Organvergabe: Nemesis trifft Halbgott in Weiß

Unredliche Medizin 3 Nemesis ist die aus Übermut zwangsläufig entstehende Strafe, das Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit, das die Selbstüberschätzung in Grenzen verweist.

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Ich habe am 14.12. diesen Beitrag unter dem Titel „Organvergabe- Medizin vor Gericht: Die Welt des Dr. O.“ gepostet und folgenden -zugegebenermaßen gallig bösen- Vorspann geschrieben: „Dem Transplantör war nichts zu schwör, er fühlt sich auch unschuldig. Ob das Gericht, vor dem er jetzt steht, ihm was beweisen kann, steht dahin. Fiat justicia? Haha.“

Meine Intention war nicht, hier einer Einzeltäterhypothese das Wort zu reden und Vorverurteilung zu betreiben, wie der Kommentar von Jeanne Barefoot nahelegt, sondern den organisierten Zusammenhang zu thematisieren, der solche Entwicklungen herausfordert. Deswegen habe ich meinen Beitrag versteckt, erweitert und am 8.1.2014 neu gepostet. (Neues in fett bzw. kursiv gesetzt)

"Seitdem die Menschen denken, haben sie erkannt, dass nichts das sittliche Leben des Menschen so sehr fördert wie das Denken an den Tod. Aber eine fehlgeleitete Heilkunst setzt sich, statt Leiden zu vermindern, zum Ziel, die Menschen vom Tod zu 'befreien', sie lehrt sie die Hoffnung, dem Tod zu entgehen, lehrt sie, den Todesgedanken von sich zu weisen, und beraubt sie dadurch des wichtigsten Impulses zum sittlichen Leben.“

Lew Tolstoi, Alle Tage, München 2010, S. 215

Iatrogenese

Ivan Illich hat u.a. mit seinen Veröffentlichungen „Selbstbegrenzung“, „Entschulung der Gesellschaft,“ „Die Enteignung der Gesundheit - Nemesis der Medizin“ die strukturellen Rahmenbedingungen und Ausformungen benannt, unter und zu denen sich gesellschaftliche Subsysteme wie Pädagogik,Technik und auch die Medizin im 20. Jahrhundert entwickelt haben. Illich formulierte hinsichtlich letzterer: Die medizinische Behandlung beschädigt Patienten (medizinische Iatrogenese), das Medizinsystem macht es unmöglich, zuhause zu gebären, zu sterben und krank zu sein (soziale Iatrogenese) und insbesondere zerstört der Glauben an eine machbare Gesundheit die Bereitschaft und Fähigkeit zum Leiden und Sterben (kulturelle Iatrogenese) (vgl.hier).

Als Gegenutopie für die Medizin benannte er: „Die Fähigkeit der Lebensbewältigung kann durch das Eingreifen der Medizin in das Leben der Menschen oder durch die hygienischen Bedingungen des Milieus verbessert, aber niemals ersetzt werden. Jene Gesellschaft, die die Intervention von Experten auf ein Minimum zu reduzieren vermag, wird stets die besten Gesundheitsbedingungen bieten. (…) In Wahrheit ist das Wunder der modernen Medizin Teufelstrug. Es besteht darin, dass nicht nur Individuen, sondern ganze Bevölkerungen dazu gebracht werden, auf einer inhuman niedrigen Stufe der persönlichen Gesundheit zu überleben.“ (vgl. S. 203).

Zwar haben sich global gesehen große Teile der Bevölkerung daran gewöhnt, auf einer „inhuman niedrigen Stufe der persönlichen Gesundheit zu überleben“, aber die zunehmende Bedeutung und Verbreitung von traditionellen und komplementären Medizinmethoden aus aller Herren Länder neben der universitär gelehrten Medizin, neben den in den letzten dreißig Jahren entstandenen zahlreichen Selbsthilfegruppen ist auch auf dem Boden entstanden, den Illichs Kritik hinterlassen hat.

Illich hat Felder bearbeitet, die heute immer noch Thema sind, ich ziehe mal Parallelen:

Let's make money zeigte im Jahr 2008, wie Enteignung gesellschaftlich produzierten Reichtums stattfindet, wie statt "Wohlstand für Alle" (schon ein gesichertes Grundeinkommen wäre als solcher zu bezeichnen) Reichtum für eine 1%-Minderheit, Armut und Krankheit für die 99% produziert werden - Occupy war der Versuch einer Gegenbewegung.

