Medikalisierung des Alltags - wem nützt's?

ADHS - Pille anstatt Medizinkritik ist überwiegend Kritik an Randbereichen des Medizinbetriebs, aber nicht an den Grundfesten. Ist die ADHS-Medikamentierung ein Mustermodell für die Zukunft?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Der Frankfurter Chirurg Bernd Hontschik weist auf einige Entwicklungen in den USA hin, die es verdienen, thematisch hier in Europa aufgegriffen zu werden (meine Kommentare in {}-Klammern im Text).

"Am 25. und 26. April 2012 fand in Cambridge (Boston, MA) eine Tagung statt, die den Titel "avoiding avoidable care" {vermeidbare Behandlungen vermeiden} trug.Die Veranstalter wollten damit zum Ausdruck bringen, dass die Medizin heute eine solch große Zahl völlig überflüssiger Diagnostik und Therapien durchführt, dass sie längst mehr Schaden anrichtet als sie jemals Nutzen bringen kann.

In den USA hat dies vor allem auch ökonomische Gründe, denn Umsatz und Rendite spielen in diesem "privatwirtschaftlich" organisierten Gesundheitssystem die führende Rolle {Das ist aber hier auch schon so}. Es hat aber auch medizin-immanente Gründe, womit die Tagung auch an längst bekannte Gedanken Ivan Illichs anknüpft, allerdings ohne diesen zu Kenntnis genommen zu haben - wie das eben in den USA {und auch in Deutschland} so ist.

Den Hauptvortrag in Cambridge hielt (...) {der zweifache Nobelpreisträger Prof. Dr.} Bernard Lown, der mit seinen inzwischen 92 Jahren auch der Motor dieser Veranstaltung war. Sie können sich Bernard Lowns Rede anhören auf: http://avoidablecare.org/dr-bernard-lown-keynote-address/. Alle anderen Informationen über diesen überaus interessanten Kongress finden Sie auf http://avoidablecare.org/

Auch die aktuelle Ausgabe des British Medical Journal vom 14.Mai 2013 macht diese Diskussion zu ihrem Hauptthema: Nach dem Editorial ("Let the patient revolution begin") der Herausgeberin FIona Godlee folgt der überaus lesenswerte Artikel "A call to challenge the 'selling of sickness'" , der sich auf die Initiative "Selling Sickness" bezieht, die rund um eine (...) Tagung "Selling Sickness 2013: People before Profits" im Februar 2013 in Washington D.C. entstanden ist." {Ein früherer inhaltlicher Schwerpunkt der Kampagne war Krankheitspanikmache}."

Bernd Hontschik hat einen Text darüber geschrieben, wie es zu "avoidable care" kommt, wer Krankheiten definiert und wer nicht . Dieser Text erschien heute in der Frankfurter Rundschau

Frankfurter Rundschau; Freitag, 17.05.2013; S. 22 (Wissen)

Doktor Pharma

Bisher war Allen Frances nur Eingeweihten bekannt. Auch unter Psychiatern wussten nur wenige, dass er die Kommission zur Erstellung des Handbuchs der Psychiatrie, des„Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders“, geleitet hat. Die Überarbeitung durch 38.000 führende amerikanische Psychiater zur fünften Version hatte die American Psychiatric Association 2010 ins Internet gestellt. Jetzt wird diese Fassung als DSM--‐5 erscheinen.

Allen Frances ist aber ausgestiegen und zu einem der schärfsten Kritiker des DSM, vom Saulus zum Paulus geworden. In allen großen Zeitungen konnte man seine Philippika gegen diese Art von Psychiatrie lesen:

In den USA werden Antipsychotika für achtzehn Milliarden Dollar im Jahr verordnet, Antidepressiva für zwölf Milliarden, Stimulantien für neun Milliarden. Achtzig Prozent dieser Medikamente werden nicht von Psychiatern verordnet, sondern von Hausärzten, Kinderärzten oder Internisten. Das Center for Disease Control in Atlanta berichtet von einem exorbitanten Anstieg der ADHS--‐Diagnosen bei inzwischen schon sechseinhalb Millionen US--‐amerikanischen Schulkindern: ein Anstieg von mehr als fünfzig Prozent in den letzten zehn Jahren. Das bedeutet gleichzeitig, dass diese Kindern mit Psychopharmaka behandelt werden, bei uns bekannt unter dem Namen Ritalin.

Im DSM--‐5 eskaliert ein Trend, der längst zuvor erkennbar war: Des normalen Lebens Auf und Ab bekommt medizinische Namen, Namen von Krankheiten. Ein Wutanfall könnte Ausdruck einer Psychose sein ("Intermittent Explosive Disorder"), verträumt sein heißt "Cognitive Tempo Disorder", Trauer ist eine Depression, Sammler leiden unter dem „Hoarding Disorder“, überschießende Gefühlsäußerungen sind „Dysruption Mood Dysregulation Disorders“.

Krankheiten müssen behandelt werden. Was hat das für Folgen? Diese katastrophale Veränderung der Medizin, der Psychiatrie führt zu nichts anderem als zu einer Medikalisierung des Lebens, zu einemgigantischen Anstieg der Verordnungen von Psychopharmaka. Wem nützt das? An der Verbesserung der Familienberatung, der Psychotherapie, der Sozialarbeit kann kein Pharmakonzern auch nur einen Cent verdienen. {Herv. } Krankheiten werden neuerdings nach der Verfügbarkeit von Medikamenten definiert. Oder käme vielleicht jemand auf die Idee, Fieber als eine Krankheit zu bezeichnen und nicht als ein Symptom, bloß weil es mit Aspirin gesenkt werden kann?

Was haben zwei Patienten mit Fieber gemeinsam – außer Fieber? Und was haben zwei Kinder mit „ADHS“ gemeinsam? Sie werden mit Ritalin behandelt.


Bernd Hontschik
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

bertamberg

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden