Überfällige Ehrenrettung für Zucker ?

Süß, süchtig, krank Ist Zucker zu Unrecht verteufelt? Die wenigsten (weder Ärzte noch Patienten) wissen, was sich jemand antut, der sich sein Leben mit isolierten Kohlenhydraten aufpeppt.

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Wir essen soviel Zucker, dass wir ganz anders riechen -wegen dem Essen haben wir einen anderen Körpergeruch,deswegen ziehen wir so viele Insekten an.“ 1

Was Kathrin Zinkant schreibt, ist nett provokativ, aber ziemlich inkonsistent. Die Zahl der Ärzte, die warnt, liegt prozentual unter dem Wahlergebnis der FDP, Mütter geben ziemlich viel Geld für Süßes aus statt zu verzweifeln, und die Coke-Flasche gehört bei nicht Wenigen dazu wie eine Handtasche. Wer Zucker weglässt, wird nicht mehr von Heißhungerattacken gequält, und lebt damit gesünder als der, der immer wieder den Blutzuckerabfall durch Essen kompensieren muss, was zur körperlichen Sucht wird, und zwar völlig unnötig angesichts des Angebotes an Möglichkeiten zur Vermeidung des Zuckerblues. Einzig dass die Industrie verdient, ist richtig.

Vier TOP TEN-Zahlen zeigen: Mit Zucker wird viel Geld verdient. Aus Saccharose (Rohr- oder Rübenzucker) kommt statistisch gesehen jede zehnte Kalorie, die zwischen unseren Zähnen landet.2 Die höchsten EG-Agrarsubventionen, die im Jahr 2009 in Deutschland ausgezahlt wurden, gingen an zwei zuckerverarbeitende Betriebe: 40 Millionen € (4444€ je Arbeitsplatz) gingen an Südzucker, 17 Mill. € (pro Mitarbeiter 19850€) an Pfeiffer und Langen.3 Die weissen Kristalle, vor einigen Jahrhunderten noch Luxusgut, das mit Apothekerwaagen gewogen wurde, sind zu einem Grundnahrungsmittel geworden, aber auch zum Gesundheitsproblem: Das keimtötende Konservierungsmittel mit Kalorienbombenqualität ist Stress pur für die insulinproduzierende Bauchspeicheldrüse.

Warum wurde Diabetes früher als „Zuckerharnruhr“4 bezeichnet, und warum ist er eine Krankheit mit immensen Wachstumsraten?5 Zur Zeit findet er sich weltweit bei 6,4 % aller Erwachsenen (285 Mio.), bis 2030 ist für die entwickelten Länder ein Anstieg um 20% prognostiziert, für die unterentwickelten Ländern aber ein Anstieg um 69%, so dass 7,7% der Erwachsenen (439 Mio.) krank sein werden. Die Deutschen belegen Platz 6 der Weltrangliste und sind Europarekordhalter mit 12% (7,5 Mio.) Kranken, deren indikationsspezifische Behandlung jährlich ca. 20 Milliarden € Kosten bzw. Pharma-Umsatz verursacht.6

Bei den Gründen für die steigende Diabetes-Erkrankungsrate tappen unsere führenden Naturwissenschaftler noch im Trüben: Genetische Ursachen werden vermutet, der Gesundheitszustand der Mutter vor der Geburt der betreffenden Person könne eine Rolle spielen, die wesentlichsten Auslöser seien aber Übergewicht und zu wenig Bewegung. Und eines wissen die Experten trotz aller Unwissenheit auch noch: Es stimmt nicht, dass der Verzehr von zu viel Zucker zur Zuckerkrankheit führt: “Das ist eine Mär.”

Diabetes ist eine Krankheit mit gestörtem Glucose- und Lipidstoffwechsel, als Organe sind vor allem die Leber und das Pankreas betroffen. Welche pathologischen Einflüsse können dies bewirkt haben ? Jede Maschine, die ständig auf höchsten Touren gefahren wird, ist maximalem Verschleiß ausgesetzt und gerät schneller an die technischen Grenzen als eine weniger extensiv Genutzte – wie ist das bei menschlichen Organen ? Gesetzt den Fall, Gentechnik könnte die Lösung bieten – was müßte erreicht werden? Im Vokabular der Genforscher ausgedrückt wäre das Ziel: Die Leistungsfähigkeit der Insulinproduktionsstätten (Beta-Zellen) muss an den Konsum an raffinierten Kohlehydraten angepaßt werden. Wenn das geschafft wäre, dann hätten sie das Diabetesproblem im Griff. Das ist zwar noch Zukunftsmusik, aber der Vorschlag einer angeblich nebenwirkungsfreien Anwendung von Zimt zum selben Zweck geht in die gleiche Richtung.

Übersehen wird dabei, dass der Zeitpunkt der Insulinresistenz (oder des Absinkens der Insulinproduktion bzw. der Bildung von physiologischen Insulin-Inaktivatoren oder Insulinantikörpern) voraussichtlich nur um eine mehr oder weniger lange Zeit hinausgezögert werden kann. Und was dann ? Doch die Insulinspritze ?

Eine Mutter mit ständig erhöhtem Blutzuckerspiegel gibt die Glukose über plazentäre “aktive stereoselektive Transportmechanismen” , nämlich “erleichterte Diffusion” an den Embryo weiter. Dieser ist für diese Situation nur unzureichend gerüstet, da Insulin als Polypeptidhormon “praktisch nicht plazentar” weitergegeben wird und der liebe Gott vorgesehen hat, dass der Embryo “hormonell weitgehend autark” zu sein hat.7 Somit muss das embryonale Pankreas erhebliche Mehrarbeit leisten, um nicht den Embryo in den Zustand der Hyperglykämie abgleiten zu lassen. Eine vorzeitige Erschöpfung der Beta-Zellen wegen dieser zwangsweisen “Kinderarbeit” ist die logische Folge. Ist dies nicht ein typisches Beispiel dafür, wie ein Fehlverhalten als „genetisch“ vererbte Krankheit eingestuft wird, weil die sozialen und verhaltensgeprägten Bedingungen der Krankheitsentstehung außer Acht gelassen werden?

Der Verzehr von raffinierten Kohlehydraten in unserer Gesellschaft hat seit Jahren und Jahrzehnten epidemische Ausmaße angenommen, so dass zutreffenderweise besser von Missbrauch einer nachgewiesenermaßen süchtig machenden legalen Droge gesprochen werden sollte. 8 Die prognostizierte Zunahme der Diabeteskranken ist die Folge davon, dass physiologische Zusammenhänge verleugnet werden, die Entfremdung so weit gediehen ist, dass der Ursachenzusammenhang einer Krankheit als „Mär“ bezeichnet wird, obwohl die Krankheit (zumindest in der deutschen Sprache) nach dem Stoff bezeichnet wurde, dessen Verdauung dem Patienten stoffwechseltechnisch nicht mehr möglich ist.

Zucker ist nicht nur ein ernstzunehmender Risikofaktor für Diabetes: Ein Forschungsteam um Dr. Vasanti Malikan der Harvard School of Public Health untersuchte Daten von elf Studien – acht zum Zusammenhang von zuckerhaltigen Getränken und Typ-2-Diabetes, drei zum Zusammenhang mit dem metabolischen Syndrom. Die Diabetes-Studien umfassten 310.819 Teilnehmer und 15.043 Fälle von Diabetes. Die Studien zum metabolischen Syndrom hatten 19.431 Probanden und 5.803 Krankheitsfällen zur Grundlage. Die Auswertung ergab, dass der Konsum von 200 bis 400 ml zuckerhaltiger Getränke täglich das Risiko für Typ-2-Diabetes um 26 Prozent erhöht. Das Risiko für das metabolische Syndrom steigt durch ein bis zwei Gläsern am Tag um zwanzig Prozent. Nach Dr. Malik kann der häufige Konsum von zuckerhaltigen Getränken als Marker für eine generell ungesunde Ernährungsweise mit einem hohen Anteil an Transfetten, gesättigten Fettsäuren und zu wenig Ballaststoffen gesehen werden kann.

Der hohe Gehalt an schnell resorbierbaren Kohlehydraten wie Glukose und Fruktose erhöht dazu die glykämische Last. Glukoseintoleranz, Insulinresistenz und eine gestörten Funktion der Beta-Zellen des Pankreas sind die Folgen. Zudem steigt die Konzentrationen von Entzündungsmarkern wie dem C-reaktiven Protein. Die Stoffwechseleffekte des Zuckerkonsums führen auch zu Bluthochdruck und verstärkter Entstehung von Bauchfett, erhöhen die Fettentstehung in der Leber mit Zunahme von Triglyzeriden und LDL-Cholesterin sowie Verringerung des HDL-Cholesterins. Die Meta-Analyse 9 der Harvard-Wissenschaftler liefert erstmals einen vollständigen Überblick über das nicht mehr bezweifelbare Ausmaß der Risiken. Wer Wasser oder ungesüßte Tees gegen den Durst trinkt, tut gut daran.

1 Kuegler, Sabine (2007): Ruf des Dschungels, Knaur München

2 Emsley, John u. Fell, Peter (1999): Wenn Essen krank macht. Wiley-VCH, Weinheim, S. 215

3 Balsen, Werner: Kräftig abgesahnt. Nordmilch bei EU-Agrarsubventionen Spitze. Frankfurter Rundschau vom 27.4.2010

4Wenn zuviel Zucker im Urin ist, kann das doch nur heißen, dass der Körper unfähig ist, den Zucker abzubauen. Wer unfähig ist, Laktose zu verdauen, bekommt die Empfehlung, laktose-haltige Nahrungsmittel zu meiden oder aber zur Verdauung zusätzliche Enzyme einzunehmen . Wann haben Sie gehört, dass als Schutz vor einer Zuckerkrankheit empfohlen wurde, Zucker zu meiden?

5 www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19896746?

6 www.curado.de/Diabetes-Rate-in-Europa-13833/;

www.abbott-diabetes-care.de/index.php?

id=aktuelles_detail&tx_ttnews[tt_news]=181&cHash=11f0de820d

7 Marquardt, H. und Schäfer S.G. (1997): Lehrbuch der Toxikologie, Spektrum Akademischer Verlag Heidelberg und Berlin, S. 47

8 Imfeld, Al (1986): Zucker, Unionsverlag Zürich; Bruker, Max Otto (1991): Zucker, Zucker -Krank durch Fabrikzucker, Emu-Verlag Lahnstein; Dufty, William (1996):Zuckerblues – Suchtstoff Zucker, Zweitausendeins, Frankfurt/M.; Oberbeil, Klaus (2004): Die Zuckerfalle, Herbig München; Pieper, Werner: (2005): Das Zuckerbuch - Süßer Genuß und bittere Folgen, Grüne Kraft Löhrbach; Henrichs, Dieter (2007): Guter Zucker -Böser Zucker. Die Bedeutung essenzieller Zucker für unsere Gesundheit, Constantia-Verlag Leer

9care.diabetesjournals.org/content/33/11/2477.abstract?sid=de183a6a-e075-418c-8028-139af93bbe9f; Malik, Vasanti S. et.al. (Barry M. Popkin, George A. Bray, Jean-Pierre Després, Walter C. Willett, Frank B. Hu): Sugar-Sweetened Beverages and Risk of Metabolic Syndrome and Type 2 Diabetes. A meta-analysis. Diabetes Care November 2010 vol. 33 no. 11 2477-2483

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Geschrieben von

bertamberg

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