Durch den Spiegel

IM KINO Laetitia Massons Theorem »Zu verkaufen«

Auf den ersten Blick enttäuscht der Film. Am Ende der Ge schichte wird das perfekte Psychogramm der Protagoni stin France Robert (Sandrine Kiberlain) stehen. Sie, die ihr noch am Traualtar geschaßter Verlobter von einem befreundeten Privatdetektiv, Luigi Primo (Sergio Castellitto), suchen läßt, weil sie sich nicht nur selbst, sondern auch mit des Verlobten Pokerge winn aus dem Staub gemacht hat, verbrachte eine schwere Jugend: Vom Drang beseelt, der Enge ihres Heimat dorfes in der Champagne zu entfliehen, verliebt sie sich in Männer, die ihr die weite Welt ver sprechen, um in sie eindrin gen zu können. France liebt auf den ersten Blick, aber sie wird nicht geliebt, son dern nur begehrt, und so ver schließt sie sich der Liebe und dem Geliebtwerden, indem sie das, was auf den ersten Blick zählt, ihren schönen Körper, verkauft; auch denen, die sie lieben oder lieben könnten, weil die sie nicht haben sollen: sie prostituiert sich, um nichts von sich preiszu geben. So ist sie präsent, doch ihr Ausdruck bleibt stumm. Am Ende ist sie allein, verlassen, mittel- und per spektivlos in der Stadt ihres Traums, dort, wohin sie ihr erster Liebha ber mitnehmen wollte, in New York. Auf den ersten Blick das reinste Klischee.

All das ist zu erfahren über die Nachforschungen, die Luigi Primo auf der Suche nach France Robert anstellt. Primo ist das Gegenteil von Robert. Was er vor allem nicht gibt, nicht einmal sich selbst, ist sein Körper. Er ist immer auf Diät , er ist impotent geworden, weil er sich nicht mehr verlieben will, nachdem seine Frau sich von ihm hat scheiden lassen. Er hat nirgendwo einen Platz gefunden, deshalb ist die midlife crisis eine einzige Leere. Er füllt sie, indem er sich während seiner Recherche immer mehr mit der Gesuchten identifiziert. Sie wird seine Obsession. In dem Moment, bevor er sich selbst prostitu iert, spricht er nicht mehr von France Robert, er spricht in der ersten Person Plural: »Warum tun sie uns das an? Warum betrügen sie uns so?«, und später, pathetisch: »Ich bin France Robert«. Er geht dann, auf seiner Recherche nach Paris gekom men, wo seine Exfrau lebt, zu deren Haus, dringt ein und prostituiert sich im wahrsten Sinne der Wortes: Er entblößt dort sein Innerstes: seine Wünsche, sein Begehren, seine Liebe, seinen Haß, seine Verzweiflung. Er tut das genau auf die Art und Weise, wie wir die Männer von France Robert mit ihr umspringen sehen. Und es wird klar, daß das klischierte Bild von ihr sein Klischee ist. Im gleichen Maße, in dem Luigi Primo hier sein Gesicht ver liert, gewinnt sie ihres. Er tritt in sein Spiegelbild ein. Als sein Phan tasma ist sie neu ent stan den; in immer häufigeren und immer längeren Sequenzen ist sie zu sehen, von der zu nächst nur die Rede war.

Eine in gelbrotes Licht getauchte Katakombe, ein Nachtclub, die Kamera fährt die Röhrenhaftigkeit des Raumes ab, durch ein Gewühl von Menschensilhouetten in rhythmischer Bewegung. Sie verharrt bei einem Mann, dessen Büste aus der Menge hervor ragt, verlangsamt bewegt sich sein Körper, entrückt schaut das aufgedunsene, rotstrahlende Gesicht. Eine junge Frau nähert sich ihm aus der Menge, er umarmt sie heftig. Im Umschnitt ein gelbschwarzer Torso, nah, bar jeglicher Räum lichkeit, ein Akt, die Bewegungen verlangsamt, rhythmisch, wie die der Menschen im Nachtclub. Wenn die Sequenz gegen Ende des Films wieder auftaucht, moduliert sie die Anfangsszene zu einem Erinne rungsbild und schließt einen Zirkel: Robert, Primo und ihr Bindeglied, die Pro stituierte Mireille, treffen aufein ander; Ro bert macht den Blow Job für Primo. Vom Anfang dieser ersten Szene an ist ein aus der Tiefe eines den Bildka der sprengenden Raumes kommender Sound zu hören, ein Zischeln, ein Lautgewirr, das sich zu Stimmen und Worten (»Allez, Al lez«) verdichtet. In dem Moment, in dem die Kamera den tanzen den Mann er faßt, setzt ein ver schleppter Rhyth mus ein, TripHop, der nicht mit den Tanzbewe gungen der Figuren im Nachtclub korrespondiert. Das Raumgrei fende des Sounds nehmen die fol genden Titel des Vorspanns wieder auf, indem sie, rot wie das Licht im Nacht club aus einer un er meß lichen Tiefe stammen.

Bruchstücke dieses Sounds tauchen leitmotivisch immer wieder auf. Ihnen korrespondiert die beschriebene Farbsymbolik: Sie eröffnen einen Raum, der den Handlungsraum der Figuren übersteigt, weil die Rekonstruktion nicht mehr an sie gebunden ist. Wenn Primo und Lindien, der Verlobte, nach der ge platzten Trauung durch eine Tür auf die Plattform vor dem Festsaal in das grelle Weiß des Sonnenlichts treten, in dem sie sich fast auflösen, dann erst haben sie die Schwel le zu einem anderen Raum übertreten. Es ist die tabula rasa, in der France Robert entstehen kann als Phantasma von Luigi Primo, der Lindien fragt, ob er sie suchen solle.

Beide Ebenen, Primos Phantasma und der Erinnerungsraum des Films, verschwimmen ineinander. Der TripHop, das Rot, das Gelb und das Weiß bilden die Emblematik dieses Verschwimmens. Erst mals sehen wir France Robert, wie sie sich unter den Blicken ihres ersten Geliebten auszieht, in einem ähnlich wie die Ein gangs se quenz gelb lich einge färbten Bild. Im Umschnitt Luigi, nah, auf dem Bett im Jugendzimmer von France lie gend; oder kurz vorher, wenn in das Gespräch Luigis mit den Eltern von France, deren Erzählung, daß sie sich vor ihrer abrupten Abreise noch Geld geliehen habe, die gelb liche Nahaufnahme einer Hand, die Geld aus einem Briefumschlag stiehlt, während im Hintergrund diese Eltern beim Abendbrot sitzen, einge schnitten wird, ist es die Einfärbung des Bildes, die unbe stimmte Erinnerung und Luigis Vorstellung mischt.

Der be schriebene Sound setzt genau dann ein, wenn die Bilder von France Robert die gleiche Ge staltung wie die Bilder des su chenden Detektivs angenommen haben. Er verweist sowohl darauf, daß Frances Vergangenheit nur in Luigis Imagination entsteht, wie darauf, daß er dabei wahrgenommen wird, so daß die sub jektive Seite Primos, wie die objektive Seite des Films zu einer Sicht verschmelzen. Diese Musik taucht von da an immer wieder auf, bis in den New Yorker Epilog hinein und markiert diese Verschmelzung.

Die Männerphantasie Luigis wird so zum Theorem des Films, der diese Phantasie gleichsam über formt, indem es alle Handlungs motive der privaten Obses sion durchwirkt mit ihrer öf fentli chen Kehrseite: dem Trauma der Auslöschung noch der Vorstel lung von Liebe.

Die Regisseurin, Laetitia Masson, hat mit A vendre (»Zu verkaufen«) den zweiten Film ihrer Trilogie zum Thema »Liebe, Geld, Arbeit« produ ziert. Nahm ihr erster Film En avoir (ou pas) (»Haben oder nicht«) bis in die Titelgebung hinein noch das Projekt Godards »Liebe, Arbeit, Kino« in dessen Film Sauve qui peut (la vie) auf, so hat Masson mit A vendre Godards und ihre eigenen, neurotischen, aber stets vitalen Figuren, die das dialektische Verhältnis von Liebe und Arbeit, von Pri vatheit und Öf fentlichkeit immer wieder neu befragten, stillgestellt, indem diese sich selbst globalisieren. Das Trauma der Unmöglichkeit, Liebe auch nur zu denken, ist längst kollektive Konvention. Deshalb auch braucht es den digital gestalteten Epilog (France in New York, Luigi in Genua), weil dieser über die Materialität des Bildes das Volumen der Erinnerung, die im zirkulären Prozeß verlorene zeitliche Dimension wiederherstellt; die vollendete Zukunft: ihre Bilder werden gewesen sein. Der Film enttäuscht den ersten Blick des Zuschauers auf die wachsen den Dimensionen des Bildes hin.

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