"Das Placebo wirkt!"

Placebo (4) Dekonstruktion einer Zwecklüge Teil 3 Das Geheimnis der Bedeutungserteilung

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Ich weiß, dass dem Menschen seine Vorstellungen Wirklichkeiten sind und (…) dass sich nichts weniger als solch eine hypochondrische Ängstlichkeit wegraisonnieren lässt.“

J. W. von Goethe, Brief vom 11.12.1778

Bernd Hontschik ging unter der Überschrift “Placebo: Das Geheimnis der Bedeutungserteilung“ davon aus, das vier Möglichkeiten der Reaktion auf ein Medikament vorhanden sein können

1. echter Wirkstoff, echter Wirkung

2. echter Wirkstoff, keine oder unerwartete, gegenteilige Wirkung

3. Scheinwirkstoff, unerwartet >echte< Wirkung

4. Scheinwirkstoff, keine Wirkung. 1

Zu Punkt 1 berichtet er von folgendem irritierenden Experiment:

„In einer Versuchsanordnung erhielt ein Hund ein blutdrucksenkendes Mittel. Dabei ertönte immer ein lautes Signal, so daß für den Hund Spritze und Signalton zusammengehörten. Nachdem man das einige Male gemacht hatte, gab man dem Hund mit der Spritze aber kein blutdrucksenkendes Mittel mehr, sondern Adrenalin; der Signalton blieb der gleiche. Obwohl Adrenalin den Blutdruck ganz unmittelbar enorm erhöhen kann, kam es jedoch nun statt des zu erwartenden Blutdruckanstiegs zu einem Blutdruckabfall! Der Hund hatte also auf irgendeine geheimnisvolle Weise gelernt, daß nicht nur Spritze und Signalton, sondern Spritze, Signalton und fallender Blut druck zusammengehören. Der Effekt eines eindeutig wirkenden Medikaments konnte durch eine konstante Umgebungskonstruktion und durch Gewöhnung in sein Gegenteil verkehrt werden. Wieder muß man eine geheimnisvolle >interpre-ierende Instanz< annehmen, die so mächtig wirken kann, daß Physik, Chemie und Pharmakologie auf den Kopf gestellt werden.“

Zu Punkt 2 berichtet Hontschik von einer Untersuchung, bei der zuerst Prostigmin verabreicht wurde. Der Patient Tom reagierte erwartungsgemäß mit Krämpfen und

Durchfall. In einem zweiten Versuch wurde in gleicher Weise ein Placebo verabreicht, das die gleichen Symptome auslöste. In einem nächsten Schritt wurde Atropin benutzt, das normalerweise zu einer Lähmung des Magens führt, also ein >Darmbremser< mit der gegenteiligen Wirkung von Prostigmin ist.

“Trotzdem kam es bei Tom erneut zu Krämpfen und Durchfall. Eine geheimnisvolle >interpretierende Instanz< hatte Toms Erfahrungen mit Prostigmin zuerst auf das Placebo übertragen und dann sogar dem Atropin eine Bedeutung erteilt, die dem chemischen Effekt dieser Substanz völlig entgegengesetzt war.” 2

Die Erklärung aus der Sicht der Integrierten Medizin lautet:

„Ein solcher Vorgang laßt sich nur dadurch erklären, daß ein Lebewesen allem, was es in seiner Um-ebung wahrnimmt, und besonders jedem Zeichen,das es aus der Konstruktion seiner Lebenswelt heraus aktiv oder passiv aufnimmt, eine Bedeutung erteilt. Die Bedeutungserteilung ist der entscheidende Vorgang, der über die Entfaltung einer Wirkung entscheidet. (Herv. d. d. V.) Ein Lebewesen funktioniert demnach nicht wie eine zweigliedrige, technische Maschine, sondern wie eine dreigliedrige, eine lebendige >Maschine<.Das dritte Glied zwischen Ursache und Wirkung entsteht durch die Interpretation der Zeichen, durch die Bedeutungserteilung.“3

Es ist wichtig, zu erkennen, dass dies bei allen Lebewesen der Fall ist, also einen Vorgang darstellt, der im vegetativen System der Reizbeantwortung seine Wurzeln haben dürfte, das von Einzeller bis zum Homo sapiens spezifische Aufgaben übernimmt. Nur beim Menschen kann zusätzlich im Sinne einer rationalen Entscheidung eine Bedeutungserteilung erfolgen.

Hontschik fasst zusammen:

“Jede therapeutische Intervention und die dadurch ausgelöste Wirkung enthalten sowohl einen physiko-chemischen Anteil als auch einen Anteil, der sich durch Bedeutungserteilung ergibt. Die interessante Frage ist im Einzelfall also nicht, ob solche Anteile existieren - daran besteht kein Zweifel -, sondern statt dessen, wie groß der jeweilige Anteil ist. Eine starke und anhaltende therapeutische Wirkung kann nur entstehen, wenn die physiko-chemische Wirkung und die Wirkung durch Bedeutungserteilung in die gleiche Richtung zielen. Zielen sie jedoch in gegenteilige Richtungen, entstehen gar keine, unvorhergesehene oder absurde Wirkungen. Natürlich hat der Vorgang der Bedeutungserteilung selber auch physikalische und biochemische Grundlagen, die derzeit durch Erkenntnisse in der modernen Neurobiologie erstmals transparent zu werden beginnen.

Wenn man das alles verstanden hat, löst sich der Begriff des Placebos in nichts auf. (Herv. d.d. V.) Benutzt man ihn dennoch, ist man ein weiteres Mal in die Dualismusfalle der Schulmedizin geraten, die den fundamentalen Vorgang der Bedeutungserteilung ignoriert und sich aus den daraus resultierenden Erkenntnisproblemen zu retten versucht, indem sie - allerdings ohne Erfolg - auf der strengen Trennung von Körper und Psyche beharrt. Natürlich ist die fundierte Kenntnis der physiko-chemischen Wirkungen (der trivialen Maschine) Voraussetzung jeder ärztlichen Tätigkeit. Arztliches Können, die Heilkunst, basiert aber außerdem und genauso grundsätzlich auf einem ebenso fundierten Wissen über die Macht und die Mechanismen der Bedeutungserteilung (nicht-triviale Maschine), und wie sie gezielt und dosiert therapeutisch eingesetzt werden können. Ärzte setzen diese nicht-trivialen Wirkmechanismen täglich tausendfach ein, absichtlich oder unab-sichtlich, aber immer mit der Idee, dem Patienten zu nützen. Oder anders gesagt: Wenn Ärzte in Krankenhäusern und Arztpraxen sich mit dem Beginn ihrer Berufstätigkeit weiter stur an das dualistische Konzept der Schulmedizin halten würden, das die universitäre Medizin und die Mediziner-Ausbildung beherrscht, dann wäre der ärztliche Alltag ein noch größeres Trauerspiel.“ 4

1 Hontschik, Bernd (2006): Körper, Seele Mensch, Suhrkamp Verlag, Frankfurt/M., S. 76 – 79.

2 Ebd. S. 71

3Ebd. S. 75

4 Ebd. S. 76f.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

bertamberg

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