Die Tiefenzeit der Zukunft

Natur 2020 war ein großartiges Lyrikjahr für die Natur: Drei deutsche Dichterinnen erkunden, wie porös unsere Gegenwart ist
Der Schieferabbau als Chiffre für den Raubbau überall dort wo der Mensch hinkommt mit seiner Qual
Der Schieferabbau als Chiffre für den Raubbau überall dort wo der Mensch hinkommt mit seiner Qual

Foto: imago images/robertharding

In ihrem geistreichen Flugblatt „Der Wostok-Eisbohrkern erteilt eine Lektion in Creative Writing“ empfiehlt Nancy Campbell Mitgliedern der schreibenden Zunft: „Sei vollständig. Erzähl die ganze Geschichte; sämtliche Tage aller Jahreszeiten, Sommer wie Winter, von der Gegenwart bis zum Anbeginn der Zeit.“ Seit Wissenschaftler an Gaseinschlüssen in Eisbohrkernen aus der Antarktis nachgewiesen haben, dass sich das globale Klima unter dem Einfluss der fortschreitenden Industrialisierung maßgeblich verändert, hat sich auch unser kollektives Bewusstsein gewandelt. Der Mensch wird sich seiner geologischen Wirkmacht bewusst. Wir können heute nicht mehr in der engen Enklave der Menschheitsgeschichte verharren, wir müssen über uns als Teil der Geschichte der Biosphäre nachdenken.

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Was verlieren wir, wenn wir den Planeten immer weiter zerstören? Dieser Frage widmet sich die Freitag-Sonderausgabe zum Jahresende

Drei Gedichtbände sind dieses Jahr erschienen, die Campbell beim Wort nehmen und sich dieser Herausforderung stellen: unsere „ganze Geschichte“ zu erzählen. Esther Kinsky nimmt in Schiefern ihre Leser auf eine Reise zu den Slate Islands vor der Westküste Schottlands und damit auf eine Fahrt in die Unterwelt der geologischen Tiefenzeit. Anja Utler versetzt uns in einer furiosen postapokalyptischen Meditation gleich direkt ins Fegefeuer. Sie tätowiert uns unsere Sprachlosigkeit angesichts der drohenden ökologischen Kollapse, die wir hätten kommen sehen können (so der Titel), in die Haut. Marion Poschmann hingegen richtet in Nimbus ihren Blick in den Himmel, auf Wolken und Wetter, Atmosphäre und Klima. Ihre Gedichte beobachten einen zunehmenden Resonanzverlust mit der Welt und vermessen mit ironischer Melancholie den „Restschnee“ unserer Beheimatung auf diesem Planeten.

Kinsky setzt also über auf die „Schieferinseln“ und fühlt sich gleich im ersten Gedicht „so dicht am rand der furchen tiefer zeit“. Das kleine Archipel liegt zwar zwischen den Whiskey-Inseln Jura und Oban, ist aber für etwas anderes bekannt: Es ist ein gigantischer Schiefersteinbruch, eine vom Menschen über Jahrhunderte in die Erdkruste geschlagene Wunde, an der sich neben geologischen Geschichten auch Sozial- und Industriegeschichten ablesen lassen. „Spaltsteinern“ oder auch „metallisch hell“ intoniert Kinsky die „splittersprachige frage nach der größeren versehrung“ und meint damit sicher nicht nur den Schieferabbau auf der schottischen Insel, sondern den Raubbau überall dort wo der Mensch hinkommt mit seiner Qual, also den ganzen Globus: „jedes abstürzende bruchteil hinterlässt eine rohe fläche, wund vor unvertrautheit mit salz und luft und regen, unversehens aus dem schlaf der erinnerung an eine vorzeit geweckt.“

So liegt denn die Faszination dieser Texte vor allem darin, wie es Kinsky gelingt, in der genauen Beobachtung kleinster Details große Zusammenhänge spürbar zu machen, den Industrialismus, die Gewaltgeschichte des europäischen Kolonialismus, die Eigenzeiten der Geologie und der Evolution. Sie buchstabiert die Tragik des Menschseins nicht als Tragödie aus, sondern als ein unabschließbares Ringen um Sinn und Schönheit in Max Webers „stahlhartem Gehäuse“ der Modernisierungsprozesse: „a broken place / man rette seine haut / vor all den narben die hier möglich sind. / So liegt ein morgen unberufen in seiner furche zeit.“

Der Gedichtzyklus ist als Triptychon angeordnet. Erster Teil: Überfahrt und Abstieg in die Tiefenzeit. Zweiter Teil: Betrachtung einer alten Schulfotografie von der Insel; die Gedanken eines jeden Kindes werden gewissermaßen auf kleinen Schiefertäfelchen in Form von Vierzeilern imaginiert; durch diese Erinnerungsbruchstücke ziehen sich zwei kristalline Adern, wortgewaltige klarsichtige Reflexionen über das Lernen und das Erinnern. Der dritte Teil ist überschrieben mit „Schrifttierchen“, eine Eindeutschung von Grapholithen: polypenähnlichen Meerestieren, die Kolonien bilden und kammerartige Spuren im Fossilbericht hinterlassen. Fasziniert von diesen Hieroglyphen aus dem Kambrium, denkt Kinsky über das menschliche Bedürfnis nach, sich die Welt lesbar zu machen. Sinnstiftung ist eine Form der Beheimatung, aber auch Obsession und Wahn: „ein altes meer gebrochen zu lasten scheiben scherben : kritzelwesen im traum gefangen.“

Der Schiefer ist nicht statisch, er „schiefert“ sozusagen, daher auch der Titel Schiefern. Dieses Tätigkeitswort belebt den mittlerweile etwas abgegriffenen Vergleich zwischen geologischen Schichtungen und menschlichem Gedächtnis. Im Bild der Furchung und Falte wird dieser Vergleich vertieft: die geologische Furche, die Falte des wachsenden Fötus im Maulbeerstadium und die neuronale Bahnung des Erinnerungsorgans Gehirn werden aufeinander bezogen. Nicht immer funktioniert Kinskys Engführung der Tektonik von Geologie und Gedächtnis. Manchmal bleiben die Bilder, die diese Bereiche zusammenführen sollen, assoziativ. Bei allem Interesse Kinskys an der Erdgeschichte und bei aller Empathie für die Lebensgeschichten der Inselbewohner scheinen die heimlichen Protagonisten dieser Gedichte weder Stein noch Sapiens zu sein. Es sind dies vielmehr die Vögel, deren sporadisch erklingender Goldpfiff und Rostklang eine unvergessliche Unmittelbarkeit herstellen, sogar noch in ihrer Abwesenheit: „in erwartung eines lauts um den zu krümmen sich lohnt ein vogelruf etwa unmöwig das gurlen des regenpfeifers oder der kiebitz mit seinem wundpfiff meistens bei nacht.“

Bei aller Sorgfalt verliert Kinsky sich gelegentlich bei ihrer Suche nach dem mot juste im „hohlraum gedenkspur“. Das kann Anja Utler nicht passieren, dazu fehlt ihr das Vertrauen in die Tragfähigkeit der Sprache, wenn sie in kommen sehen durch postapokalyptische Sprachruinen streift. Dieser stockende Dialog zwischen einer alternden Mutter und ihrer Tochter nach einer ökologischen Katastrophe, die euphemistisch „drei Jahre Sommer“ genannt wird, ist die eigentliche Entdeckung dieses Lyrikjahrs. Nancy Campbell schrieb in ihren Empfehlungen zum kreativen Schreiben: „Sei präzise. Lass dich nicht von deinen Ängsten ablenken, von der unmittelbar bevorstehenden Auslöschung. Entscheide niemals im vornherein über deine Ergebnisse.“ Utlers Texte tun genau das: sie sind präzise bis zum Schmerz, fokussiert ohne jede sprachliche Eitelkeit, radikal offen. Die Umschlagzeichnung auf Utlers erstem Lyrikband münden – entzüngeln (2004) zeigt den Lauf der Naab um Schwandorf, ihrem Geburtsort; das lyrische Gewebe steht, so wird damit angedeutet, in einem nicht näher bestimmten Verhältnis zum Gewässer. Den Einband von kommen sehen ziert nun der gleiche Lauf der Naab, nur ist der Fluss unterbrochen, stellenweise ausgetrocknet: Ein Wadi in der durch den Klimawandel versteppten Oberpfalz. Wie geht schreiben, wenn einem das Grundwasser abgegraben wird, die Resonanzen mit Welt und Umwelt gekappt sind?

Auch wenn Utlers lyrischer Dialogversuch in der Zukunft stattfindet, ist ihre Sprache ganz und gar Gegenwartsanalyse. Eine Mutter sucht den Kontakt mit ihrer Tochter, sie ist offenbar getrieben von dem Wunsch, ihr etwas wichtiges Unausgesprochenes mitzuteilen über die Katastrophe, hinter der sich eine neue Normalität eingenistet hat. Hat man die Katastrophe „kommen sehen“? Hätte man sie verhindern können? Hat sie unsere Sprache zertrümmert, unsere Sinne atrophiert, unser ethisches Empfinden ausgetrocknet? Utler porträtiert nicht nur die Sprachlosigkeit und Spracherprobung eines Generationenkonflikts, sie entwirft eine zukünftige dystopische Sprachverstümmelung und Sprachverstummung, die sie konsequent aus unserer Zeit herleitet. Diese Sprache, durchschossen von wissenschaftlichen Fachbegriffen, politischen Floskeln, mythologischen Einsprengseln, Werbejargon, Alltags-Soundbites, hat ihr zersetzendes Werk schon längst begonnen. Diese „Sprache, die dünner macht“ und der unsere neuronalen Netzwerke permanent ausgesetzt sind, ist Teil unseres Nicht-Kommen-Sehen-Wollens: eine toxische Melange aus Sprachhäcksel und Besänftigungsnarrativen, die unsere Aufmerksamkeit zu einer sentimentalen Zerstreutheit hat verkommen lassen.

„Ob nicht eine Seele eh nachwachsen würde“ – dieser Satz bringt die verzweifelte Hoffnung der Muttergeneration, also der unsrigen, in seiner ganzen Tragik auf den Punkt: wir sind Zeitzeugen eines Ökozids, der sich vor unseren Augen abspielt, und haben dennoch das Gefühl, noch Teil der scheinbar unendlichen Regenerationszyklen der Erde zu sein. Nein, uns wächst keine Seele nach, wenn wir ihr das Wasser abgraben und den Sauerstoff entziehen. Und doch wächst etwas nach in Utlers lyrischen Sondierungsversuchen in den „verdünnten Biota“ nach der Apokalypse. Etwas sucht sich neues Leben, „eng wie ein trockenes Blutfädchen durch einen alten Schnitt.“ Das Nachwachsen von individuellem Lebensgewebe ist schmerzhaft durchzogen vom Bewusstsein der totalen Vereinzelung im Lebensgewebe zwischen den Generationen. Die Weitergabe von Leben zwischen den Narben des Ökozides, unter den Bedingungen genetischer Manipulierbarkeit und dem Fortbestehen patriarchalischer Strukturen bleibt das unaussprechliche Thema zwischen Mutter und Tochter.

Kommen sehen verweigert sich dem Phantasma der Auslöschung. Utler treibt stattdessen aus der Bereitschaft zur Zwischenmenschlichkeit, aus dem in die sprechenden Körper eingravierten Horror einen Lobgesang hervor – ein Sprechen, das sich durch alle Sprachzertrümmerung hindurch „einzittert“ in eine neue Sprachwerdung: „Ein Schreck der nach / dem Flattern der Fledermäuse sieht sich daran nieder- / sucht an jedem bewohnbaren Abend es will es will.“ Ihre Kunst, in den geschleiften Sprachruinen resonanzfähige Sprachgesten entstehen zu lassen, ist einzigartig. Klage- und Lobgesang in einem, ist kommen sehen die intensivste lyrische Selbstbefragung des Menschen vor den „drei Jahren Sommer“, die uns noch bevorstehen.

Einen ganz anderen Ton schlägt Marion Poschmann an. Schwebend, fast sprachspielerisch, teilweise ironisch stimmt sie in Nimbus ihre feinsinnigen Gesänge über Beobachtungen an, in denen sie das kommen sieht, was Utler aus dem Futur II heraus in den Blick nimmt. „Luft ist unsichtbar,“ schreibt Nancy Campbell, „aber sie enthält genauso viele Informationen wie Eis.“ Das könnte auch als Motto über diesen Gedichten stehen. Poschmanns Blick in die Wolken am Himmel, die ständig ihre Form ändern, wird zu einer dichterischen Auseinandersetzung mit dem Unverfügbaren in der Welt – dem, was sich dem kontrollierenden Zugriff entzieht: „unser Verhältnis zu Flächen mit frisch / gefallenem Schnee // ob wir imstande wären / sie nicht zu betreten.“ Natürlich wissen wir heute um die brutale Gewalt der Ausbeutung aller natürlichen Ressourcen, die Folgen unserer Unfähigkeit etwas „nicht zu betreten“ und in seinem Sosein zu belassen. Wir „sehen es kommen“, und dennoch…

Poschmann muss nicht dort sein, „wo die Eisberge langsam / versinken und im Versinken noch Größe beweisen“, sie stöbert die fatale Unfähigkeit, etwas in seinem Sosein zu lassen, in unserem Alltag auf, in unseren Verwicklungen in die „Kunststoffwunder“ unserer anthropomorphen zweiten Natur, in der Banalität unserer säkularen Rituale: „Noch gestern betete ich Berge an. / Ich kaufte Ansichtskarten, schickte sie / an mich, nach Hause zur Erinnerung / an das Zerstörungswerk, das ich hier tat, / ich taute Grönland auf mit meinem Blick, / ich schmolz die Gletscher, während ich sie voll / der Andacht überflog.“ Selten wurde die Tragik, Widersprüchlichkeit, moralische Ignoranz unseres Lebensstils so klar und leicht und darum umso ätzender in Verse gestanzt. Selbst die „dünne Luft“ würden wir uns noch dienstbar machen wollen, um „das Ungeheure, / Ungeheuerlichste zu bezwingen, / ganz leicht als schliefe man in seinem Sessel / und träumte nur von einem langen Flug.“

Neben der analytischen Schärfe und ästhetischen Brillanz, die diese drei Bände auf unterschiedliche Weise an den Tag legen, verbindet sie auch und trotz aller Empathie mit dem Menschsein die erschütternde Einsicht, die Hölderlin mit seiner etwas eigenwilligen Übersetzung Sophokles in dem Mund legte: „Vielgestaltig ist das Ungeheure, / und nichts ist ungeheurer als der Mensch.“

Info

Schiefern: Gedichte Esther Kinsky Suhrkamp 2020, 103 S., 24 €
kommen sehen: Lobgesang Anja Utler Edition Korrespondenzen 2020, 128 S., 18 €
Nimbus: Gedichte Suhrkamp 2020, 128 S., 22€

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