Revolutionäre Momentaufnahmen

Im Kino Mit "Die Lady und der Herzog" verfilmte Eric Rohmer ein royalistisches Tagebuch der Französichen Revolution als Chronik einer Geschichte der Wahrnehmung

Der neue Film von Eric Rohmer Die Lady und der Herzog hinterlässt Verwirrung und Unsicherheit: Hat man es mit einem Meisterwerk der Literaturverfilmung zu tun oder handelt es sich um ein verkitschtes Alterswerk des über Achtzigjährigen? Wie schon in den siebziger Jahren mit Die Marquise von O nach Heinrich von Kleist (1976) und Perçeval le Gallois nach Chrétien de Troyes (1978) diente Rohmer auch diesmal eine historische Vorlage als Anlass der Verfilmung: das Tagebuch Journal of my life during the French Revolution der Engländerin Grace Elliott, in dem diese ihr Leben während der Französischen Revolution und ihre Liebe zum Herzog von Orléans, einem Cousin König Ludwigs des XIV., beschreibt. Die Perspektive des Films bleibt eng der Sicht der - antirevolutionären - Protagonistin verbunden, so dass zunächst der Eindruck entsteht, das große historische Ereignis diene lediglich als Hintergrund, vor dem sich das persönliche Melodram der englischen Lady - Flucht aufs Land, dann die Rückkehr ins vom Terror geprägte Paris, Verhaftung und Tod des Herzogs, gefolgt von ihrer eigenen Verhaftung - entfaltet. Wird die Geschichte hier privatisiert, der große Zusammenhang aufs Persönliche, Marginale reduziert oder gar trivialisiert?
Das um 1820 posthum herausgegebene Tagebuch gilt wohl tatsächlich als Produkt "minderer" literarischer Qualität, in Kindlers Literatur-Lexikon zum Beispiel wird man es nicht finden. Die ungeheuer geschwätzig wirkenden Dialoge des Films scheinen den trivialen Charakter des Tagebuchs zu bestätigen und seltsam unterschiedslos behandelt die Inszenierung die Inhalte des Sprechens: Modulation und Duktus scheinen, egal ob es um den neuesten Tratsch aus England, das Liebesgeflüster zwischen dem Herzog und Grace Elliot oder um Fragen der politischen Gesinnung geht, einem Boulevardstück oder Melodram der nachrevolutionären zwanziger Jahre des 19. Jahrhunderts entnommen. Der restaurative Charakter dieser Zeit, der sich im schwach ausgeprägten historischen und politischen Bewusstsein zeigt, tritt eben in jenen Stücken und Texten deutlich zu Tage, die je nach Mode einmal von revolutionärem, dann wieder von royalistischem Pathos getragen werden; zu letzterer Kategorie gehört auch das Tagebuch der Grace Elliot. Scheinbar ungebrochen bildet Rohmer dies ab, und nicht wenige Kritiker haben ihm deshalb royalistische Tendenzen vorgeworfen.
Ein "Historienschinken", der auf der Folie eines großen historischen Ereignisses ein Melodram von Liebe und Tod entfaltet: eine solche Beschreibung muss man aber bei Rohmer ganz wörtlich verstehen. Der komplett im Studio gedrehte Film bedient sich einer Technik, bei der die realen Figuren elektronisch in einen gemalten Prospekt eingearbeitet werden. Rohmer hat Stadtansichten nach Stichen des revolutionären Paris anfertigen lassen, die in zarten Pastelltönen gehalten sind und schon etwas von einem nachrevolutionären, fast romantischen Blick auf die Ereignisse zeigen. In diese Kulissen sind die mit historischen Kostümen ausgestatteten Darsteller einmontiert. Der Bildtypus dieser Stadtansichten entspricht den in Frankreich seinerzeit beliebten Tableaus vivants, Nachstellungen von religiösen Szenen oder berühmten Gemälden, aus denen heraus die Figuren des Films als Darsteller agieren. Diese in Bewegung gebrachten Bilder markieren eine buchstäbliche Aktualität der historischen Ereignisse. Die großen Dialoge zwischen Elliot und dem Herzog, oder zwischen ihr und dem königstreuen Gouverneur, den sie unter Lebensgefahr bei sich versteckt, entfalten auf diese Weise eine melodramatische Emphase, um dann, wenn sie zu Ende gesprochen haben, bewegungslos zu verstummen und so zum Tableau, zu einem Gemälde zu gerinnen. Eine stets ruhige, dokumentierende Kamera betrachtet sie dabei. In Sprache und Gestik scheinen diese Figuren direkt einem Text von Denis Diderot, dem großen französischen Theatertheoretiker der Aufklärung, entsprungen. Rohmer verfilmt das Elliotsche Tagebuch also als konsequente Befragung historischer Ausdrucks- und Bildformen, für die der pathetisch-theatrale Gestus ganz wesentlich ist.
