Der Mythos vom Protest-Paradies

Image-Check Die Franzosen demonstrieren gegen Sozialabbau. Die Deutschen halten sie deshalb für linke Revoluzzer – zu Unrecht

Was das Parlament beschließt, kann die Straße wieder zurücknehmen“, droht das riesige Transparent, das über den Köpfen der Demonstranten auf der Rue du Faubourg St. Antoine im Osten von Paris schwankt. Millionen von Französinnen und Franzosen sind seit Wochen immer wieder auf den Straßen, um gegen die Rentenreformen der konservativen Regierung zu protestieren. Eine Front aus Gewerkschaften, linken Parteien, Autonomen, Familien, Jugendlichen, Rentnern und Angestellten beschert dem Präsidenten Nicolas Sarkozy einen heißen Herbst. Die Streiks und Demos zeigen Wirkung: Das Benzin wird knapp, tageweise steht der Verkehr still, in den Städten kommt es zu Krawallen. Es riecht nach einem Generalstreik.

So riecht es allerdings oft im Herbst. Regierung und Opposition kommen aus dem Sommerschlaf und messen ihre Kräfte. Die Wut ist in diesem Jahr besonders groß, und die Proteste dauern länger als sonst. Und sie bestätigen das deutsche Vorurteil über das Nachbarland, das mehr mit den Erfahrungen von Heinrich Heine und Kurt Tucholsky zu tun hat als mit der heutigen Realität. Im deutschen Blick ist Frankreich das Mutterland von Revolution, Utopie und savoir vivre: radikal demokratisch, wenn die Macht plötzlich auf der Straße zu liegen scheint; antikapitalistisch, wenn die Bereicherung der Eliten angeprangert wird; humanitär, wenn den Verlierern und Opfern des Wirtschaftssystems eine Stimme verliehen wird; rebellisch gegen Staat und politische Klasse; und nicht zuletzt dem guten Leben verpflichtet, für das die Franzosen neben dem politischen Kampf ein frisches Baguette und einen guten Camembert schätzen.

Das mit dem Baguette stimmt. Alles andere ist Käse.

Denn die Zustände, sie sind nicht so. Die Realität, wie der Autor dieses Textes mitsamt seiner Familie sie in fünf Jahren Paris erfahren haben, ist eine andere. Die französische Gesellschaft ist weitaus hierarchischer und autoritärer als die deutsche. Oft ist das savoir vivre dem Hamsterrad von Erwerbs- und Familienarbeit gewichen. Utopien werden mit großer Verve verkündet und mit Zynismus aufgenommen. Linke Politik findet seit Jahrzehnten kaum noch statt. Und demonstriert wird nicht nur, weil es wirklich Missstände gibt oder die Kaufkraft der unteren Einkommen schwindet. Sondern auch, weil es einfach dazugehört. Und um überhaupt noch gehört zu werden.

Politischer Streik erlaubt

Denn anders als das konsenssüchtige Deutschland funktioniert Frankreich über den Konflikt. Während bei uns der Arbeitskampf nach Tarifvertrag abläuft, knallt es jenseits des Rheins erst einmal. Hier steht Streik am Ende der Verhandlungen, dort am Anfang: „Das Muskelspiel kommt in Frankreich am Beginn der Verhandlungen, um die eigenen Anhänger zu mobilisieren“, sagt Ernst Hillebrand von der Friedrich-Ebert-Stiftung Paris. Auch die Gewerkschaften spielten eine ganz andere Rolle. „In Frankreich sind sie vor allem in der Privatindustrie schwach verankert. Anders als die deutschen Mitgliedergewerkschaften haben die Franzosen Kaderorganisationen mit wenigen, hoch motivierten Mitarbeitern. Da fällt die Entscheidung zum Widerstand schneller.“ Und natürlich sind in einem Land, in dem die Bürokratie wuchert, der Staat oft noch als Unternehmer auftritt und sich der Präsident noch in die kleinsten Details von Schul- und Agrarpolitik einmischt, die Erwartungen hoch, dass die Politik vieles regeln soll.

