Offen wie Stein

Literatur Drei Gedichtbände erkunden unsere menschliche Beziehung zur mehr-als-menschlichen Welt
Ausgabe 20/2020

Welchen Anteil hat menschliches Tun an den Feuerwalzen, die im letzten Jahr durch Australien wüteten? Am Dürresommer in Europa? Am ständig steigenden Methanausstoß des auftauenden Permafrostbodens in Sibirien? Eine neue Wissenschaft, Attribution Science genannt, beschäftigt sich mit der Zuschreibung von Kausalitäten im Wettergeschehen. Die Umweltethik einer Zeit, in der Menschen zu geologischen Akteuren geworden sind, will belangbare Schuldige benennen können. Den meisten Zeitgenossen ist insgeheim bewusst, dass ihr Konsumverhalten unsere Welt von Grund auf verändert. Ob sie dafür den modischen Begriff „Anthropozän“ verwenden oder nicht, sie sind alle Bürger einer Zivilisation, die auf Kriegsfuß mit der Biosphäre steht.

In der Literatur finden sich frühe Zeugnisse einer intuitiven Ahnung, dass das kollektive Wirken des Menschen tief in den Naturhaushalt eingreift, etwa schon bei Johann Gottfried Herder Ende des 18. oder den dystopischen Visionen eines „letzten Menschen“ im frühen 19. Jahrhundert. 1924 veröffentlichte Alfred Döblin mit dem Geo-Epos Berge Meere und Giganten einen Urtext der Anthropozänliteratur – 80 Jahre bevor der Begriff geprägt wurde. 1979 verdichtet Max Frisch in seinem experimentellen Text Der Mensch erscheint im Holozän Reflexionen über die vom Menschen verursachte Veränderung der natürlichen Rahmenbedingungen unserer Existenz. Die Lyrik kam da naturgemäß später, ist sie doch vornehmlich interessiert am sinnlich Erfahrbaren und subjektiv Verdichteten. Doch auch in Gedichten hinterlässt die Wahrnehmung der Erde als System oder Organismus schon länger ihre Spuren, etwa bei Ingeborg Bachmann oder bei Wulf Kirsten. Dessen wichtigste Gedichte wurden nicht zufällig unter dem Titel Erdlebenbilder (2004) veröffentlicht, der Bezug nimmt auf den Anspruch des romantischen Malers Carl Gustav Carus, im Gemälde sowohl objektives Geotop (Erdleben) wie auch subjektives Landschaftsempfinden (Erleben) auszudrücken.

Den Herbst festnageln

Nun hat Kirsten einen neuen Band vorgelegt, der Gedichte aus den Jahren 2011 bis 2018 versammelt und schon im Titel auf diesen Anspruch zurückverweist: Erdanziehung. In einer entschlackten Sprache schreibt er von den Zentrifugalkräften, die uns zerstreuen und, wie Hannah Arendt schreibt, der „Erdentfremdung“ ausliefern. Trotz aller Freude, die viele der Gedichte verströmen, ist die titelgebende Erdanziehung auch eine schmerzhafte. Denn inwieweit man sich in diesen Landschaften – arbeitend, wandernd, betrachtend – noch selbst erleben kann, ist unsicher geworden. Diesen kulturellen Verlust buchstabiert Kirsten in teils melancholischen, teils sarkastischen Bildern aus: „weit und wüst / verstreut kaufhallen / im gelände, supermärkte / für heimwerker, die den herbst / festnageln wollen“. Wie können wir, fragt er, in einer Zeit leben, die „entsorgt / die krumme wahrheit des raums“? Kein deutscher Schriftsteller hat das Nachdenken über den Menschen so tief in die Erdgeschichte eingebettet. Kirsten beschwört eine raumzeitliche Fülle, die uns unsere Erdvergessenheit austreiben will. Auch die Jahreszeiten wechseln bei ihm in der geologischen Tiefenzeit: „weit hinüber / zur breitwannigen Rhône hängt euterschwer / ein jahrgang wein an verknorzten rebstöcken“. Nicht alle Gedichte sind von gleicher Güte; manche der literarischen Hommagen und der stilistisch verknappten Gedichte wirken etwas schlaff. Sein Element ist und bleibt die „welthäuslichkeit“ mit ihrer chaotischen Lebensverwobenheit, die er mit seinem unvergleichlichen Satzbau zu erhellen versteht. Glücklicherweise ist diese Satzbaukunst „den flurbereinigern entgangen“: „himmlisches frachtgut, wolkenballen- / geschiebe mit windantrieb, das sich / der erdanziehung widersetzt, vonwegen / v sei g mal t, mein bescheiden teil / blieb zu lebzeiten auf bodenhaftung / bedacht.“