Die Tableaus beziehen sich auf die herausragenden historischen Ereignisse zwischen 1790 und 1793: die Stürmung der Tuilerien, die Verhaftung des Königs im August 1792, die Massaker an den in der Folge inhaftierten Adligen im September 1792 oder die Hinrichtung Ludwigs XIV. im Januar 1793. Die Lady, Grace Elliot flieht zunächst auf ihren Landsitz bei Paris. Am Tage der Exekution des Königs steht sie mit ihrer Zofe auf der Terrasse ihres Anwesens, von dem aus sich ein weiter Blick über das Seinetal bis nach Paris eröffnet - selbstverständlich eine gemalte Kulisse. Während die Zofe, mit dem Rücken zum Zuschauer, durch ein Fernglas die Hinrichtung betrachtet und ihrer Herrin berichtet (die theatrale Teichoskopie), steht Elliot im Halbprofil zum Betrachter. Durch den Hell-Dunkel-Kontrast ist sie scharf aus dem Hintergrund herausgeschnitten und ihm, das erlaubt die große Tiefenschärfe der Einstellung, trotzdem sehr nahe. Diese Bildkonstruktion entspricht der Porträtmalerei der florentinischen Renaissance, wie wir sie etwa von den Porträts des Piero della Francesca kennen. Indem Rohmer nun diese Bildkonstruktion wählt, verbindet er Renaissance und Aufklärung im Bild der Royalistin Elliot: denn die Idee der lebendigen Individualität des Menschen der Renaissance setzt sich bei Diderot in der Konzeption des lebendigen Schauspiels als Charakterdarstellung fort, in der Illusion des in seiner Rolle aufgehenden Schauspielers, den der Zuschauer ganz real beweint.
Wie schon in seinen früheren Literaturverfilmungen hat Rohmer sehr eng am Text der Vorlage gearbeitet. Am Tagebuch der Grace Elliot hätten ihn die für diese Textgattung ungewöhnlich häufigen, sehr lebendigen dramatischen Elemente, Dialoge und Szenen fasziniert, so Rohmer in einem Interview. Rohmer hat nun die melodramatische Struktur des Textes, nicht denunzierend, sondern mimetisch, in das Schauspiel seiner Figuren überführt und diese in einen Kontext der Bildgestaltung gestellt, der nicht einfach das achtzehnte Jahrhundert nachstellt, sondern dessen bild- und ideenhistorische Bezüge freilegt.
Gleich zu Beginn des Films präsentiert Rohmer einen Bildtypus, der das ausgehende 18. Jahrhundert direkt mit unserer Gegenwart verbindet: Die Kamera fährt eine Salonwand ab, an der die Porträts der Protagonisten hängen. Im Stil der Epoche scheinen diese auf den ersten Blick ganz auf die Repräsentation des Adels ausgelegt. Aber anders als die typischen Porträts dieser Zeit, die von der Renaissance das Streben nach individuellem Ausdruck in zeitloser Wesenhaftigkeit übernommen hatten, handelt es sich bei den gezeigten Gesichtern um Momentaufnahmen, wie sie erst mit den kürzeren Verschlusszeiten der fotografischen Apparate ab etwa 1850 möglich wurden. Nicht mehr der wesenhafte, sondern der beliebige Moment eines Gesichtsausdrucks erscheint in diesen Porträts, so wie er uns aus unzähligen privaten und öffentlichen Fotografien vertraut ist.
An diesem historischen "Fehler" wird sichtbar, dass Rohmer alles andere als historisierend und damit unkritisch das Tagebuch der Grace Elliot verfilmt hat. Sein Geschichtsverständnis zeigt sich in der Frage danach, welches Bild man sich von der Vergangenheit macht. Diese Bilder sind durchdrungen von dem eigenen, dem aktuellen Bildempfinden, den Standards und Konventionen, mit denen man heutzutage wahrnimmt. Rohmers "Geschichtsunterricht" besteht also in einer Auseinandersetzung mit der alltäglichen Selbstverständlichkeit solcher Wahrnehmung. In der historischen Entfaltung ihrer ästhetischen Formen wird die Verquickung von politischer Entwicklung - die Französische Revolution - und Bildverständnis sichtbar. So mag sich denn auch Rohmers ironisch-entrüsteter Kommentar aus besagtem Interview erklären, man müsse die royalistische Gesinnung wenn überhaupt dann Grace Elliot vorwerfen, die habe schließlich das Tagebuch geschrieben, das er nur verfilmt habe. Als Chronist der Bildformen aber ist Rohmer alles andere als neutral.

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