Chirurgie: Psychotherapie mit dem Skalpell

Placebo (1) Kranke werden zu oft einer Therapie unterzogen, die objektiv nur Ersatzcharakter hat, nur um den Erwartungen des Patienten gerecht zu werden: Placebo-Chirurgie.

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“Gesundheit des Leibes und Heil der Seele sind, oder sie sind nicht,
“wollen” wir sie, dann werden wir krank oder verrückt.”

( Rosenstock-Huessy, Eugen (2008/2009), Im Kreuz der Wirklichkeit, Bd 1, S. 257)

Seelisch krank zu sein war und ist immer noch wie ein Kainszeichen, das viele Menschen für sich nicht gelten lassen wollen. Dabei sind seelische Konflikte, die in familiären und sozialen Auseinandersetzungen getriggert werden, äußerst häufig und real und somatisieren sich in meistens diffusen körperlichen Beschwerden, die eher selten sich objektivieren lassen. Das zentrale Dogma des Medizinbetriebes ist eine materialistische Auffassung, die nur bei Vorliegen von objektiven auffälligen Veränderungen, seien es Laborparameter oder in bildgebender Diagnostik sichtbar gemacht eine somatische Therapie als primär erachtet: Pflaster drauf, fertig. Der Mensch ist jedoch keine triviale Ursache-Wirkungs-Maschine. Wenn Medizin separiert vorkommt, der Arzt für die Seele woanders praktiziert als der Körpertherapeut, landen nicht wenige Patienten an der falschen Stelle. Weil die Fähigkeit, die eigenen Zuständigkeit und ihre Grenzen zu erkennen nur partiell vorhanden ist, werden Kranke zu oft einer Therapie unterzogen, die objektiv nur Ersatzcharakter hat, wie ein Ritual durchgeführt wird, nur um den Erwartungen des Patienten gerecht zu werden: Placebo-Chirurgie. Ein Chirurg und ein Allgemeinmediziner kommen im folgenden zu Wort:

Weibliche Jugendliche kommen so gut wie immer über Bauchschmerzen mit der Chirurgie in Kontakt. In meiner Zeit als Krankenhauschirurg hatte ich mit keiner Patientengruppe mehr Auseinandersetzungen als mit diesen Patientinnen bzw. deren Müttern. Immer ging es dabei um die Frage der Blinddarmoperation, die von den Müttern gefordert wurde. In meiner Ausbildung hatte ich zwar gelernt, daß man lieber eine Blinddarmoperation zu viel als zu wenig durchführen solle, aber ein Großteil dieser Eingriffe wurde meinem Eindruck zufolge auch deswegen gemacht, um Streit mit den Patienten und deren Angehörigen zu vermeiden. Dabei ist zu beachten, daß die Appendizitis, die sogenannte Blinddarmentzündung, zwar in jedem Lebensalter vorkommen kann, besonders häufig aber bei Jugendlichen und da vor allem bei Mädchen.

Der folgende Fall aus dem Alltag einer chirurgischen Krankenhausambulanz in einer westdeutschen Großstadt zeigt, wie eine solche Konsultation ablaufen kann. Die Patientin ist ein 14jähriges Mädchen, das an einem Montag mit der Diagnose ,rezidivierende subakute Appendizitis' eingewiesen wird. Ich ahne schon auf dem Weg zum Untersuchungsraum, was gleich auf mich zukommen wird, weil die Krankenschwester bereits über den Vater der Patientin geschimpft hat, der partout nicht im Warteraum Platz nehmen wollte, als das Mädchen sich für die Mutter als begleitende Angehorige entschied.

Zunächst werden meine Erwartungen aber nicht erfüllt: Im Untersuchungszimmer ist es ruhig, die Mutter sagt außer der üblichen Begrüßung nichts, so daß ich mich gleich der Patientin zuwenden kann. Auf der Untersuchungsliege liegt ein eingeschüchtertes mageres Wesen mit braunen fettigen Haaren und einem Gesicht voller Pubertätspickel und schaut mich ängstlich an. Bauchschmerzen habe sie seit sechs Wochen, erbrochen habe sie nicht, Stuhlgang und Wasserlassen bereiteten ihr in der fraglichen Zeit keine Problern, früher habe sie aber schon einmal eine Nierenbeckenentzündung gehabt. Der Bauch ist weich, im Unterbauch finden sich links und rechts offenbar gleich starke Schmerzen. Das ist allerdings nicht ganz eindeutig festzustellen, da ich das Mädchen immer wieder auffordern muß, mir zu sagen, wann die Untersuchung schmerzhaft sei; wenn sie nur gelegentlich das Gesicht verziehe, könne ich mir kein Bild machen. Besonders gründlich untersuche ich die ableitenden Harnwege. Nierenlager, Harnleiterverlauf und Blasenregion sind aber gänzlich beschwerdefrei.

Nach der körperlichen Untersuchung erfolgt die Blutentnahme, auch den Urin lasse ich aufgrund der Anamnese im Labor ausführlich untersuchen. Anschließend erläutere ich dem Mädchen und der bis dahin ganz im Hintergrund gebliebenen Mutter meinen Befund und rate von einer Operation ab; die Schmerzen hätten mit dem, was landläufig als >Blinddarm< bezeichnet wird, nämlich eigentlich mit dessen Wurmfortsatz, der Appendix, nichts zu tun, da ich aber im Moment auch keine schlüssige Erklärung anbieten könne, würde ich sie bitten, am Abend desselben Täges nochmals zu einer Kontrolluntersuchung zu erscheinen.

