"Das Placebo wirkt!"

Placebo (3) Dekonstruktion einer Zwecklüge, Teil 2.

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Der Placeboeffekt ist ein Teil dessen, was bei jeder gelungenen Arzt-Patienten-Beziehung in Form von Übertragung und Gegenübertragung stattfindet. Seit über 35 Jahren ist der Ruf nach einer alle relevanten Sichtweisen und Faktoren integrierenden Synthese ein leerer Wunschtraum geblieben.1 Es ist ein unverzeihbares Übel, wenn trotzdem der Placebo-Begriff so weit gefasst wird, wie es der wissenschaftliche Beirat der Bundesärztekammer tut 2. Das mag vertretbar sein, um das gegenwärtige Begriffskonglomerat unter einem einheitlichen Begriff subsumieren zu können und niemanden auszuschließen. Für eine differenzierte weitere Forschung erscheint es mir höchst fatal.

Kiene meint dazu:

Aus pharmakologischer Sicht kann es pragmatisch erscheinen, zwischen pharmakologischen und nichtpharmakologischen Therapien zu unterscheiden und letztere global als Placebo zu bezeichnen. Dadurch wird der Placebobegriff auch auf alle Psychotherapien, Kreativtherapien, ja auf alle gesundenden psychischen Wirkungen ausgedehnt, ebenso auf alle Arzneitherapien ohne anerkannte pharmakologische Grundlage. Diese Konsequenz ist aber überaus problematisch, ja falsch: Erstens wird dabei unterstellt, daß die bloße Gabe von nachgebildeten, wirkstoffleeren Arzneimitteln gleich erfolgreich sein könne wie jene Therapien (was zumindest erst genau zu überprüfen wäre); zweitens zeichnen sich jene Therapien, anders als die Gabe von Scheinmedikamenten, durch Anspruch auf jeweils eigene Wirkprinzipien und durch differenzierte und professio-alisierte Zuordnungen von Diagnosen und Behandlungen aus.“3

Nach Kiene gibt es drei Gründe, warum der Begriff des Placebos nicht mit Bezug auf den Begriff des Unspezifischen (unspezifische Aktivität, nichtspezifische Wirkung, ohne spezifischen Inhaltsstoff usw.) oder Entsprechendes schlüssig definiert werden kann:

1. Ein Begriff wird durch weitere Begriffe definiert, diese Begriffe müssen aber selbst erst wiederum durch weitere Begriffe definiert werden und so weiter. Letzt-lich endet deshalb jede Begriffsdefinition in einem infiniten Regress, einem Zirkelschluß oder in einem willkürlichen Abbruch bei undefinierten Begriffen (ent-sprechend dem Münchhausen-Trilemma des kritischen Rationalismus.4

2. Besondere zusätzliche Schwierigkeiten bietet der Begriff des Unspezifischen. Etwas Unspezifisches (oder Unbestimmtes) kann als solches nicht positiv bestimmt werden, sondern nur negativ durch Ausschluß des jeweils Spezifischen.

3. Um die spezifischen Anteile im Falle einer Therapie ausschließen zu können, muß man alle spezifischen Wirkprinzipien kennen. Ein Wissenschaftler kann aber bestenfalls jene Wirkprinzipien kennen, die bereits erforscht und ihm als solche schon bekannt sind. Folglich gibt es nie eine Sicherheit, daß alle spezifischen Wirkprinzipien ausgeschlossen sind.“ 5

Was ein Placebo ist, kann also letztlich nicht definiert werden. Hornung schlug zur Lösung dieses gordischen Knotens vor, das Placebo als ein Leerpräparat zu definieren, das wie ein wirksames Arzneimittel erscheint; er war der Meinung, ob etwas ein Leerpräparat ist, darüber könne man sich im Einzelfall einigen. 6Dieser pragmatischen Lösung könnte zugestimmt werden, aber wo Homöopathen noch zwischen Arznei und Placebo unterscheiden, bestehen Hardcore-Schulmediziner darauf, dass alles dies als Placebo zu werten sei – Hornung irrte sich.Begrifflich ist jedoch weiterführend, die Imitation einer Therapie als „Placebo“ zu bezeichnen, „nicht aber jede therapeutische Bemühung, die darauf abzielt, die Selbst-heilungskräfte zu mobilisieren,“ wie Kiene meinte 7.