„We feed the world“ zeigte mit "Taste the Waste" dass heute überwiegend keine Lebensmittel mehr regional hergestellt werden, sondern global vermarktete, industriell fabrizierte Nahrungsmittel, die zwar immer noch nach Ablauf des Haltbarkeitsdatums konsumiert werden könn(t)en, aber üblicherweise als Müll entsorgt werden. Nach der FAO wird 1/4 bis 1/3 aller landwirtschaftlichen Produkte vor oder nach dem Konsum weggeworfen. http://www.spiegel.de/wissenschaft/mensch/uno-bericht-ein-viertel-der-nahrung-landet-im-muell-a-921677.html

Ein Zufall, dass heute "slowfood" und veganes Essen ( Peace Food; Veganista ) in ist? (vgl. auch: https://www.freitag.de/autoren/h-yuren/vegan-human; https://www.freitag.de/autoren/der-freitag/medium-roh; https://www.freitag.de/autoren/felix-werdermann/beziehungs-killer-fleisch#1388864604723932)

Wenn im Werberummel der Promiköche und Diäterfinder mitunter anklingt, dass Fastfood(Junkfood) und Convenience-Ernährung nicht nur satt, sondern auch dick und krank macht, bleibt in der Regel tabuisiert, dass der Hunger eine nicht zwangsläufige, aber gewollte Folge der Nahrungsmittelproduktion und deren Resteverwertung ist, so wie der Trend zur Adipositas zwar nicht gewollt, aber zwangsläufig ist. Das Verdienst von Ruediger Dahlke ist, unmissverständlich darauf hinzuweisen.

Der Film „Alphabet“ beschreibt, dass Schule ein Ort ist, an dem Lernen eher begrenzt als gefördert wird („98% aller Kinder kommen hochbegabt zur Welt. Nach der Schule sind es nur noch 2%“) und Gerald Hüther fordert konsequenterweise, die Schule als solche abzuschaffen (vgl. auch http://www.alphabet-film.com; http://www.schulen-der-zukunft.org/schulen-der-zukunft).

Einen vergleichbaren Film, der zeigt, wie das sogenannte Gesundheitswesen Krankheit perpetuiert, kenne ich noch nicht. ( „Gabel statt Skalpell“ habe ich noch nicht gesehen, aber das ist nur ein Film über Möglichkeiten der Ernährungsmedizin.)

Wer kennt einen? Unnötig wäre er keinesfalls.

Zweifel daran, ob Transplantationsmedizin überhaupt in einer Art und Weise stattfinden kann, die keinen Anlass zu (juristischen) Bedenken gibt, dürften auch als Hintergrund für die beklagte Organspendemüdigkeit bedeutend sein. Die Hirntoddefinition von 1968 ging von falschen Voraussetzungen aus (vgl. Stellungnahme der American Academie of Neurology von 2010). „Der Begriff 'justified killing' nennt zwar ehrlich, was bei einer Organentnahme geschieht. Diese Handlung müsste aber in zivilisierten Staaten strafrechtlich verfolgt, bzw. verboten werden. Diese Konsequenz zieht aktuell der Philosophieprofessor Andreas Brenner von der Universität Basel.“ (…) „Denn letztlich wird der zu Beginn einer Explantation noch lebende komatöse Patient durch die Organentnahme getötet. Während bei jeder anderen Operation Patienten zur Abwehr von Schmerzen narkotisiert werden, soll laut einer Richtlinie der Bundesärztekammer bei Organentnahmen darauf verzichtet werden werden."

Dass solche inhumanen Praktiken nicht hingenommen werden sollten, formulierte der Medizinhistoriker Gerhard Baader (apl. Prof. em. FU Berlin): "Das meiste Geld in der Medizin bringt die apparative Medizin, Operationen und die Transplantationsmedizin. Es geht nicht um das Patientenwohl, sondern um die - sprechen wir es ruhig aus - Kapitalinteressen einer unserere größten Industrien, nämlich der Medizinindustrie. (...) Wir müssen Gegenkräfte entwickeln und uns zivilgesellschaftlich organisieren."

Zusammengefasst: Menschen sind krankmachenden Einflüssen ausgesetzt infolge der Unwirtlichkeit der Städte (Alexander Mitscherlich), der schulischen Situation (Ivan Illich, Paolo Freire), der Ernährung (Max Otto Bruker, Joachim Mutter), dem System der medizinischen Betreuung (Fritjof Capra, Ivan Illich) , zusätzlich zu dem primären Überlastungsstress am Arbeitsplatz. Das, was der Reproduktion der Arbeitskraft und Lebensfreude dienen sollte und könnte, ist zum Gegenteil geworden. Nemesis der westlichen Zivilisation?