Der politische Streik ist den Franzosen erlaubt. Die großen Kämpfe der vergangenen Jahre richteten sich denn auch meist gegen Gesetze und waren keine Tarifstreiks. Die Beamten dürfen streiken, und so nehmen Metroschaffner und Müllwerker gern mal eine Protest-Auszeit, auch wenn sie dafür kein Streikgeld bekommen. Und Widerstand ist auch Folklore, wenn etwa die ganze Familie auszieht, um „gegen die Wirtschaftskrise“ zu demonstrieren, dabei den Grill auf dem Mittelstreifen der Straße aufbaut – und alte Autoreifen mitbringt, die für die TV-Kameras abgefackelt werden.

„Es ist ein deutscher Mythos, dass Frankreich ein linkes Land ist“, sagt Hillebrand. Seit 1945 wählten die Franzosen mit François Mitterand nur einen einzigen Sozialisten zum Präsidenten, ansonsten sind Parlament und Elysée-Palast fest in rechter Hand. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Leben wie Gott in Frankreich? Das Mutterland der Menschenrechte weist EU-Bürger aus, wenn sie Roma sind; es will verurteilten Straftätern die Staatsbürgerschaft aberkennen; das Mehrheitswahlsystem hat die politische Landschaft zugunsten der Großparteien zementiert. Die Zivilgesellschaft mit Organisationen wie Greenpeace oder Amnesty International ist den Franzosen eher suspekt.

In unserem täglichen Leben war Paris deutlich preußischer als Berlin: In der Schule werden Befehl und Gehorsam geübt – wer als Vierjähriger nicht pariert, wird schnell mal angeschrieen und tatsächlich in die Ecke gestellt. Seit Jahren scheitern Politiker daran, die Ohrfeigen der Eltern gegenüber ihren Kindern zu verbieten. Die Polizei geht mit ihren Citoyens deutlich ruppiger um als im vermeintlichen deutschen Obrigkeitsstaat. Und beim Abitur diskutiert das Land, welche Drogen zur Leistungssteigerung zulässig sind – und beklagt nicht etwa den enormen Druck für die Schüler. Später landen dann vor allem die höheren Töchter und Söhne auf den höheren Schulen, die die Eintrittskarten in die Machtzirkel von Politik und Wirtschaft verteilen. Und dass mehr Frauen einer Erwerbsarbeit nachgehen, ist nicht nur ein Zeichen der Emanzipation, sondern auch des ökonomischen Drucks. „Ach, die Französinnen machen trotz Kindern Karriere und werden nicht auf Teilzeit abgeschoben“, seufzten unsere deutschen Freundinnen. „Ach, ihr Deutschen habt es gut“, klagten dagegen die Französinnen, „bei euch kann man mit Kindern auf Teilzeit gehen.“

Kette von Niederlagen

Natürlich geht in Frankreich nicht alles die Seine oder die RhÔne runter. Das flächendeckende System der Vorschulen, der Écoles Maternelles, sorgt dafür, dass die Kinder bei der Einschulung die Landessprache beherrschen. Das Steuersystem begünstigt Familien mit Kindern anstatt die Ehe. Es gibt eine große Bereitschaft, spontan für die Rechte von Underdogs zu demonstrieren und auch ihre Streikwut zu ertragen – seien es illegale Einwanderer, muslimische Frauen oder als Geiseln entführte Journalisten. Frankreich war lange deutlich toleranter gegenüber den „sans papiers“ als Deutschland. Abseits der großen Städte kann das Leben auf dem Land tatsächlich ein breiter, ruhiger Fluss sein. Und nach wie vor wenden die Franzosen deutlich mehr Geld und Zeit auf für gute Ernährung. Doch der Leistungsdruck knabbert inzwischen auch an dieser Bastion der Grande Nation. In jeder französischen Kühltruhe liegen die Tiefkühlmenüs der Kette „Picard“ für das schnelle Diner.

Ob die Demonstranten Sarkozy daran hindern werden, das Land umzukrempeln? Es komme doch darauf an, ob die Proteste den Alltag der Menschen verändern, sagt ein Freund, der bei Renault arbeitet. Da sind sich selbst die Gewerkschaften nicht sicher: Für Jean-Pierre Delanoy von der größten Gewerkschaft CGT etwa waren „die sozialen Kämpfe der letzten zehn Jahre mit einer einzigen Ausnahme eine Kette von Niederlagen“.

Bernhard Pötter lebte fünf Jahre in Paris. Er ist seit September zurück in Deutschland

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