Kuba steht nach dem Wechsel an der Spitze der Regierung wohl nicht an der Schwelle zu einer völlig neuen Ära. Und doch wird auf der Insel über Zensur, Medien, Mitbestimmung und die soziale Lage so kontrovers und öffentlich debattiert, wie seit langem nicht mehr - sogar in der obersten Riege von Kubas Kommunistischer Partei.
Seit Raúl Castro die Regierungsgeschäfte führt, hören die Kubaner unerhörte Dinge. Hatte man gelernt, dass man im Angesicht des Feindes die Reihen fest geschlossen zu halten habe, so fordert Fidels Bruder die Kubaner nun zu mehr Debatte auf. Es gehe darum, so Raúl, "ohne Ängste irgendwelcher Art" Probleme und Verantwortlichkeiten zu benennen: "Kritik ist, wenn sie adäquat vorgebracht wird, unverzichtbar, um voran zu schreiten."
Doch wie weit die neue Offenheit geht, darüber rätseln zur Zeit nicht nur die einfachen Kubaner und Kubanerinnen, sondern auch die Kader in Partei und Staat. Von einer "Revolution innerhalb der Revolution" gar spricht die Parteizeitung, doch zumeist geht es sehr viel vorsichtiger voran. Man tastet ab, was "adäquat" ist und was nicht, und schaut, wer sich vorwagt, wie weit es geht und was dann passiert.
Zum Beispiel Eliades Acosta, der keinen geringeren Posten bekleidet als den des Leiters der Kulturabteilung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei Kubas. Damit gehört er zweifelsohne zu der Riege oberster Autoritäten im Lande bei der Grenzziehung dessen, was legitimer Diskurs im sozialistischen Staat ist. "Wir befinden uns in einem Moment revolutionärer Veränderung", diagnostiziert er die Situation im Post-Fidel-Kuba. "Das Land denkt seine Strukturen neu, die Partei selbst überdenkt ihr Verhältnis zur Gesellschaft um einen direkteren, einen wirksameren Dialog und eine breitere Beteiligung des Volkes an den Entscheidungen zu suchen."
Eliades Acosta war Direktor der Nationalbibliothek in Havanna, bevor er vor zwei Jahren zum obersten Kulturfunktionär der Partei aufstieg. Mit Schwung nimmt er Raúls Vorgabe auf, redet über Zensur und Selbstzensur, über die Rolle der Medien und die ungenügenden Gehälter. Von sich aus greift er auch den Generalvorwurf auf, dem sich jedes Plädoyer für pluralistische Diskussion im sozialistischen Kuba ausgesetzt sieht: dass Kritik nur dem imperialistischen Feind, den USA, in die Hände arbeite. "Sicher, der Feind nutzt unsere Fehler und unsere Kritik", so Acosta, um fortzufahren: "Er nutzt aber auch all die weißen Flecken, die wir lassen. Kritik kann helfen, unsere Probleme zu lösen, Schweigen löst gar nichts. Vor die Wahl gestellt, wählen wir die Kritik. Diese Praxis, Probleme zu verschweigen, sollten wir hinter uns lassen. Dahinter stecken ja auch nicht immer die gute Absicht, der Revolution zu helfen, sondern auch das Interesse, Ämter und Positionen zu sichern."
Diese Sätze sind nicht improvisiert, es ist ein programmatischer Text mit sorgfältiger Formulierung. Über den Umweg der Zukunftspläne geht er mit der gegenwärtigen Situation hart ins Gericht: "Wir streben eine Gesellschaft an", heißt es dort unter anderem, "in der die Medien das Leben ohne übertriebenen Optimismus widerspiegeln", "in der die Leute sich ehrlich äußern können", und auch: "in der die Kubaner sich nicht als Bürger zweiter Klasse in ihrem eigenen Land fühlen". Harter Tobak im 50. Jahr der Revolution. Was man anstrebt, hat man in der Gegenwart noch nicht.
Seit gut anderthalb Jahren hat Raúl Castro die Regierungsgeschäfte von seinem erkrankten Bruder übernommen, zunächst "vorübergehend", inzwischen ganz offiziell als sein Amtsnachfolger. In dieser Zeit hat er immer wieder deutlich gemacht, dass er sich der Tiefe der aufgestauten Frustrationen in der Bevölkerung sehr wohl bewusst ist. Raúls Aufruf, sich von der "schädlichen Neigung zum Triumphalismus" (O-Ton) zu verabschieden und stattdessen die Vielzahl der alltäglichen Probleme zu benennen und zu diskutieren, ist eine Flucht nach vorn, um neue Legitimation für die Regierung zu gewinnen. Ohne Zweifel ist Raúl mit seinem Verweis auf die unzureichenden Löhne und die Kluft zwischen Peso- und Devisenwelten in der Tat näher an der Stimmung in der Bevölkerung, als es Fidel in den vergangene Jahren war.
Die Betriebsversammlungen, die nach seinem ersten Aufruf zur Debatte im Sommer 2007 allenthalben einberufen wurden, entsprachen dabei zunächst ganz dem, was die Kubaner "Fahrstuhl-Dialog" nennen: Hinter geschlossenen Türen wurden vorsichtig zumeist allbekannte Probleme angesprochen, auf dass sie zwecks Information der Staatsführung empor gereicht würden. Mehr als eine Million Eingaben habe man auf diesem Weg erhalten, bilanzierte Raúl Ende des Jahres.
Doch dabei blieb es nicht. Inzwischen müssen sich die Funktionäre Fragen stellen lassen, die so direkt, selbstbewusst und respektlos formuliert werden, wie es noch vor kurzem kaum denkbar war. Prominent geworden etwa ist ein Treffen an der Informatik-Universität UCI, bei dem die Studenten Parlamentspräsident Ricardo Alarcón mit scharf formulierten Fragen konfrontierten, vom Verbot von Google und Yahoo über fehlende Reisefreiheit bis zur Einheitsliste bei den Wahlen.
