Außen Kafka, innen Chaos

Hartz IV im Countdown Anonyme Callcenter sollen panische Antragsteller abfangen, während Kommunen und Arbeitsagenturen über Kompetenzen streiten

Ohne bewusste Übertreibungen hätte Franz Kafka sein "Schloss" nicht schreiben können. Beim Thema Hartz IV reicht die bloße Schilderung augenblicklicher Zustände. Nach außen glänzt das "Schloss" in all seiner anonymen Macht, aber hinter den Fassaden diffuser, scheinbar unerklärbarer Entscheidungsstrukturen macht sich Chaos breit.

An insgesamt 3,6 Millionen Menschen wurden sechzehnseitige Anträge für das ab Januar geltende Arbeitslosengeld II verschickt. Von diesen Bögen sind derzeit 90 Prozent registriert und davon wiederum 85 Prozent mit einem Bescheid beantwortet. Da erst zum Schluss die schwierigen Anträge bearbeitet werden, wird der Anteil der Ablehnungen zum Jahresende bei etwa zehn Prozent liegen. Nimmt man jene hinzu, die sich in Erwartung eines negativen Bescheids erst gar nicht ans "Schloss" wandten, wird vermutlich jeder Fünfte der ursprünglichen Leistungsbezieher kein ALG II erhalten. Wie hoch darüber hinaus der Anteil derjenigen ist, die von erheblichen Kürzungen staatlicher Unterstützung betroffen sind, ist bislang nicht bekannt. Dass aus der Bundesagentur keine Zahlen durchgesickert sind, lässt einiges befürchten.

Die Fragebogenaktion war für die Betroffenen nur der Auftakt zu kafkaesken Erfahrungen. Wo im Rechtsstaat Bescheide ergehen, müssen Widersprüche möglich sein - in nachvollziehbaren Verfahren. Doch wohin sich wenden, wenn die von Experten auf zehn bis 20 Prozent geschätzten fehlerhaften Bescheide von sogenannten Arbeitsgemeinschaften (ARGE) aus Arbeitsagenturen und Kommunen ergehen, die derzeit erst in etwa der Hälfte der geplanten Fälle rechtlich existieren, wovon wiederum nur eine Hälfte auch schon eine Adresse hat? Der Rest ist derzeit nichts weiter als eine Briefkastenfirma mit Postfach. Oder was ist mit Fällen, bei denen jetzt einlaufende Bescheide von Arbeitsagenturen unterschrieben sind, die ab 1. Januar 2005 ihre Zuständigkeit definitiv an eine ARGE abgeben, die dann womöglich immer noch nicht existiert?

Kommen Überprüfungen später zu dem Schluss, dass die zunächst berechnete Leistung zu hoch ausfiel, muss - darauf wird man bestehen - zurückgezahlt werden. Erscheint dem Leistungsempfänger die jetzt im Bescheid genannte Summe dagegen zu niedrig, wird er durch einen nicht fassbaren Staat an beauftragte Callcenter verwiesen, die den jeweiligen Fall gar nicht kennen können und die ihr Geld als Frustschwämme für panische Antragsteller verdienen. Hilft auch das nicht, wird an die Hotline der Bundesagentur abgegeben. Aber dort - eine bittere Erfahrung - kannte man noch nie die Details. Irgendwann, so die nicht ausgesprochene Hoffnung der rot-grünen Koalition, gibt dann wohl jeder auf. Die Zahl der Einsprüche, derzeit im einstelligen Prozentbereich, wird wohl auch deswegen gering bleiben, weil die Bescheide keinerlei Erläuterungen enthalten, rechnerisch nicht nachvollziehbar sind und von den Empfängern auch nicht verstanden werden sollen. "Kafkas Software" dafür heißt A2LL. Sie zumindest, so wird versichert, laufe an den meisten Tagen stabil.

In 345 Arbeitsgemeinschaften sollen am Ende insgesamt 12.000 Mitarbeiter aus Kommunen und 18.000 aus Arbeitsagenturen kooperieren. Zahlreiche ARGE-Verträge werden wohl noch in weihnachtlichen Sondersitzungen durch die kommunalen Parlamente getrieben - möglichst ohne Diskussion, die Zeit drängt. Der Rest hofft auf ein Wunder. Schon jetzt wäre die Frage zu stellen: Wie ist die Haftung zwischen beiden Seiten geregelt, wenn die ARGE pleite geht? Keiner weiß es. Und offenbar will es niemand wirklich wissen.

Andere Fragen sind bislang ebenfalls ungeklärt. Die Arbeitsgemeinschaften haben keine eigenen Mitarbeiter, sie sind von beiden Seiten lediglich abgeordnet. Kommunen und Agenturen behalten damit ihre Zuständigkeit bei disziplinarischen Fragen, bei der Festlegung von Arbeitsaufgaben und beim Budget - es kommt jeweils nur noch die Geschäftsführung der ARGE hinzu. Dauerabstimmungen, selbst zu alltäglichen Fragen, sind programmiert.

Auch weiter unten wird es knirschen: Fallmanager beider Seiten sitzen sich in den Büros an Tischen gegenüber und arbeiten an den gleichen Aufgaben - werden jedoch nach deutlich unterschiedlichen Tarifen bezahlt. Andere Mitarbeiter, die aus Personalüberhängen stammen, werden häufig den qualitativen Anforderungen an ein wirkliches Fallmanagement kaum gerecht werden können. Wenn nach kurzen Crashkursen überhaupt noch an weitere Qualifizierungen gedacht wird, starten die Lehrgänge oft erst irgendwann im nächsten Jahr.

Dieses Chaos bietet Platz für kuriose Lösungen: Wo sich, wie im Fall der ARGE Potsdam, die Stadt und das örtliche Arbeitsamt nicht über den konkreten Auftrag der Fallmanager einigen können, gibt es Kompromisse. Die einen ALG II-Empfänger bekommen einen Fallmanager zugewiesen, der auch die Jobvermittlung übernimmt, die anderen werden von einem Berater und zusätzlich von einem Vermittler betreut. Wer an wen gerät, darüber entscheidet der Anfangsbuchstabe des Nachnamens. Der Höhepunkt aber ist, dass auch bei eingehenden Einsprüchen jede der beiden Seiten ihren Bereich allein und nach eigenem Recht prüft - für Wohnungskosten und soziale Betreuung ist die Kommune zuständig, für die eigentliche Lohnersatzleistung die Agentur. Einiges mag quer über den Tisch noch kooperativ zu lösen sein. Aber bei Problemen der Vermögensanrechnung, bei denen auf beiden Seiten verschiedene rechtliche Bestimmungen angewendet werden müssen, ist weder ein schlichtendes Verfahren vorgesehen noch ist der Widerspruch beim zuständigen Bundesministerium für Wirtschaft und Arbeit überhaupt bekannt. Wie geht man vor? Wird abwechselnd entschieden?

Schadenfreude mögen die bundesweit 69 Kommunen empfinden, die als sogenannte Optionskommunen ab Januar für alle ALG II-Empfänger allein zuständig sind. Großzügig vom Bund anschubfinanziert, gehen sie davon aus, dass bei guter Arbeit am Ende auch ein guter Schnitt für den kommunalen Haushalt zu machen ist. Schon jetzt zeichnet sich allerdings ab, dass sie von den lokalen Arbeitsagenturen, die nach wie vor die ALG I-Empfänger betreuen, als lästige Konkurrenz betrachtet werden. Austausch von Software und wechselseitige Amtshilfe? Fehlanzeige. In den Optionskommunen, so steht zu befürchten, entstehen neue Verschiebebahnhöfe, weil jede Seite ihre Leistungsbezieher loswerden will. Genau das zu vermeiden, war der rationale Kern einer Reform, die ansonsten nichts als Kritik verdient.


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