Karl Schlögel muss noch einmal zur Schule. Der renommierte Osteuropa-Kenner wurde von der Ukraine-Krise auf dem falschen Fuß erwischt. Sein Blick war zu sehr durch die Sowjetunion, R. I. P., verstellt. Die Ukraine kam in seinem Denken auf eine „merkwürdige, ja schockierende“ Weise nicht vor. Doch anders als viele Russland-Versteher, die das gern lieber weiterhin so halten würden, hat Schlögel sich von der Geschichte belehren lassen und ist nun intensiv dabei, sich auf den Stand der Gegenwart zu bringen. Konkret bedeutet das zum Beispiel, dass er nicht mehr meint, die ukrainische Sprache wäre nur als „Abart, als Dialekt des Russischen“ zu begreifen, sondern er sieht sie nun als ein „Idiom mit eigener Genealogie und aus eigener Kraft“. Entsprechend ist er auch nicht gewillt, die Geschehnisse in der Ukraine durch vorgefertigte Raster zu betrachten. Die Schule, in die er noch einmal gehen will, ist eine des unverstellten Blicks: Er nimmt sich vor, „sich umzusehen in einem Land, in dem alles offen ist und alles auf dem Spiel steht“.
Das „Lob der Krise“, das Schlögel anstimmt, ist vielleicht der markanteste Beitrag in dem Sammelband Testfall Ukraine, in dem Intellektuelle und Wissenschaftler versuchen, die verstörenden Ereignisse seit dem Sturz des Präsidenten Wiktor Janukowytsch vor einem Jahr zumindest in Ansätzen begreiflich zu machen. Schlögel antwortet auf die Konjunktur der Bescheidwisser, von deren rechthaberischem Chor die Tragödie in der Ukraine begleitet wird, mit einem Akt des Heraustretens und des Sich-selbst-Zurücknehmens, allerdings nicht in eine geopolitische Feldherrenhügelposition oder gar blöd weltgeistige Distanz, sondern in eine emphatische Bereitschaft, sich von den Ereignissen klüger machen zu lassen. Das ist in etwa der Gestus, der sich auch in den meisten anderen, fast durchweg hilfreichen Texten ausmachen lässt.
Faschismusverdacht
Konkret ist es ja so, dass in der Ukraine ein demokratischer Aufbruch (der zweite nach 2004, wenn man mit der Unabhängigkeit von 1991 zu zählen beginnt) stattgefunden hat, die „Neugründung einer politischen Ordnung“ (Helmut König im vorletzten Beitrag des Bands), der nicht nur von Seiten des imperialen Nachbarn im Osten mit kriegerischen Mitteln Einhalt geboten werden soll, sondern die auch im Westen vielfach nicht das nötige Verständnis findet, eben weil sie nicht eindeutig in die Raster passt. Und von diesen Rastern gibt es viele: Antiamerikanismus, EU-Skepsis, Pazifismus, Slawophilie, Geschichtspessimismus und schließlich der generelle Versuch, überkommene binäre Logiken in Kraft zu halten. Da ist man dann schnell wieder bei einem Faschismusverdacht, der Putin mit bizarrer Schlussrechnung zu einem progressiven Internationalisten werden lässt.
Der Historiker Andreas Kappeler, einer der wenigen Ukraine-Kenner im deutschsprachigen Raum, die jederzeit einen klaren Blick behielten, weist in seinem brillanten Beitrag über ukrainische Widerstandstraditionen nach, dass der Nationalismus, der auf dem Majdan erkennbar wurde, so komplex ist wie das Land selbst. Er stellt zum Beispiel fest, dass der Widerstand der UPA (der Ukrainischen Aufständischen Armee, die aus der Organisation Ukrainischer Nationalisten, OUN, hervorgegangen war) die „in der Ukraine fehlende Tradition eines antisowjetischen Volksaufstandes“ teilweise ersetzte. Auf den Verbrechen der UPA während ihres Guerillakriegs und auf der Beteiligung der OUN an Judenmorden beruht wesentlich der Faschismusverdacht, der den Majdan von Beginn an begleitet hat und der in der Rede von der „Kiewer Junta“ propagandistische Form angenommen hat.
Stürmische Modernisierung
Geduldig entknotet Kappeler die vielfach verwickelten Traditionsressourcen für eine ukrainische Zivilgesellschaft: Der Kosakenmythos mit seinen egalitären Aspekten ist gegenüber Russland nicht völlig exklusiv, während das Gedenken an den Holodomor (der Hungergenozid unter Stalin) und der Bezug auf den Nationaldichter Taras Schewtschenko die gesamte Ukraine betreffen. Erfahrungen im österreichischen Verfassungsstaat ließen europäische Werte und Praktiken „fließen“, während die „stürmische Modernisierung“ in Städten wie Odessa, Charkiw oder Dnipropetrowsk ein stadtbürgerliches Erbe hinterließ, das sich derzeit in Teilen reaktivieren lässt.
Es sind also vielschichtige Prozesse, aus denen sich ein staatsbürgerliches Projekt ergeben hat, das wir seither als Majdan oder Euro-Majdan bezeichnen. Um dessen Fortsetzung und Realisierung geht es, wobei der Krieg im Donbass ein „Dilemma der Gleichzeitigkeit“ (Claus Offe) geschaffen hat. Die Ukraine muss gegenwärtig eine ganze Menge Probleme gleichzeitig lösen, und dies in einer Position zwischen zwei Machtblöcken, deren Antagonismus sich gerade neu konturiert.
Unweigerlich handeln also einige wesentliche Beiträge in Testfall Ukraine von Russland. Dort hatte es 2011/12 nach den manipulierten Wahlen, mit denen Putins dritte Präsidentschaft legitimiert werden sollte, auch einen Majdan gegeben – das Wort bedeutet ja ursprünglich, darauf weist Helmut König hin, einfach nur Platz, und wenn Menschen sich in staatsbürgerlicher Absicht dort versammeln, wird er zur Agora, zur gesellschaftlichen Institution. Der Moskauer Majdan, die „Schneerevolution“ auf dem Bolotnaja-Platz, erbrachte allerdings ein gegenteiliges Resultat: Das autoritäre Regime kassierte seither laufend Freiheiten ein und fand schließlich, wie Elena Racheva in ihrem melancholischen Reportage-Essay feststellt, in der Ukraine eine Gelegenheit, die Unzufriedenheit im Land umzulenken: in eine patriotische Hochstimmung, die mit konkreten Lebensfaktoren nichts zu tun hat. Dass so ein Täuschungsmanöver überhaupt möglich ist, hat für Racheva mit spezifischen Bedingungen der russländischen Gesellschaft zu tun. „Das Land weise ein kolossales Defizit an kollektiver Selbstachtung auf“, zitiert sie den Politologen Emil Pain. „Nur eine Bedrohung oder ein Unglück mobilisieren ein Gefühl der Gemeinsamkeit.“
Irina Prochorova beschäftigt sich in dem Beitrag Der autoritäre Virus und das Unterbewusstsein Europas ebenfalls mit der Schwäche der Zivilgesellschaft in Putins Russland: „Die Geschichte des russländischen Staates kann als Existenzkampf der humanistischen säkularen Kultur innerhalb einer zutiefst religiösen Gesellschaft betrachtet werden.“ Putin gelingt es dabei, die christliche Orthodoxie mit dem Erbe eines „Kommunismus als Religion“ (Michail Ryklin) zu verbinden, beide sind einem imperialen Projekt dienlich, das wiederum stark mit der Idee eines „sakralen Raums“ zusammenhängt. Prochorova zitiert Psychologen, die benennen, was es mit dem Innenleben in diesem Raum auf sich hat: Sie sprechen von einer „Gefängnismentalität“, während der Kulturhistoriker Alexander Etkind den Begriff einer „inneren Kolonisierung“ geprägt hat.
Robuster Liberalismus
Für Prochorova liegt ein Schlüssel zu der gegenwärtigen „mentalen Sackgasse“ für die russländische Zivilgesellschaft in der Zeit gleich nach der Auflösung der Sowjetunion: „Die Freiheitsluft der neunziger Jahre hat uns einen bösen Streich gespielt: Damals sah es so aus, als sei das Tor zum Totalitarismus für immer zugeschlagen und man müsse sich nicht weiter um Aufklärung und Erziehung zur Mündigkeit kümmern. Nachdem die Mechanismen der Marktwirtschaft in Gang gesetzt waren, hat der demokratisch orientierte Teil der Gesellschaft es versäumt, dem neuen sozialen Bau ein festes ethisches Fundament zu geben.“
Die Ukraine hingegen war mit ihrem Projekt einer friedlichen Revolution ein Vierteljahrhundert verspätet, wie Andreas Kappeler schreibt. 2014 wäre also von Kiew aus gesehen 1989, was zugleich Hypothek wie Chance sein könnte. Dies gilt allerdings nur für den Fall, dass die Ukraine als Staat nicht noch tiefer in den Krieg gezogen wird. Denn die Waffengewalt zielt nicht zuletzt auf die Verunmöglichung gemeinschaftlicher Entwicklung. „Das Epizentrum des Krieges“, schreibt die Fotografin Yevgenia Belorusets, von der eine große Bildstrecke aus dem Donbass den Mittelteil des Buchs ausmacht, „ist der ausgestorbene Platz mitten in der Stadt, den der Granatwerfer trifft; er vernichtet jegliches Leben, das sich aus den feuchten Kellern ans Tageslicht wagt.“ Sie verweist aber auch auf die Bergleute, die sich massenhaft weigerten, „den aus Russland finanzierten Sölderntrupps beizutreten. Unter Beschuss setzten sie ihre Arbeit fort. Nachts reparierten sie nicht selten die Schäden in den Gruben, in unbezahlten Zusatzschichten.“
Der Donbass lässt erkennen, dass es Russland gar nicht primär um ein „sakrales“ Territorium in den Grenzen irgendeiner willkürlichen historischen Marke geht, sondern um Destruktion von Demokratie. Ob dagegen ein „robusterer Liberalismus“ reichen wird, wie ihn sich Stefan Auer erhofft, der Europa an die Grenzen kommunikativer Rationalität gekommen sieht? Der Band Testfall Ukraine verbindet jedenfalls kommunikative Rationalität mit Empathie und Selbstreflexion und steht damit mustergültig für jene Qualitäten europäischer Öffentlichkeit, für die auf dem Majdan demonstriert wurde.
„Das Epizentrum dieses Krieges ist der ausgestorbene Platz in der Stadt, den der Granatwerfer trifft“
Info
Testfall Ukraine. Europa und seine Werte Katharina Raabe, Manfred Sapper (Hrsg.), Suhrkamp 2015, 256 S., 15 €
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