Flugscham? Es braucht Zugstolz!

Verkehr Die Mobilität der Zukunft liegt in einem europaweiten Schienen-Netzwerk mit Schwerpunkt auf Nachtzügen
Ausgabe 31/2020

Ein Superzug mit 350 Stundenkilometern von Lissabon nach Helsinki – ein neues Großprojekt als Heilsbringer für das Klima, wie es Michael Jäger jüngst forderte (der Freitag 28/2020)? Bei solch teuren Versprechen ist ein kritischer Blick angebracht.

Zunächst einmal erfordert der Bau von Hochgeschwindigkeitsstrecken selbst immens viel Energie und Beton, was einen gigantischen CO₂-Ausstoß zur Folge hat und zudem viel Natur zerstört – wenn auch weit weniger als neue Autobahnen. Selbst wenn eine solche „europäische Seidenstraße“ zahlreiche Menschen vom Flugzeug in den Zug lockte, würde es viele Jahre dauern, diese Schäden auszugleichen, und auch die Instandhaltung einer solchen Strecke bleibt aufwendig. Die Realisierung dieses Megaprojekts würde zudem viele Jahre, vermutlich Jahrzehnte dauern. Die „Rail Baltica“, der Abschnitt der vorgeschlagenen Strecke zwischen Helsinki und Warschau, wird bereits seit 1994 geplant, doch die Realisierung steht bis heute in den Sternen. Gebaut ist so gut wie nichts – nach 26 Jahren. So viel Zeit haben wir in Anbetracht der akuten Klimakrise nicht mehr.

Aber auch das Fahren bei 350 km/h selbst ist alles andere als klimafreundlich: Der Energieverbrauch steigt bekanntlich exponentiell mit der Geschwindigkeit – der Nutzen jedoch keineswegs. Bei den höchsten Geschwindigkeiten geht es nur noch um Fahrzeitverkürzungen im Minutenmaßstab. Größere Zeitgewinne lassen sich nur dann realisieren, wenn die Züge weite Strecken ohne Unterbrechungen fahren.

Das wiederum führt aber dazu, dass die vielen Menschen entlang der Strecken außerhalb der Hauptstädte abgehängt werden. Die Bahn wie das Flugzeug als bloße Punkt-zu-Punkt-Verbindung zwischen den Metropolen zu denken, ist falsch, sie ist nur als Netzwerk von gut aufeinander abgestimmten Zügen durch das ganze Land wirklich nützlich, wie es mit dem Deutschlandtakt jetzt immerhin geplant ist. Dafür ergeben Geschwindigkeiten jenseits von 250 km/h im dicht besiedelten Mitteleuropa kaum einen Sinn. Stattdessen ist die Optimierung des Netzwerks, wie es die Schweizer Verkehrsplaner zur Perfektion getrieben haben, der richtige Weg. Oft ist eine komfortable Reise mit guten Umstiegen mehr wert als höchste Geschwindigkeiten auf Einzelstrecken. Im Übrigen ist das Versprechen der Mitnutzung einer solchen Super-Hochgeschwindigkeitsstrecke durch den Güterverkehr wenig glaubwürdig: Die Geschwindigkeiten und die Anforderungen an die Strecke sind viel zu unterschiedlich. Jede neue Hochgeschwindigkeitsstrecke in Deutschland wird mit der angeblichen Mitnutzung durch Güterzüge „schöngerechnet“. Aber nicht nur die zehn Milliarden Euro teure Neubaustrecke Leipzig/Halle – Erfurt – Nürnberg hat bis heute kein Güterzug befahren.

Das ist keinesfalls als Plädoyer gegen neue und ausgebaute Bahnstrecken zu verstehen. Diese sind an vielen Stellen in Europa, besonders über die Ländergrenzen hinweg, dringend notwendig. Gezielte Lücken-Ergänzungen und die Beschleunigung von Trassen an den richtigen Stellen können viel dazu beitragen, das bestehende Bahnnetz zu optimieren und Verbindungen attraktiver zu machen. Aber eine komplett neue Strecke ohne Einbeziehung des Bestehenden hat nur wenig Nutzen. Viel zu lange hat man insbesondere in Deutschland neue Hochgeschwindigkeitsstrecken ohne deren Einbindung in das bestehende Gesamtnetz geplant, erst jetzt findet ein langsames Umdenken statt. Diesen Fehler sollten wir nicht auf europäischer Ebene wiederholen.

Besonders für Langstrecken hilft stattdessen der Rückgriff auf bewährte Technik: Mit Nachtzügen lassen sich auch ohne aufwendige Neubaustrecken Entfernungen von 1.000 Kilometern über Nacht überwinden, und zwar auf dem bestehenden Bahnnetz, das in Europa zum Glück immer noch sehr dicht ist. Wo es bereits Schnellstrecken gibt, sind sogar noch deutlich weitere Entfernungen möglich. Dabei ist der Zeitaufwand auch ohne Hochgeschwindigkeit viel geringer als bei Tageszügen, weil man bequem im Schlaf reist. Auch mit 350 km/h würde eine Reise quer durch Europa weiterhin viel länger dauern, als die meisten Menschen in einem Zug sitzen möchten. Was gibt es stattdessen Angenehmeres, als morgens zum Frühstück ausgeschlafen in einer neuen Stadt anzukommen? Hier hat die Bahn sogar gegenüber dem Flugzeug die Nase vorn, bei dem man dafür mitten in der Nacht aufstehen muss.

Entschleunigung bereichert

Leider sind viele europäische Bahnen, allen voran die Deutsche Bahn AG, in den vergangenen Jahren aus dem Nachtzuggeschäft ausgestiegen, weil sie mit den subventionierten Billigfliegern nicht konkurrieren konnten und Schlafwagen für viele ein altmodisches Image hatten – zu Unrecht. Immerhin gibt es punktuell bereits eine kleine Renaissance und einige neue Verbindungen. Ein neues Nachtzugnetz könnte mit entsprechender Unterstützung aber in wenigen Jahren aufgebaut werden und ganz Europa – nicht nur einige Metropolen – komfortabel und klimafreundlich verbinden. Mit dem „LunaLiner“ haben Aktivisten schon vor vier Jahren ein Konzept für ein Europa-überspannendes Nachtzugsystem mit vielen Direktverbindungen entworfen.

Auch für neue Züge, die den veränderten Reisegewohnheiten entsprechen und das Nachtzugreisen noch komfortabler machen könnten, gibt es Ideen; hier schreiten die Österreichischen Bundesbahnen als mit Abstand größter Nachtzugbetreiber in Europa voran. Aber auch heute schon hat die Bahn beim Komfort gegenüber den Billigfliegern die Nase vorn – angefangen bei den Warteschlangen und Sicherheitschecks an Flughäfen bis hin zu den Flugzeugen, in denen die Reisenden trotz der Corona-Infektionsgefahr dicht zusammengepfercht werden. Etwas Entschleunigung wäre nicht nur hier eine echte Bereicherung.

Wer mehr Menschen für die Bahn gewinnen will, braucht nicht nur neue Bahnstrecken, sondern vor allem auch die Politik: Mit dem Bau neuer Gleise allein entsteht noch kein Netz brauchbarer Zugverbindungen, die Buchung internationaler Bahntickets ist heute meist aufwendig und im Vergleich zum Flugzeug oft teuer. Notwendig ist neben den Verbesserungen der Bahn ein Abbau der Privilegien des Luftverkehrs.

Vereinigte Bahnen von Europa

Zunächst einmal müssen die massiven Steuervorteile für die Luftfahrt abgeschafft werden. Warum ist der Flugverkehr von der Kerosinsteuer befreit, zahlt nur einen kleinen Teil seiner CO₂-Verschmutzungs-Zertifikate – auf grenzüberschreitende Flüge wird nicht einmal Mehrwertsteuer erhoben –, und warum werden die oft ausbeuterischen Arbeitsbedingungen akzeptiert?

Wir benötigen als gute Alternative endlich wieder ein wirklich Europa-überspannendes, abgestimmtes Netz komfortabler und schneller internationaler Tages- und Nachtzüge – verknüpft mit Fähren, wo es keine Landverbindung gibt. Ziel muss überall eine attraktive, klimafreundliche Alternative zum Fliegen sein. Daher sollte die EU den Aufbau neuer Verbindungen und Investitionen in neue Züge finanziell unterstützen und dabei die Kooperation zwischen den Bahnen für den grenzüberschreitenden Verkehr fördern.

Wären nicht die „United Railways of Europe“ mit dem Versprechen einer europaweiten Mobilität auf der Schiene ein großartiges Ziel? Dazu gehört auch ein europaweit einheitliches Buchungssystem, damit der Kauf von Tickets für die Bahn in Zukunft mindestens so einfach wird wie heute im Luftverkehr. Die Flugscham breitet sich von Schweden her allmählich in Europa aus. Was fehlt, ist der Zugstolz. Dafür ist noch viel zu tun, und zu diesem Zweck wären das Geld und die Energie weit besser genutzt als in einem neuen Megaprojekt.

Bernhard Knierim engagiert sich bei „Bahn für Alle“ und im europäischen Netzwerk „Back on Track“. Gemeinsam mit Winfried Wolf hat er kürzlich das Buch Abgefahren. Warum wir eine neue Bahnpolitik brauchen veröffentlicht

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Geschrieben von

Bernhard Knierim

Biophysiker und Politikwissenschaftler, aktiv für eine Mobilitätswende: weniger Verkehr insgesamt, mehr Fahrrad, Fußverkehr und öffentlicher Verkehr.

Bernhard Knierim

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