Wann ist angesichts dieser Umstände die Verpflanzung einer Organspende gerechtfertigt? Wie könnte z. B. trotz alledem die Transplantationsmedizin in einem nicht profitorientiertem Gesundheitswesen organisiert sein? Wer glaubt, dort sei ein tragfähiges Medizinverständnis verbreitet, ist wirklichkeitsfremd. Das „Konzept der trivialen Maschine“ ist die Regel, und nach Bernd Hontschik ist deswegen immer „das Scheitern der ganzen Behandlung vorprogrammiert.“ Es ist „der Grund für verschiedene postoperativen Komplikationen, von Wundheilungsstörungen über Chronifizierungen und Nachoperationen bis hin zur „Psychiatrisierung' des Patienten aufgrund eines eintretenden psychosozialen Desasters, wenn er zum Beispiel nach einer Transplantation das fremde Organ weiterhin als fremd erlebt und nachhaltig psychisch erkrankt.“ (Körper, Seele, Mensch, Frankfurt 2006, S. 134)

Es sollte unstrittig sein, dass Dr. O. nur als Erfüllungsgehilfe im Räderwerk der organisierten Iatrogenese als Spezialform der Kapitalverwertung tätig war. Wenn ein Zeuge im Göttinger Organspendeprozess mit den Worten zitiert wurde : „Er [Dr. O.] sei als Transplanteur herausragend … es fehle ihm aber an Empathie, Mitgefühl und Humanität“ kann ich dies nur als krokodilstränenartige Auslassung zur Kenntnis nehmen. Dr. O. war angetreten, auf Wunsch seiner Arbeitgeber die Anzahl der durchgeführten Transplantationen zu steigern. Dem ist er anscheinend unbestritten erfolgreich nachgekommen. Ob eine Steigerung der OP-Quoten auch anders (ohne Justiznachspiel) gegangen wäre, wäre noch zu darzulegen. „Weil es zu wenig Spender gibt, stagniert die Zahl der Transplantationen."

Wenn die Revolution ihre Kinder frißt, trifft dann die Nemesis der Medizin ihre Halbgötter in weiß?

Am Einzelfall (Dr. O.) wird mal wieder etwas Allgemeines (Iatrogenesis) deutlich:

"Eine interne Kommission wertete 61 von 85 geprüften Fällen als auffällig. Bei 27 Patienten war eine Lebertransplantation medizinisch nicht indiziert, in 34 Fällen wurden Patientendaten gefälscht."

(...)

"Immerhin ist klargeworden, dass viele vom zweifelhaften Gebahren des Göttinger Transplanteurs wussten - doch niemand stoppte ihn. Nicht die Kollegen, nicht die Vorgesetzten, keine Staatsanwaltschaft oder die Bundesärztekammer. "

(...)

"Für seinen Anwalt Stern ist O. >der Watschenmann<. Schließlich wisse man inzwischen, dass in nahezu allen 24 Zentren gemauschelt worden sei, wenn auch unterschiedlich stark."

(...)

"Das System der Organverteilung kann nur funktionieren, wenn die wenigen guten Organe gerecht vergeben werden."

So bleibt festzuhalten:

Eine 2/3-Mehrheit spricht gegen die Transplantationspraxis von Dr. O., dessen Karriere anscheinend auf systematische, aber nicht justiziable Lüge und Täuschung aufbaute.

Wenn ein Arzt eine Indikation zu einem Eingriff stellt, obwohl dies nach objektiven Kriterien nicht gerechtfertigt ist, dann ist das ein klarer Fall von korrupter Selbstbereicherung (Julius Hackethal hätte gesagt, nichts anderes stehe im Meineid des Hippokrates). Gehaltsdoping sollte immer die Disqualifikation nach sich ziehen, was auch immer Juristen an Rumgeeiere produzieren.

Wenn alle davon wussten und keiner einen Grund sah, einzugreifen - muss man dann nicht davon ausgehen, dass dies gängige Praxis ist, nicht nur bei Dr. O. ( dessen Verteidiger sich auch darauf beruft, dass es überall so läuft)?

Wenn nur wenige "gute Organe" transplantiert werden, weil's nicht mehr davon gibt - weiß der Patient um die Qualität des Organs, das er erhalten hat?

Ist es ethisch und medizinisch vertretbar, minderwertige Organe zu transplantieren, wenn das Leben und die Gesundheit von Patienten geschützt werden soll?

