Sozialstaates. Und dass dieser nun als rechte Politik erscheinen soll, ist ein Meisterstück neoliberaler Propaganda.

Klasse statt Charakter

Der zweite Einwand ergibt sich aus dieser Beobachtung. Im Text von Cornelia Koppetsch wie in anderen Texten über die Entstehung rechter Parteien wird viel Mühe darauf verwandt, die Ursachen für den Rechtsruck nicht in ökonomischen Verhältnissen zu suchen, sondern in kulturellen Gründen. Das Ressentiment speist sich also nicht aus der Erfahrung, dass jeder immer mehr leisten soll und zugleich immer prekärere Beschäftigungsverhältnisse erdulden muss. Und es ist auch keine Folge davon, dass viele erleben, wie ein Abrutschen aus dem Arbeitsmarkt schnell in Hartz IV endet. Stattdessen betonen die Erklärer rechter Politik, dass es vor allem Menschen aus der Mittelschicht seien, die Probleme mit Frauenrechten, Ausländern und liberalen Ideen hätten. Über die Statistiken, die hierfür herangezogen werden, lässt sich trefflich streiten, und zu gänzlich anderen Schlüssen kommen etwa Michael Hartmann in Die Abgehobenen oder Philip Manow in Die politische Ökonomie des Populismus, die sehr wohl einen Zusammenhang zwischen Abstiegsängsten oder realem Abstieg und rechter Gesinnung beobachten. Um so irritierender ist es darum, warum es so wichtig zu sein scheint, dass rechte Politik keine Folge der Klassenverhältnisse sein soll, sondern auf individuelle Charakterfehler zurückzuführen sei. Würde man auch hier annehmen, dass der Charakter immer auch die Folge der Lebensumstände ist, so könnte man zumindest einen kritischen Gedanken in die Überlegung einbeziehen.

Viele Menschen machen heute zwei unterschiedliche Erfahrungen von Entsolidarisierung: Die eine besteht in dem, was Arlie Russell Hochschild mit dem Bild der Schlange veranschaulicht hat. Die Menschen stehen ihr Leben lang in einer Schlange und warten darauf, dass es für sie besser wird. Wer lange wartet, rückt langsam auf. Nun beobachten sie, dass immer mehr Konkurrenten an ihnen vorbeiziehen, sei es, dass sie bevorzugt werden, sei es, dass sie sich vordrängeln. Diese Frustration verbindet sich nun mit der zweiten Erfahrung, die darin besteht, dass selbst ihr schlechter Platz in der Schlange immer härter umkämpft wird. Der Aufstieg stockt nicht nur, es droht sogar der Verlust des Platzes in der Schlange. Beides zusammen ergibt dann die explosive Mischung, die, so die These von Arlie Hochschild, zur Wahl Donald Trumps geführt hat.

Sich hier nur einen Aspekt herauszugreifen und zu betonen, dass es vor allem der Neid der Schlangensteher auf die vorbeiziehenden Frauen oder Migranten sei, die zum Beispiel aufgrund von positiver Diskriminierung bevorzugt werden, verkürzt das Bild unzulässig. Denn die Schlange ist vor allem ein Bild für eine Gesellschaft, in der das Versprechen auf ein auskömmliches Leben die geduldige Unterordnung unter ein kapitalistisches System erzwingt. Dass in dieser permanenten Gängelung Revolten ausbrechen und die Wartenden sich untereinander das Leben schwer machen, sollte nicht dazu verleiten, die Revoltierenden zu maßregeln. Denn eine solche Beschreibung verkehrt Ursache und Wirkung. Sie macht nicht die Klassengesellschaft zum Objekt der politischen Auseinandersetzung, sondern der Einzelne und sein Wohlverhalten werden gelobt oder seine Charakterfehler moralisch gescholten. Ein solcher Blick zementiert also die Verhältnisse, indem er von den tatsächlichen Ursachen ablenkt und die Revolte zu einem psychologischen Problem erklärt.

Für den Fortbestand des Kapitalismus ist die Behauptung, dass die Revolten in der Schlange rassistische oder nationalistische Ursachen haben, nützlicher als eine Kritik an seiner Macht, die die Menschen zu einem solchen entwürdigenden Abwarten zwingt.
Die wissenschaftliche Analyse und die Art ihrer Darstellung ist, wenn sie im politischen Raum geäußert wird, nie nur zweckfreies Erkenntnisinteresse, sondern sie ist immer auch Bestandteil der herrschenden Ordnung. Durch die Wahl ihre Bilder und die Art ihrer Erklärungen nimmt die Autorin eine politische Haltung ein. Der Text von Cornelia Koppetsch ist erkenntnisfördend, wo er Differenzierungen ermöglicht, und seine Prämisse ist leider nur allzu wahr: Soziale Ungleichheiten stiften nicht aus sich heraus politische Bewegungen. Hier weiterzugehen, um aus der Beschreibung der Ungleichheiten konkrete Handlungen zu machen, dazu provoziert ihr Text. So wird die Autorin durch die Art, wie sie soziale Ungleichheit erklärt, zu einer Initiatorin von Bewegung.

Bernd Stegemann arbeitet als Dramaturg am Berliner Ensemble. Er hat 2017 Das Gespenst des Populismus: Ein Essay zur politischen Dramaturgie und 2018 Die Moralfalle – Für eine Befreiung linker Politik veröffentlicht. Stegemann ist Mitinitiator der Sammlungsbewegung Aufstehen.

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