Kaum habe ich geendet, beginnt die Mutter die Patientin, die jetzt einen noch verstörteren und verängstigteren Eindruck macht, wie ein kleines Kind anzuziehen; sie ist sichtlich wütend, und murmelt, daß sie selbst vor vielen Jahren, als sie noch jung war, auch viermal weggeschickt worden sei; dann habe man sie um Mitternacht operieren müssen, der Blinddarm, sei schon fast geplatzt gewesen. Als das Mädchen fertig angezogen ist, dreht sich die Mutter zu mir um und schaut mir ins Gesicht: >Ihr Ärzte wißt doch immer alles besser.< Es entsteht ein Disput, ich werde ebenfalls ärgerlich und lasse mich zum Schluß zu der Bemerkung hinreißen, daß über die stationäre Aufnahme noch immer ich zu entscheiden hätte; falls meine Entscheidung der Mutter nicht gefalle, könne sie ja ein anderes Krankenhaus aufsuchen oder sich in der kinderchirurgischen Sprechstunde anmelden. Sichtlich aufgebracht verläßt die Familie schließlich die Klinik. Die Tochter hat während der ganzen Auseinandersetzung kein Wort gesagt.

Am nächsten Morgen erfahre ich, daß das Mädchen - wieder in Begleitung beider Eltern - gegen 18 Uhr erneut in der Ambulanz erschienen war. Am darauffolgenden Tag wird sie ins OP-Programm der Kinderchirurgischen Klinik eingeschoben, nachdem die Eltern mit ihr bereits seit halb acht Uhr morgens im Wartezimmer gesessen und nach dem Chefar zt verlangt haben. An der Appendix und im übrigen einsehbaren Abdomen finden sich keine frischen, auch keine älteren Entzündungszeichen oder sonstigen pathologischen Befunde. Der Pathologe stellt, wie üblich, die Diagnose: >Chronische Appendizitis mit subakutem Schub<. Zwar ist die Tochter die Patientin, aber sie schweigt. Die Mutter hat ihre eigenen Sorgen, und sie handelt. In diesem Familiensystem kommt der Vater nur selten und dann auch nur kurz zum Zug, nämlich wenn die Durchsetzung des Operationswunsches ansteht.“

Bernd Hontschik: Auszug aus „Mein Blinddarm, mein Motorrad und ich: Psychotherapie mit dem Skalpell und Ikarus-Syndrom. In: ds.: Körper, Seele, Mensch. Versuch über die Kunst des Heilens. Frankfurt/M. 2006, S. 50-52

Nach Reimar Banis gibt es „zwei angenehme Arten (…) sich vor der vegetativen Unruhe des Konflikts zu schützen: durch Somatisierung und durch Intellektualisierung. Durch beide Fluchtvorgänge wird die vegetative Dynamik und der emotionale Stress minimiert. Man denkt es weg oder man ,,verkörperlicht" es weg.

An dieser Stelle sei eine ,,Nestbeschmutzer-Aktion" von mir erlaubt die unser Therapeuten-Ethos ganz allgemein beschädigt und trotzdem niemand persönlich meint und gar kränken soll: sowohl bei der Somatisierung - etwa bei der ,,Placebo"-Chirurgie, die aut 30-40% geschätzt wird, wo also chirurgische Eingriffe eigentlich seelische Behandlungen ersetzen - wie bei der Psychotherapie selber mit ihrer Intellektualisierung werden von uns Therapeuten zwei Fluchtwege offeriert, die viele psychosomatisch Kranke erfahrungsgemäß gerne benutzen. Der Therapeut kann zum Alibi werden, der schlimmstenfalls Heilung und Konfliktlösung verhindert anstatt sie zu ermöglichen. Es gibt hierzu ein schönes und entlarvendes Buch der amerikanischen Psychoanalytiker Hillman und US-Journalisten Ventura: ,,Hundert Jahre Psychotherapie - und der Welt geht's immer schlechter." (Walter-Vlg.). Laut der Körperpsychotherapeutin Gerda Boyesen sind viele Klienten von Meditationskursen, Bioenergetikern, Gesprächspsychotherapeuten nicht mehr in der Lage, authentisch ihre Gefühle wahrzunehmen und mitzuteilen. In meiner eigenen Praxis beobachte ich bei vielen psychotherapieerfahrenen Patienten eine enorme Kundigkeit, sich im Gelaber einer selbstbespiegelnden Psycho-Terminologie auszudrücken, gleichzeitig aber unfähig zu sein, die eigene Befindlichkeit wahrzunehmen und korrekt in Worten auszudrücken. In fachlicher Terminologie (=Psycho-Chinesisch): 'Die Therapie selber wird zum Überbau und in die neurotischen Verteidigungsstrategien des Kranken eingebaut.' Die Testung der Emotionalmittel und des Energiehaushaltes gibt häufig ein völlig anderes Bild: daß die wahren Gefühle etwa viel gewalttätiger sind und sein wirkliches Ego viel robuster, als der Patient mit seiner naiven Sanftheit, Unbedarftheit usw. vortäuscht.“

(aus: Reimar Banis: Psychosomatische Energetik, Sulzbach /Ts. 1998, S. 111)

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bertamberg

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