"Neues Gefühl der Freiheit und Gelassenheit"

Anekdotische Medizin (3) Leben nach der Diagnose: Ist der Verzicht auf eine Behandlung etwas, was die Krankheitsintensität reduzieren kann oder nicht ?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Zum Thema "Diagnose" berichtet Dr. Braun-von Gladiß über eine Patientin, bei der sich etwas zeigt, was er als "typisch" ansieht, d.h. es ist repräsentativ für viele weitere Patienten, mit denen er zu tun hatte .

"Eine Patientin, die ich seit längerer Zeit ärztlich betreuen darf, ist an einer fortschreitenden Knochenmarkskrebserkrankung (Plasmozytom) erkrankt. Sie entschloss sich, komme was wolle, sich keinesfalls chemotherapeutisch behandeln zu lassen und sich wegen der fortschreitenden Blutarmut auch keine Bluttransfusion geben zu lassen. Vielmehr wolle sie ihr Schicksal ganz bewusst so hinnehmen, wie es ihr beschieden sei und alles auf sich zukommen zu lassen, wie es eben geschehe.

Während sich die Blutwerte, Tumormarker und Krebslokalisationen in Lymphknoten und Knochen zuvor stetig verschlechtert hatten, begann sich die Entwicklung nach ihrer Grundsatzentscheidung tendenziell umzukehren, und schon jetzt ist es medizinisch unbegreiflich, dass sie noch lebt und leistungsfähig ist. Jedenfalls sanken die pathologischen Werte in einem hoch beeindruckenden Ausmaß und normalisierten sich fast, das Schmerzausmaß ging zurück und die Schmerzmedikation konnte reduziert werden, während gleichzeitig die Mobilität wieder zunahm.

Die Patientin hatte sich entschlossen, in jedem Falle zuhause sterben zu wollen und baute sich dort ein Netz an Hilfe für alles, was sie nicht selbstständig regeln konnte, auf und entfaltete – und das ist in diesem Fall besonders wichtig – ein bislang nicht erreichtes Ausmaß an beruflicher Kreativität und Intensität in ihrem künstlerischen Schaffen. Beruflich ist sie nämlich Künstlerin und lebt inmitten ihres Studios und in einem sehr dichten Bezug zur umgebenden Natur.

Alles in allem bringt sie immer wieder zum Ausdruck, es sei ihr in ihrem Leben eigentlich noch nie so gut gegangen wie jetzt. Sie fühle sich glücklich und auf dem Höhepunkt ihrer Lebensentwicklung und auch ihres künstlerischen Schaffens. „Die Krankheit hat mir ein neues Gefühl der Freiheit und Gelassenheit geschenkt, was sich bei mir künstlerisch niederschlägt“ – dies sind ihre eigenen Worte. Es sei alles genau so, wie es ist, richtig und gut für sie.

Ja, auch über den Umstand, dass ihr Leben begrenzt ist und an einem nicht berechenbaren Zeitpunkt enden wird, der möglicherweise sehr nahe, möglicherweise aber auch weiter entfernt liegt, kann man mit ihr lachen.
Warum schildere ich das?

Es ist deutlich, dass die konkrete aktuelle Lebensrealität dieser Frau mit der diagnostischen Kennzeichnung als „Krebskranke im fortgeschrittenen Stadium“ nicht nur unzulänglich, sondern falsch ist. Zwar ist die Krebserkrankung ein Bestandteil ihres aktuellen Lebens, aber beileibe nicht das wichtigste und mehr noch: das Tragen der Krebserkrankung ist ein integraler Bestandteil dieser neuen Lebensrealität geworden, ohne den jener Höhepunkt künstlerischen Schaffens und spiritueller Reife und persönlicher Würde vielleicht nicht in dem Maße möglich gewesen wäre, welches sich jetzt darstellt.

Als ich jüngst mit ihr wieder darüber sprach, fiel mir ein Vergleich mit Mozart ein, der den Umfang und die göttliche Qualität seiner Musik nicht hätte entfalten können, wenn seine Lebensrealität (die einer außerordentlich skurrilen Persönlichkeit) mit medizinischen (in diesem Falle psychiatrischen) diagnostischen Kriterien gemessen und dementsprechend behandelt worden wäre. Ja, alles Besondere, was Mozart als Person und sein künstlerisches Schaffen kennzeichnete, wäre durch die Reduktion seiner Besonderheit auf Medizinisches nivelliert und auf das Normmaß zurückgestutzt worden.

So ist es auch am Beispiel dieser Patientin, deren Lebensrealität auch auf der Basis und dank der Krankheit weit über das hinaus gewachsen ist, was sich medizinisch beschreiben lässt.

Und damit nimmt die Bedeutung des medizinischen Anteils am konkreten Sein von Tag zu Tag ab.

Trotz und gerade durch die so genannte Krankheit (durch eine andere Form des Seins) ist eine Art von Leben entstanden, für dessen Beschreibung die Kriterien einer medizinischen Diagnose in diesem Falle falsch sind und in vielen anderen Fällen auch falsch sein können."

Dr. Karl Braun-von Gladiß

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

bertamberg

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden