"Überholen ohne einzuholen!“ – als Walter Ulbricht diese legendäre Losung 1957 aus dem Hut zauberte, um sich mit einer positiven Botschaft gegen die Abwanderung von Arbeitskräften und die wirtschaftliche Überlegenheit des Westens zu stemmen, grübelte man beiderseits der innerdeutschen Grenze lange Zeit, was der SED-Chef angesichts offenkundig großer Unterschiede damit gemeint haben könnte. Binnen vier Jahren sollte damals der westdeutsche Lebensstandard erreicht werden. Wie es ausging, ist bekannt.
Heute klingt der Ulbrichtsche Zweckoptimismus in den Vorhersagen der arbeitgebernahen Wirtschaftswissenschaft nach. Im Vorfeld zahlreicher Wahlen werden positive Botschaften für den Osten verkündet, nach denen sich in Ostdeutschland 20 Jahre nach dem Mauerfall wirtschaftlich doch noch alles zum Guten wenden werde. Bis 2015, so errechnete das Kölner Institut der deutschen Wirtschaft, eine Tochter der Bundesverbände der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutschen Industrie (BDI), werde der Industrieanteil an der Wirtschaftsleistung im Osten mit Westdeutschland gleichgezogen haben. Spätestens dann, so die kaum verblümte Botschaft von „Deutschlands führendem privaten Wirtschaftsforschungsinstitut“, sei der Aufbau Ost abgeschlossen.
Bei allen Fortschritten, die in den letzten Jahren bei der wirtschaftlichen Entwicklung in den neuen Ländern zu registrieren waren, scheint dieser Ausblick allzu rosig, um für bare Münze genommen zu werden. Zum einen ist der wirtschaftliche Aufholprozess in den neuen Ländern keinesfalls allein am Anteil der industriellen Wirtschaftsleistung zu messen, die lediglich mit 20 Prozent an der Gesamtwirtschaft zu Buche schlägt. Völlig unberücksichtigt bleibt daher, dass andere Sektoren in ihrer Leistungsfähigkeit noch weit unterentwickelt sind, nimmt man die Bauwirtschaft einmal aus.
Krisenanfällige verlängerte Werkbänke
Doch auch der genaue Blick auf die ost- und westdeutsche Industrie offenbart deutliche Unterschiede, die keinesfalls in wenigen Jahren abgebaut sein werden. So stellt sich die ostdeutsche Industrielandschaft mit wenigen Ausnahmen noch immer als Sammelsurium zahlreicher kleiner und mittlerer Unternehmen dar. Zwar finden sich hierunter auch erfreulich viele innovative Unternehmen – die für eine hohe Produktivität notwendige kritische Größe erreichen sie jedoch nur im Ausnahmefall. Gerade die vergleichsweise wenigen größeren Firmen der neuen Länder sind mangels eigener Forschungs- und Entwicklungskapazitäten und weitab von den Firmenzentralen noch immer als krisenanfällige „verlängerte Werkbänke“ einzustufen. Eigene Entwicklungsimpulse in Ostdeutschland setzen, die über das Steueraufkommen hinausgehen, oder gar wertschöpfende Verflechtungen zum regionalen Mittelstand herstellen können sie fast nirgendwo.
Wird den Kölner Wissenschaftlern angesichts der immer stärker um sich greifenden Wirtschaftskrise nicht bange um Ostdeutschlands Zukunft? Offenbar kaum. Denn in den gar nicht mehr so neuen Ländern wäre nur ein Bruchteil der Exportwirtschaft zu finden, die jetzt im Westen unter der Krise leiden würde. Da im Osten ohnehin relativ wenig große unternehmerische Investitionen angestanden hätten, würden sie bei den überwiegend jungen ostdeutschen Unternehmen jetzt folglich auch nicht in der gleichen Größenordnung zusammengestrichen. Die Logik klingt plausibel. Auch kriselnde Bankenzentralen, die derzeit massenhaft Beschäftigte entlassen, gibt es fast nur im Westen Deutschlands. Denkt man dieses Szenario zu Ende, landet man bei einem wirtschaftlichen Angleichungsprozess zwischen Ost und West, der als westliches Entgegenschrumpfen daherkommen würde.
Weniger Protestmunition in der Stimmkabine
Doch bei allen Einbrüchen im Westen: Angesichts eines durch die kleinteiligere Betriebslandschaft viel schmaleren „Kurzarbeiterschirms“ für Beschäftigte, wenig tarifvertraglich abgesichertem Kündigungsschutz, deutlich geringeren konsumwirksamen Einkommen und einer wirtschaftlich bisher erfolgreichen, aber noch längere Zeit subventionierten und nun ebenfalls kriselnden Solar- und Windindustrie geht Ostdeutschland wirtschaftlich sehr unsicheren Zeiten entgegen.
Die zur Euphorie anstiftende Argumentation der Arbeitgeberverbände hat möglicherweise aber auch eine ganz andere Intention. Nach geltenden Festlegungen läuft der Solidarpakt II für Ostdeutschland im Jahr 2019 aus. Ginge es nicht vielleicht auch früher, wo die Wirtschaftskraft doch schon bald angeglichen sein soll? Vielleicht sieht man auch nicht ungern, wenn die ach so erfolgreichen Ostdeutschen im Wahljahr nicht allzu viel Protestmunition mit in die Stimmkabine tragen?
Sachsen-Anhalts CDU-Ministerpräsident Wolfgang Böhmer ließ bereits verlauten, dass man einen Aufbau-Ost-Beauftragten in der Bundesregierung nicht mehr brauche. Wolfgang Tiefensee, dem im Kabinett diese Rolle zufällt und der als SPD-Verkehrsminister seit Jahren nicht aus den Schlagzeilen kommt, konterte bereits: „Solange es derart große Strukturunterschiede zwischen Ost und West gibt“, so Tiefensee, „brauchen wir das Amt.“
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