Mensch, guck in die Luft

Anthropozän Birgit Schneider präsentiert uns eine beunruhigende Wahrheit: Die Instrumente, die uns die Welt zeigen, verändern sie zugleich
Ausgabe 01/2019

Als Ulrich Beck 1985 sein Buch Risikogesellschaft fertigstellte, konnte er nicht ahnen, dass ihm die Geschichte noch vor Erscheinen seiner Thesen unwiderlegbare Beweise in die Hände spielen würde. Wenige Monate später explodierte Reaktor 4 des Kernkraftwerkes Tschernobyl. Nach Tagen sowjetischer Verschleierungen traute im wunderschönen Monat Mai niemand mehr der Heiterkeit des Himmels, der Reinheit des Regens, der Weiße der Milch. Weder dem Salatblatt noch dem Futtermais konnte man anfühlen, wie viel Becquerel in ihm steckten, von Pilzen ganz zu schweigen. Wir leben unter einem technologischen Überbau, in dem unsere evolutionär geprägten Sensorien für Risiken nur noch eingeschränkte Dienste verrichten. Die Risiken, die durch Industrialisierung der Landwirtschaft und Veränderung der chemischen Makrozyklen der Erde entstehen, können unsere Sinne nicht einholen.

In Zeiten, da das Klima der Erde immer schneller auf irreversible Kippmomente zuzusteuern scheint, wird die sinnliche Entfremdung des Menschen von den Gefahren, die ihm seine Lebensgrundlage entziehen, alltäglich und planetarisch. Die Kluft zwischen uns und den Risiken überbrücken wir durch ein riesiges Datenarsenal, das wir in Form von Grafiken und Modellen, Karten und Fotografien konsumieren. Dem Einzelnen vermitteln diese visuellen Übersetzungen eine widersprüchliche Botschaft: Auf Deine sinnlichen Wahrnehmungen ist kein Verlass; dafür aber darfst Du teilhaben an der Allmacht des apollinischen Auges, das von außen die Welt vermisst. Die Potsdamer Medienwissenschaftlerin Birgit Schneider hat sich mit den Wurzeln dieses Grundparadoxes unserer Zeit auseinandergesetzt. In ausführlichen Analysen legt sie dar, wie viele mediale Schichten wir zwischen die Erde und unseren Blick als Erdbewohner auf unsere winzige kosmische Heimat gelegt haben. Angetrieben ist ihre Forschung von der Überzeugung, dass ein rein quantitativer Zugriff auf den Klimawandel, der den meisten Visualisierungen von Klimadaten zugrunde liegt, den Bock zum Gärtner macht: Einstein wird der Satz zugeschrieben, dass man Probleme „niemals mit der gleichen Denkweise“ lösen könne, „durch die sie entstanden sind“. So schickt sich Schneider an, zu zeigen, wie tief verwurzelt unsere Erd-Bilder heute vom Wunsch geprägt sind, den Planeten mit unseren Geräten komplett zu überwachen.

Mensch als Prothesenwurm

In einer dichten Beschreibung der Klimaforschungsgeschichte entführt uns Schneider in kameralistische Ursprünge der klimatischen Datenerfassung Ende des 18. Jahrhunderts, etwa in der Wetterwarte der Pfälzischen Meteorologischen Gesellschaft. Sie erklärt uns den Paradigmenwechsel unter Alexander von Humboldt, der sich gut an dessen Isothermenkarte von 1817 illustrieren lässt. Es waren der relationale Blick auf das Ganze und die synoptische Perspektive, die Klima als Forschungsgegenstand erst hervorbrachten. Humboldt betonte hierbei die wissenschaftliche Notwendigkeit einer ästhetischen Reflexion der Darstellung, die auch eine Selbstreflexion des Beobachters ist. Die ganze Erde wird zum Erkenntnisgegenstand, in den der Mensch ökologisch verwoben ist. Diese Dimension entfällt im Verlaufe des 19. Jahrhunderts zunehmend. Die Weltbürger der Gelehrtenrepubliken schauen immer öfter durch ein Panoptikum auf die Erde und haben keinen Sinn mehr für die „Heiterkeit des Himmels“, von der Humboldt schrieb.

Schneider verfolgt einerseits das Ziel, „die Gemachtheit der Bilder und Daten“ zu diskutieren und andererseits „die Bilder als Schau- und Kampfplätze von Wissen und Politik“ auszuleuchten. Ihr Anliegen ist eine Diskursanalyse der Klimavisualisierung im Anthropozän: Welche Kosmologie steckt hinter den Bildern der Klimaveränderung?

Sie untersucht ikonische Darstellungen wie die Keeling-Kurve, die den Kohlendioxidgehalt der Atmosphäre seit 1958 abbildet, den Hockeyschlägergraf, der den plötzlichen Temperaturanstieg in der Nordhalbkugel seit circa 1850 dokumentiert, die „Burning Worlds“, die in apokalyptisches Rot driftenden Szenarien der Erderwärmung bis 2085. Dabei zeigt sie ein Paradox auf: „Damit das Klima ein objektiver Gegenstand der Forschung werden konnte, musste es von subjektiven, ästhetischen Wetterempfindungen getrennt werden und stattdessen Teil eines funktionierenden Sensings durch Instrumente werden.“ Die mediale Verarbeitung von Daten macht Klima zum Gegenstand von Erkenntnis und, im Sinne Becks, von Risikoerfahrung. Mehr noch: Klima ist ein Darstellungseffekt der Weltanschauung, die die Klimakrise hervorgebracht hat: der instrumentellen Vernunft, die sich immer schon aller empirischen Daten bemächtigt hat.

Dieses Paradox beerben alle Bilder, die der Degradation der Biosphäre ein Gesicht verleihen wollen: Einerseits sind sie die einzige wissenschaftlich verifizierbare und gleichzeitig demokratisch kontrollierbare Auseinandersetzung mit den zukünftigen Folgen unseres heutigen Verhaltens. Andererseits beschleunigen sie die Transformation der Welt in Bilder von Welt.

Wer ist befugt, „als Zeuge des Klimawandels zu sprechen und angehört zu werden“? Wissenschaftler oder Praktiker? Panoptiker oder Betroffene? Unsere Unfähigkeit, das zu beantworten, hat damit zu tun, dass die drängendsten Probleme nicht nur unseren Sinnen entzogen sind, sondern auch unserer Einbildungskraft. Diese „Anästhetik des Klimawandels“, so Schneider, mache uns abhängig von der Eigendynamik von Big Data und von den „Kosmogrammen“ einer panoptisch wahrgenommenen Welt. Sie sieht die Gefahr, dass die Menschen der Zukunft sich rein technokratischen Lösungen der Klimakrise zuneigen werden. Deswegen werden viele andere Bilder, Narrative und Augenzeugenberichte des Klimawandels ausgeblendet werden.

Dass wir die Welt „nur dann wahrnehmen, wie sie wirklich ist“, wenn wir sie vermittels dieser Welt-Bilder verlassen, ist vielleicht das eigentliche tragische Moment unserer Zeit: Wir merken nicht, dass wir nicht zurückkönnen auf die Erde, auch wenn wir noch auf ihr hausen.

Info

Klimabilder. Eine Genealogie globaler Bildpolitiken von Klima und Klimawandel Birgit Schneider Matthes & Seitz 2018, 300 S., 30 €

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