Doch nicht nur ist der Ton schärfer geworden, die Debatten werden auch öffentlicher. Ein Videomitschnitt der Diskussion mit Alarcón ist bei YouTube weltweit zu sehen. Auch auf der Insel machen solche Ereignisse rasch die Runde. Während nur wenige Kubaner regelmäßigen Zugang zum World Wide Web haben, entwickeln sich E-Mails immer stärker zu einem horizontalen Medium, das die Top-Down-Kommunikation der offiziellen Medien umgeht. Sah man das staatliche Medienmonopol als Grundpfeiler des Sozialismus, galt derart dezentrale Kommunikation, wenn sie sich nicht auf private oder berufliche Dinge beschränkte, als suspekt und potenzielle Bedrohung. Doch auch an diesem Punkt erhebt der Kulturchef der KP das Umdenken explizit zum Programm: Während er die Trägheit in den offiziellen Medien kritisiert, die den Aufruf zur neuen Offenheit nicht ausreichend umsetzen, bezeichnet Acosta die E-Mails als "jene große nicht-institutionelle Presse", die eine "sehr begrüßenswerte Aktivierung des Bürgersinns der Kubaner" zeige.
Die offizielle Reaktion im Fall der Informatik-Studenten, deren Diskussion per YouTube um die Welt ging, war ähnlich. Ein Leitartikel in der Parteizeitung vom 11. Februar verdammte zwar die internationalen Medien, die das Video der Diskussion mit Alarcón aufgebauscht hätten, stärkte in der Sache aber den scharf fragenden Studenten den Rücken: Solch kritische Haltung sei für die kubanische Revolution das Normalste der Welt - und im Übrigen auch das, wozu Raúl aufgerufen habe. Seinen Höhepunkt erreichte der Leitartikel mit der Mutmaßung, womöglich sei der internationale Medienhype um das Studentenvideo ja auch eine Provokation, damit die kubanische Führung diese Öffnung wieder bremse - das aber würden die Gegner der Revolution nicht erreichen! Zur Absicherung endete der Leitartikel mit dem Verweis auf jenes Fidel-Zitat, das seit ein paar Monaten auf zahllosen Stelltafeln im Lande tapeziert ist: "Revolution heißt, all das zu ändern, was geändert werden muss." Genau das setze man nun in die Tat um.
Wie weit diese neue Offenheit im Rahmen des staatssozialistischen Modells gehen kann, vermag derzeit auch in Havanna niemand zu sagen. Sicher aber ist, dass sie innerhalb des Apparats von Staat und Partei erhebliche Spannungen auslöst. Das beste Beispiel ist das programmatische Interview von Eliades Acosta selbst. Kurz nach seiner Publikation wurde es von der Homepage des Ministeriums wieder gelöscht, ohne ein Wort der Erklärung. Anstatt die gesellschaftlichen Freiräume zu erweitern, bestätigte der Kulturchef der KP so unfreiwillig genau das, was er so scharf kritisierte: Dass - vor die Wahl gestellt - Kubas Sozialismus noch immer lieber das Schweigen als die Kritik wählt.
Bert Hoffmann ist Politikwissenschaftler am GIGA Institut für Lateinamerika-Studien in Hamburg.
Das Interview mit Eliades Acosta, das von der Homepage des kubanischen Kulturministeriums so schnell wieder verschwand, dokumentiert der Freitag im Internet in wesentlichen Teilen in deutscher Übersetzung und im vollen Wortlaut im Original.
Raúl Castros Führungsequipe
Ricardo Alarcón
Seit 1993 ist der 70-Jährige Chef der Nationalversammlung. Von Haus aus Diplomat, gilt er als exzellenter USA-Kenner und käme für mögliche Sondierungen mit Washington in Betracht. Alarcón war in den achtziger Jahren Kubas Botschafter bei den Vereinten Nationen.
Ramon Machado
Mit 77 Jahren gehört er zu den Revolutionären der Sierra Maestra - Machado marschierte Ende 1958 mit Castro auf Havanna. Im Politbüro der KP Kubas (KPK) ist der Mediziner für die Bildung an den Universitäten und Schulen Kubas zuständig.
Carlos Lage
Der 57-jährige Wirtschaftspolitiker war der entscheidende Mentor Fidel Castros bei den Wirtschaftsreformen in der so genannten Spezialperiode nach dem Ende der Wirtschaftshilfe aus der UdSSR ab 1991. Derzeit ist er Vizepräsident des Staatsrates und Wirtschaftssekretär im Politbüro der KPK.
Felipe Perez Roque
Vor seiner Berufung zum Außenminister 1999 war der heute 42-Jährige sieben Jahre persönlicher Sekretär Fidel Castros. Er gilt als Anhänger eines pragmatischen Kurses und einer der möglichen Nachfolger Raúl Castros.
José Ramon Balaguer
Der 75-jährige Gesundheitsminister gehörte zu den Begründern der Kommunistischen Partei Kubas, wie sie als neue Formation nach der Revolution von 1959 entstand - er ist seit dem I. Parteitag im Oktober 1965 Politbüro-Mitglied und wird zum konservativen Flügel der Parteiführung gerechnet.
Esteban Lazo
Der 63-Jährige ist als Vizepräsident des Staatsrates in der gleichen Funktion wie Carlos Lage, hat aber im Politbüro nicht mit Wirtschafts-, sondern Ideologiefragen zu tun. Lazo wird von seiner Biografie und seinem Selbstverständnis her oft als Vertrauter Machados bezeichnet.
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