Wirkungsrichtungen: Von zuverlässig, überschießend, daneben bis paradox

Beim Begriff Placebo wird viel zu wenig darüber diskutiert, dass es nicht wenige Patienten gibt, bei denen ein als potent betrachtetes Arzneimittel keine Wirkung zeigt, bei anderen ruft es eine paradoxe Reaktion hervor und bei wieder anderen überwiegen die Nebenwirkungen vor der eigentlich erwarteten Hauptwirkung. Dazu kann prinzipiell vorkommen, dass ein Patient nicht wegen, sondern TROTZ der Medikation gesund wird. Die naturwissenschaftliche Hypothese, mit einem bestimmten Mittel einen bestimmten Effekt erzwingen zu können, funktioniert nur im Reagenzglas, in vitro.

Hier zeigt sich ein Grundirrtum der wissenschaftsorientierten Medizin: Der Therapeut heilt nicht, der Therapeut erzwingt oft nur eine Reaktion, ohne aber die Richtung vorgeben zu können. Das Problem der paradoxen Wirkung ( Der Blutdrucksenker erhöht den Blutdruck, das Schmerzmittel erhöht den Schmerz) findet sich nicht in der Weise beachtet, dass die gängigen Aussagen hinsichtlich Wirkung und Placebos akzeptierbar wären.

Da Menschen nicht retortenmäßig hergestellt sind, sondern Individuen mit konstitutionsmäßig breit gestreuten Stoffwechsel- und Persönlichkeitsvariablen, kann der lineare Denkansatz "A bewirkt B" nur Statistiker interessieren. Die Natur heilt, nicht der Arzt: Medicus curat, natura sanat. Wer etwas gegen die Natur, gegen physiolo-gische Regulationsabläufe erzwingen will, muss einen mitunter hohen Preis dafür

bezahlen. Weil ersteres zunehmend der Fall ist, tendiert unser Gesundheitssystem dazu, dass vieles als unbezahlbar bezeichnet wird oder zu werden droht, obwohl für den Unsinn unphysiologischer Therapien immense Summen ausgegeben werden. Die Paradebeispiele dazu liefert die Anti-Krebs-Therapie: Wir wissen, dass Krebs durch Radioaktivität entsteht und setzen doch Höchstdosen davon ein, im blinden Bestreben, den Krebs zu heilen. Nicht nur die Atomtechniker, sondern auch die Mediziner sollten zugeben: Wenn auch vieles machbar ist, ist nicht alles machbar, geschweige verantwortbar.


1) Eine „integrative synthesis of all relevant view und factors“ war von White LB, Tursky B, Schwartz GE: Placebo: Theory, Research and Mechanisms. Guilford Press, New York 1985 eingefordert.

2 ( Placebo in der Medizin – Eine Stellungnahme – Herausgegeben von der Bundesärztekammer auf Empfehlung ihres Wissenschaftlichen Beirats, S. 9:

Die Arbeitsgruppe des Wissenschaftlichen Beirats hat sich entschieden, im Rahmen der vorliegenden Darstellung für beide Einsatzbereiche, für die klinische Forschung und die tägliche Patientenbetreuung, einen weitgefassten Placebobegriff zu verwenden”

3 Kiene, Helmut (2001): Komplementäre Methodenlehre der klinischen Forschung: cognition based medicine, Springer-Verlag, Berlin Heidelberg New York.

4 Albert H (1991): Traktat über die kritische Vernunft, Mohr, Tübingen.

5 Kiene, Helmut (2001), S. 139

6 In: Hornung J (1994) Was ist ein Placebo? Die Bedeutung einer korrekten Definition für die klinische Forschung. Forsch Komplementärmed 1: 160–165.

7 Kiene, Helmut (2001), S. 140.

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Geschrieben von

bertamberg

Xundheit! Salut! o! genese! Aufs Ganze gehen, bei Erkennen & Tun, Diagnose & Therapie. Alles ist vollkommen, "wenn das nötige gemacht ist." (Goethe)

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