Ein regelrechtes Anthropozän-Programm stellt der Verlag dem neuesten Band von Tom Schulz, Reisewarnung für Länder Meere Eisberge, nach: Es gehe ihm darum, „den Kreislauf aus Gier und Fertigteilen“ zu unterbrechen und Bewusstsein zu schaffen „für die Schönheit und die Gefährdung der Welt“, die sich „in immer rasanterem Tempo vom paradiesischen Zustand zu entfernen scheint“. Den Band durchzieht die Sehnsucht nach dem „Erdleben“ und der sinnlichen Erfahrung raumzeitlicher Fülle, doch Gedichte bei Schulz sind nur mehr kurzfristig zusammengesetzte Fragmente in der großen Weltzentrifuge: „Das Land, eine Eintrittswunde / ein Kanal aus Blut, der Himmel / nackt und knisternd, hell / nachts voll von Weltraumschrott und Sternen.“ Das lyrische Ich gefällt sich ein wenig in seinem Globetrottertum; aber immerhin führt das zu einem Perspektivenreichtum, der die ökologische eng mit der sozialen Frage des Anthropozäns verwebt: „Das Zittern der Hochhäuser, auf Zeit gebaut / die abnimmt, ab und zu ein verstärktes Beben / drei oder vier auf der Richterskala, Kolibris / fliegen in Scharen zwischen den Krematorien / aus Beton Stahl und Glas auf.“ Die Grundfrage, die auch Schulz aufwirft, ist die nach unserer Erdschwere in einer Zeit, in der wir über Bildschirme wählen können „Zu welcher Welt wollen Sie gehören?“. Er möchte schreiben „in den Landschaften / die ausgerissen werden, abgeholzt, weggebaggert“, er möchte in die „Landschaften zurückkehren“, zum „Anfang des Baums, der Zweige, des Blattes / Anfang von Samen, Sternschleuder, Anfang / von Schrei“. Die Antwort auf die Frage, was denn dieser Anfang sei, ist ein aufrüttelndes Bild: „Den Aussätzigen vom Gehsteig aufheben, der wie tot / daliegt, ihn in ein frisches Baumwollhemd kleiden. / Uns bleibt keine Zeit.“ Diese Kunst, in Bildern soziale Ungerechtigkeit und Raubbau an der Natur aufeinander zu beziehen, macht etliche von Schulz’ neuen Gedichten einzigartig. Nicht selten lässt sich Schulz aber auch zu plakativeren Gedichten hinreißen, die zu schnell Frieden schließen mit einer wohlfeilen Kritik an Kapitalismus und Provinzialismus. Insgesamt ist der Band aber eine beachtenswerte Auseinandersetzung mit unseren Lebensbedingungen im 21. Jahrhundert.

Die lyrische Entdeckung des letzten Herbstes war der neue Band von Gerhard Falkner, Schorfheide: Gedichte en plein air. Von der ersten Zeile weg zieht der unverkennbare Sound die Leser in seinen Bann und ermöglicht einzigartige Begegnungen mit der Welt: „Ebenso wie mein Herz / ist diese Heide das Ergebnis der letzten Eiszeit / Von den Fortschritten der Neurowissenschaften … / bleibt diese Tatsache unberührt.“ Das Ganze ist, wie bei Kirsten, eine Suche nach Lebenswundern „en plein air“ – unterm „Freilichthimmel / im blindlings durchwanderten Breitband-Gelände“. In der Fähigkeit, das Ungestaltete, sich ständig neu Gestaltende in der Natur staunend walten zu lassen, „gelingen uns endlich / Schritte durch einen fußnotenfreien Raum“. Im Staunen kann Sprache zu ihren schöpferischen Wurzeln zurückfinden. Den Verächtern der Naturforscher und den Zweiflern daran, dass die Menschen der „mehr-als-menschlichen Welt“ (David Abram) überhaupt begegnen könnten, wirft Falkner mit einem verschmitzten Lächeln seine Sätze ins Gesicht: „Ich habe die Sommerwolken nicht erfunden / sie wurden mir ans Herz gelegt / vom Barnim, seinem pleistozänen Höhenzug / der sich bis Pankow hinbewegt.“ Die „Seinsvergessenheiten“ der Gegenwart nimmt er in all ihrer Aufgeblasenheit ins Visier und bringt sie zum Platzen. Wie er auf seinen Streifzügen durch die Schorfheide über die Worte stolpert, die, „offen wie Steine“, seine Sinne weiten zu einem Raum, „der auf sich selbst beruht“, ist eine Klasse für sich. Falkners Poetik ist dabei sowohl Trauerarbeit als auch Exerzitium: Er möchte durch den Verlust unserer lebendigen Beziehung zu Landschaften und unseres „naturpoetischen Grundwortschatzes“ hindurch ein Gespür wecken für das Wilde, das auch in den ausgeräumten Landschaften des Anthropozäns noch wirkt. Seine Gedichte sind eine schonungslose Analyse unserer „Erdentfremdung“ und gleichzeitig eine geduldige Einübung in die Fähigkeit, vom „Werken der Wälder“ und vom Flügelschlag des Apollofalters ergriffen zu werden.

Info

Erdanziehung Ulf Kirsten S. Fischer 2019 96 S. 22 €

Reisewarnung für Länder Meere Eisberge Tom Schulz Hanser Berlin 2019, 128 S. 19 €

Schorfheide. Gedichte en plein air Gerhard Falkner Berlin Verlag 2019, 128 S. 22 €

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