Ungeachtet seines Ausgangs ist dieser Prozeß eine Bankrotterklärung für die (nicht nur ) von Dr. O. praktizierte Ersatzteilmedizin. Der Vertrauensverlust in die Transplantationsmedizin an sich wird schwer aufzuhalten sein.

Zwar weiß ein jeder Laie, dass Vorbeugung die beste Medizin ist, aber wo ist das von Belang? Vorbeugung ist Privatsache, nichts, wofür Krankenkassen und -versicherungen viel Geld einplanen: Ein unhaltbarer Zustand.

Denn bei der sprichwörtlichen Regenerationsfähigkeit von Leberzellen bestehen gute Aussichten, Lebertransplantationen zu vermeiden, wenn nur bestimmte Voraussetzungen erfüllt sind. Iatrogenese erfolgt auch über unterlassene Aufklärung – nicht justiziabel, aber folgenreich. Wann hat Ihr Arzt Sie auf die China-Studie von Dr. Colin Campbell aufmerksam gemacht ?

Ich bin mir sicher, dass die Notwendigkeit von z. B. Lebertransplatationen auf ein Minimum zurückgehen würde, wenn eine tiereiweißfreie und pflanzeneiweißreduzierte Diät gerade für verdauungserkrankte Patienten, aber auch schon vorher selbstverständlich wäre.

Jeder weiß um die Gefährlichkeit von Alkohol. Aber wer weiß, dass Ammoniak tausendmal giftiger als Alkohol ist und bei konventioneller Ernährung aus Pflanzen-, Tier- und Milcheiweiß im Darm entsteht ? Mindestens fünf Gramm pro Tag, die von der Leber zu Harnstoff entgiftet werden müssen, weil maximal 0,005 g Ammoniak im Blut toleriert werden, aber als Nebenwirkung schon müde machen. (Zum Vergleich: Mit 5,2 Gramm Alkohol im Blut entsteht ein Blutalkoholspiegel von 1,1 Promille. Die fast 900-fach niedrigere Menge an Ammoniak (0,006g) ist dagegen schon lebensgefährlich. Ammoniak entsteht auch als Zwischenprodukt im Eiweißstoffwechsel. Nur ca. 1/3 vom Fleisch, Fisch oder Geflügel wird zu körpereigenem Eiweiß umgebaut (Nettostickstoffnutzen 28-36%), der Rest muss als Ammoniak-Abfall von der Leber entsorgt werden. Aus 100g Protein resultieren ca. 16 g Harnstoff-Stickstoff (Harnstoff besteht aus zwei Ammoniakmolekülen). Vor 40 Jahren ging man von Durchschnittswerten von 20-25 g Harnstoff pro Tag aus, heute schon von 25-30g. Ob diese Annahmen stimmen, darf im Einzelfall angezweifelt werden: Der hiesige Fleischverbrauch hat sich seit 1960 fast verdoppelt, auch die weltweite Fleischproduktion hat sich seit 1970 verdoppelt (1 ,2, 3 ). Im Einzelfall können bei proteinreicher Kost auch 90 g Harnstoff als Müll zu verarbeiten sein (http://www.biochem.uni-erlangen.de/forschung/wegner/pdf/Stickstoff.pdf) - da bekommt das Wort "Todesser" eine ganz neue Dimension.

Aktuelle Zahlen: „Männer überschreiten ... den von der DGE zugrunde gelegten Orientierungswert von 300 bis 600 Gramm pro Woche um das Zweifache. Frauen liegen an der oberen Grenze.“

Deutschland hat sich“, beobachtet auch Professor Bernhard Hörning von der Hochschule für nachhaltige Entwicklung in Eberswalde, „zum Exportland von Billigfleisch entwickelt.“ -„Jede verhinderte Mastanlage in Deutschland ist auch ein Beitrag gegen die Armut und Hunger schaffende Fleischexporte .“ ( Francisco J. Mari, Agrarhandelsexperte bei Brot für die Welt)

Dr. O. ist übrigens vor Weihnachten gegen Auflagen und eine Kaution von fünfhunderttausend Euro aus der Untersuchungshaft entlassen worden, der Richter hat eine Gefängnisstrafe von zwei Jahren in Aussicht gestellt. Schon wieder ein Fall von amtlicher Vorverurteilung, über den man sich ereifern sollte, oder liegen die eigentlichen Skandale woanders?

Dank an Luggi, für die dauernde Inspiration!
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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