Last Exit Musterküche

Lesung Berta Eichhorn über einen befremdlichen Auftritt des Büchnerpreisträgers Wilhelm Genazino
Ausgabe 24/2015

Die Ankündigung verspricht einiges: Unter dem Motto „Architektur und Literatur“ haben das Architekturmagazin Baumeister, ein deutscher Küchenhersteller und ein Schweizer Elektrogerätehersteller Architekten in den Showroom des Küchenherstellers zu einer exklusiven Lesung geladen, Menü inklusive. Das Ambiente im Laden ist so exquisit, dass man fast vergisst, dass hier normalerweise verkauft wird.

Mehrere der Musterküchen sind mit den Geräten ausgestattet, die der Koch später mit einem „Ich sag das nicht, weil ich hier bezahlt werde“ als „Rolls-Royce unter den Elektrogeräten“ titulieren wird.

Als Autor hat man Wilhelm Genazino geladen, und es sei, sagt der Chefredakteur von Baumeister, total spannend, welche Wechselwirkungen zwischen Architektur und Literatur in dessen Werk sichtbar würden. Er freue sich auf die anschließende Diskussion zwischen dem Büchnerpreisträger und den Architekten. Vorher werden im Schnelldurchlauf aber noch mal die Vorzüge der Küchen erläutert. Genazino steht währenddessen am anderen Ende des Showrooms und sieht zwischen den Hochglanzfronten verloren aus.

Genazino liest Stücke aus Tarzan am Main: über trostlose Pendlerexistenzen, über hungrige Mäuse in einer nächtlich verlassenen Frankfurter S-Bahn-Station und über eine Begegnung des Erzählers mit einem ehemaligen Schulkameraden, der in der Gosse gelandet ist. Je länger er liest, desto mehr kommt es einem vor, als rächte er sich, vielleicht unbewusst, am Konzept der getarnten Luxusverkaufsveranstaltung, als wollte er durch die Blume zu verstehen geben, dass Elend und sozialer Abstieg überall lauern. Im Hintergrund hat man klappernd am bevorstehenden Dinner zu werkeln begonnen. „Wollen Sie mehr hören?“, fragt der Autor. Die Architekten bejahen.

Aber halt, so war es nicht gedacht. Noch ehe eine Diskussion zwischen Autor und Hörerschaft in Gang kommt, gehen beschürzte Hostessen in die Offensive: Sie drücken den verdutzten Gästen Teller voller Garnelen und Jakobsmuscheln in die Hand, die nun hilflos auf Architektenknien balanciert werden. „Sie können ja beim Essen weiterdiskutieren“, flapst der Chefredakteur.

Genazino darf derweil noch einige seiner Werke signieren. Ob er „Erst kommt das Fressen, dann die Literatur“ in eines der Bücher geschrieben hat, bleibt sein Geheimnis – ebenso, welche Wechselbeziehungen zwischen Architektur und Literatur denn nun in seinem Werk tatsächlich auszumachen wären.

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